Italien, Spanien und Co. könnten sich auch selbst helfen – wenn sie wollten
Dieser Kommentar von mir erschien im manager magazin:
Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung am Montag hat Italiens Premier Giuseppe Conte scharfe Kritik an der Position der deutschen und der niederländischen Regierung geübt. Deren Sichtweise “muss sich jetzt ändern”. Europäische Solidarität in der Corona-Krise sei gefragt und dazu brauche es jetzt gemeinsame Anleihen.
An diesem Donnerstag treffen sich die EU-Regierungschefs, um über einen Wiederaufbau-Fonds zu entscheiden. Mittlerweile ist von einem Volumen in Höhe von 1500 Milliarden Euro die Rede und es läuft alles darauf hinaus, dass gemeinsame Tilgungen je nach Wirtschaftskraft vereinbart werden. Übersetzt bedeutet das: Deutschland müsste 29 Prozent der Tilgungen leisten, auch wenn wir aus dem Wiederaufbaufonds nichts erhalten. 435 Milliarden Euro müssten wir dann in den kommenden Jahrzehnten aufbringen und unseren Partnern in Europa faktisch schenken.
Diese These löste heftige Diskussionen aus und gipfelten in der Aussage eines führenden deutschen Ökonomen, dass es eine unseriöse Rechnung sei und unweigerlich zu einer schweren Depression in Italien führen müsse, versuchte man auf diese Weise, so die italienische Staatsschuld zu reduzieren. Deshalb sei es kein gangbarer Weg, und man müsse Italien über den Weg gemeinsamer Anleihen helfen.
Rechnen wir mal nach
Grund genug für mich, die Zahlen genauer anzuschauen. Denn wenn man so vehement eine Besteuerung der Privatvermögen in dem Land, das um solidarische Hilfe bittet, ablehnt und zugleich kein Problem darin sieht, hiesigen Steuerzahlern zusätzliche Lasten aufzubürden, muss es ja wirklich ein Ding der Unmöglichkeit sein.
Doch das Gegenteil ist der Fall.
Ausgangspunkt meiner Überlegung sind folgende Fakten (alle Zahlen gerundet):
- Die Italiener verfügen über ein Privatvermögen von 9900 Milliarden Euro.
- Die Schulden des italienischen Staates liegen bei 2500 Milliarden Euro.
- Das italienische BIP lag vor Corona bei 1800 Milliarden Euro.
- Eine Abgabe von 20 Prozent auf das Privatvermögen ergäbe 1980 Milliarden Euro: Der Staat hätte dann Schulden von 520 Milliarden Euro, was weniger als 30 Prozent des BIP entspricht. Wollte man den Schuldenstand auf 60 Prozent des BIP senken, genügte eine Abgabe von 14 Prozent auf das Privatvermögen, um die Staatsschulden so zu senken.
Da diese überschlägige Rechnung auf Kritik stieß, schauen wir uns die Daten noch genauer an. Die Tabelle gibt eine Übersicht über die Schuldenstände der verschiedenen Sektoren – Staat, Nicht-Finanzunternehmen und private Haushalte – in Prozent des Bruttoinlandsprodukts der jeweiligen Länder, aufsteigend sortiert nach Gesamtverschuldung:
Diese Darstellung ist äußerst interessant:
- Schuldenspitzenreiter ist Frankreich mit 316,8 Prozent Schulden des Nicht-Finanzsektors relativ zum BIP. Niemand darf sich deshalb wundern, dass gerade Frankreich so viel Wert auf gemeinsame Schulden auf EU-/Eurozonen-Niveau legt.
- Die geringsten Staatsschulden haben die Niederlande, dafür aber seine sehr hohe Privatverschuldung.
- In keinem Land hat der Privatsektor so geringe Schulden wie in Italien! Nirgendwo sind die privaten Haushalte so gering verschuldet und nur in Deutschland haben die Unternehmen weniger Schulden relativ zum BIP.
Damit ist es naheliegend – so wie ich es gemacht habe –, die Frage aufzuwerfen, warum Italien sich nicht selbst hilft. Es handelt sich offensichtlich nicht um ein Problem zu hoher Schulden, sondern um das Problem einer falschen Verteilung zwischen Staat und Privatsektor. Wenn der italienische Staat einen Teil seiner Schulden auf den Privatsektor verlagern würde, wäre dieser immer noch geringer verschuldet als der Privatsektor in den meisten anderen Ländern.
An den Zahlen liegt es also definitiv nicht. Deshalb wird von den Kritikern einer solchen Überlegung vorgebracht, dass es sich nicht umsetzen ließe, den Privatsektor so zu belasten.
Die befürwortete Alternative meiner Kritiker ist, dass die anderen Staaten der EU – allen voran Deutschland – die Schulden übernehmen sollten. Dies ist aber nichts anderes als eine Tilgung nach Wirtschaftskraft, weshalb mich diese Vorstellung nur bedingt befriedigt. Wie ich mehrfach unterstrich, auch hier, bin ich dafür, Italien zu helfen. Aber das Land sollte und könnte auch selbst etwas für sich tun.
Es geht nicht nur in der Theorie
Es ist völlig problemlos möglich, solch eine einmalige Vermögensabgabe durchzusetzen. Nach den Daten der Credit Suisse verfügen die italienischen Privathaushalte über das größte Vermögen relativ zum BIP aller Länder.
Die Banca d’Italia berichtet regelmäßig über die Entwicklung der Privatvermögen.
