Jetzt warnt Schäuble: Dabei hat er Mitschuld an Eiszeit und kommenden Krisen

Wolfgang Schäuble warnt in der FT von heute vor der nächsten Finanzkrise: “(…) he warned that the world was in danger of  encouraging new bubbles to form. Economists all over the world are concerned about the increased risks arising from the accumulation of more and more liquidity and the growth of public and private debt. (…)  Mr Schäuble’s views also chime with those of the Bank for International Settlements, which has long argued that aggressive monetary easing by central banks was fuelling bubbles in asset prices. The BIS warned last month that the world had become so used to cheap credit that higher interest rates could derail the global economic recovery.” Eine Sicht, die bto seit Jahren vertritt.

Die wahre Frage ist doch: Warum hat Schäuble nichts dagegen getan? Er konnte nicht? Nein, er hat zum Beispiel einen Schuldenschnitt im Euroraum verhindert. Doch das ist nötig, um die Schuldendynamik zu unterbrechen.

Wo wir stehen, habe ich im Rahmen der Veranstaltung “Ten Years After. Eine Bilanz der Finanz- und Weltwirtschaftskrise” an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing im Juli erläutert. In der Septemberausgabe des ifo Schnelldienstes erschien diese Zusammenfassung:

Die nicht verstandene Krise

Auch zehn Jahre nach Beginn der größten Finanz- und Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit gibt es kein gemeinsames Verständnis für die Ursachen der Krise. Da wird über die „Finanzkrise“ gesprochen, ausgelöst von zweifelhaften Krediten im US-Immobilienmarkt, die als Wertpapiere verpackt über allerlei Umwege in den Portfolios der Investoren in aller Welt – vor allem in Deutschland – landeten. Da wird von der „Eurokrise“ gesprochen, deren Ursache man gerne in der überbordenden Staatsverschuldung einzelner Sünderländer verortet, die über ihre Verhältnisse gelebt haben.

Die Wahrheit ist eine andere: Beides, die Finanz- wie die Eurokrise, sind Überschuldungskrisen gewesen und sind das immer noch. Seit Mitte der 1980er-Jahre haben wir es weltweit, vor allem in den USA, Europa und Japan mit einer explodierenden Verschuldung von Staaten, privaten Haushalten und Unternehmen zu tun. In den zwanzig Jahren bis zum Krisenausbruch 2007 haben sich die Schulden relativ zum Bruttoinlandsprodukt mehr als verdoppelt. Real haben Unternehmen mehr als dreimal so viele Schulden wie zuvor, Staaten mehr als viermal und private Haushalte mehr als sechsmal so viel.

Schuld an dieser Entwicklung waren Politiker und Notenbanker. Durch den Eintritt Chinas und Osteuropas in den Weltmarkt kam es zu einem Angebotsschock auf dem Arbeitsmarkt. Hunderte von Millionen Menschen waren und sind bereit, für deutlich weniger Geld deutlich länger und härter zu arbeiten. In der Folge kamen Arbeitsplätze und Löhne in den westlichen Industrienationen unter Druck. Die richtige Antwort wären Investitionen in Bildung und Innovation gewesen. Leichter und schneller war es da, fehlende Einkommenszuwächse mit billigen Krediten (USA) und staatlichen Sozialprogrammen (Europa) zu kompensieren.

Im Bestreben, die Wirtschaft zu beleben, wurde auf immer mehr Schulden gesetzt. Regulierungen wurden gelockert, während die Notenbanken angesichts tiefer Inflationsraten (ausgelöst durch den Angebotsschock Millionen neuer Arbeitskräfte) begannen, mit immer tieferen Zinsen eine befürchtete Deflation zu bekämpfen.

Kam es zu Problemen an den Finanzmärkten (u. a. Schieflage des Hedgefonds LTCM, Russlandkrise, Asienkrise, Dot-Com-Blase, Anschläge vom 11. September), reagierten die Notenbanken, allen voran die US-Fed, mit Zinssenkungen, ohne die Zinsen anschließen wieder ausreichend zu erhöhen. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich kritisiert dieses „asymmetrische Verhalten“ schon lange.

Belohnt wurde, wer Schulden machte und es ist kein Wunder, dass jeder vierte der reichsten 400 US-Amerikaner mit „Investments“, also der Spekulation auf Kredit, sein Vermögen gemacht hat.

2008 war es dann so weit. Die Welt schien am Ende der Verschuldungskapazität angelangt. Der „Minsky-Moment“ war erreicht, der Zeitpunkt, zu dem schuldenfinanzierte Blasen platzen – benannt nach dem verstorbenen US-Ökonomen Hyman Minsky, den zu Lebzeiten keiner der Akteure ernst nahm und dessen Gedanken auch heute viel zu wenig Beachtung finden. Statt anzuerkennen, dass die schuldenfinanzierte Wohlstandsillusion an ihre Grenzen stößt, wurde alles getan, um die Verschuldungskapazität zu erhöhen und eine weitere Runde mit noch mehr Schulden anzustoßen.

Die Schulden wachsen weiter

Die Verschuldungskapazität hängt vom beleihungsfähigen Eigenkapital oder Einkommen und von den Zinsen ab. Je höher das Eigenkapital und das Einkommen und je tiefer die Zinsen, desto mehr Schulden lassen sich schultern. 2008 stiegen die Kosten für Kredite drastisch, nicht zuletzt, weil das Vertrauen der Kreditgeber in die Zahlungsfähigkeit der Schuldner deutlich zurückging. Zugleich verfiel der Wert des Eigenkapitals und die Einkommensaussichten verschlechterten sich wegen der sich abzeichnenden Rezession. Was bei moderater Verschuldung im Einzelfall ärgerlich ist, erweist sich bei zu hoher Verschuldung als Brandbeschleuniger für eine große Depression. Keiner hat das besser beschrieben als Irvin Fisher im Jahre 1933 in seiner „Debt-Deflation-Theory of Great Depressions“. In der Tat waren wir 2008 auf dem besten Weg, eine Weltwirtschaftskrise wie in den 1930er-Jahren zu erleben. Der Absturz war anfangs sogar weit dramatischer als achtzig Jahre zuvor.

Richtigerweise haben die Verantwortlichen alles darangesetzt, dies zu verhindern. Mit staatlichen Konjunkturprogrammen und Null