2017 betrug es demnach 9743 Milliarden und dies waren die wichtigsten Positionen (jeweils in Milliarden):
Direkt halten die italienischen Privathaushalte übrigens nur für 100 Milliarden Staatsanleihen. Die Hauptgläubiger sind die italienischen Banken und ausländische Institutionen und – natürlich – die EZB. Eine Besteuerung der Vermögen wäre deshalb auch kein Schuldenschnitt, wie ein anderer Kritiker meiner Überlegungen zur italienischen Vermögensabgabe anmerkte.
Rechnen wir weiter: Nehmen wir an, der italienische Staat möchte einen Neustart organisieren und dafür die Verschuldung um die von mir in den Raum gestellten 100 Prozent vom BIP drastisch senken. Das wären 1800 Milliarden Euro oder rund 18,5 Prozent des Vermögens der italienischen Privathaushalte. Nimmt man noch einen Freibetrag an, um kleinere Vermögen zu schützen, könnte das einem Satz von 25 Prozent entsprechen.
Legt man eine moderatere Schuldentilgung um 50 Prozent zugrunde – ein Schritt, mit dem die italienische Staatsverschuldung unter dem Niveau der meisten Länder der Eurozone läge – sprechen wir von 12,5 Prozent des Vermögens. Übrigens: Der Lastenausgleich, der in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, betrug 50 Prozent des ermittelten Vermögens und musste in 120 vierteljährlichen Raten beglichen werden.
Offensichtlich verfügen die Italiener nicht über so viel flüssige Mittel. Das widerspiegelt die bessere Geldanlage verglichen mit uns Deutschen. Immobilien sind die wichtigste Vermögensposition. Auf der anderen Seite ist die Verschuldung sehr niedrig. Die Italiener könnten sich also problemlos das Geld leihen, das für die Zahlung der Steuer erforderlich ist. Wenn wir davon ausgehen, dass die Besitzer von liquiden Mitteln die Zahlung direkt aus dem Bestand leisten und hier vor allem die kleineren Vermögen angelegt sind – und deshalb die Freigrenze entsprechend greift –, ergäbe dies bereits (bei einem angenommen Satz von zehn Prozent) rund 300 Milliarden Euro. Die verbliebenen 1500 Milliarden Euro im Maximalszenario entsprechen rund 25 Prozent des Immobilienvermögens der Italiener.
Der französische Think Tank France Stratégie regte schon 2017 an, dass der Staat Miteigentümer aller Immobilien werden und dafür eine jährliche Steuer erheben könnte. Will oder kann ein Eigentümer nicht jährlich zahlen, würde der Abschlag bei einem Verkauf oder einer Erbschaft abgerechnet werden. Die französische Regierung distanzierte sich von den Vorschlägen. Das aber ändert nichts daran, dass sich Staaten dieser Option in Finanznöten bedienen könnten.
Im konkreten Fall Italiens bietet es sich an, dass der Staat Zwangshypotheken auf die Immobilien erhebt. Die Zahlungen würden unmittelbar an den Staat fließen, die Tilgung über einen möglichst langen Zeitraum erfolgen, zum Beispiel wie im deutschen Lastenausgleich über 30 Jahre und angesichts der Geldpolitik der EZB zu sehr günstigen Sätzen.
Legen wir 1500 Milliarden Euro als Volumen zugrunde, entspräche dies bei zwei Prozent Zinsen und einer Laufzeit von dreißig Jahren einer jährlichen Belastung der Privathaushalte von 67 Milliarden Euro. Also rund 3,5 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Begnügte der Staat sich mit einer geringeren Belastung als im Maximalszenario, reden wir von einer jährlichen Belastung in Höhe von rund einem Prozent des BIP.
Im Gegenzug könnte der italienische Staat andere Abgaben und Steuern nach Abbau der Schulden deutlich senken. Es bestünde keine Notwendigkeit mehr, einen sogenannten Primärüberschuss zu erzielen, also einen Überschuss im Haushalt vor Zinszahlungen. Der Staat würde die Wachstumskräfte des Landes freisetzen, statt sie wie in den letzten Jahren zu bremsen. Damit hätte Italien die Chance, die Stagnation der letzten 20 Jahre zu überwinden.
Helfen wir Italien, diese Chance zu nutzen!
Was spricht dagegen, den Italienern die Lösung ihrer Probleme durch diesen Weg nahezulegen? Es wäre der Schlüssel für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Wer stattdessen darauf setzt, dass die deutlich ärmeren deutschen Privathaushalte im Zuge von Solidarität den Italienern die Schuldenlast abnehmen – wie auch immer verpackt und verschleiert – fördert nicht nur die europakritischen Kräfte hier, er verweigert Italien auch eine einmalige Chance!
Eine Rettung des Projektes EU und Euro wäre es auf jeden Fall nicht. Freundschaft kann man sich nicht kaufen. Die Gültigkeit dieses Spruchs können wir angesichts der hitzigen Diskussion in Europa tagtäglich erleben. Wenn nun hiesige Ökonomen und Politiker dennoch denken, die Lösung liegt im Verschieben von Vermögenswerten in Richtung der vermögendsten Privathaushalte Europas, überschätzen sie die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Angesichts des demografischen Wandels, der Strukturwandels und der enttäuschenden Entwicklung der Produktivität stehen uns schwere Jahre bevor.
Deutschland sollte dennoch helfen, wie ich vor zwei Wochen an dieser Stelle appellierte, nämlich mit Direktinvestitionen, Darlehen und gezielter Unterstützung des Gesundheitssystems. Im Gegenzug sollten wir aber auf eine Beteiligung des italienischen Privatsektors drängen.
Übrigens: Spanien, Portugal, Belgien und selbst Frankreich könnten sich auch selbst helfen, wie ein Blick auf die Zahlen zeigt.
→ manager-magazin.de: “Wie Italien sich selbst helfen kann”, 22. April 2020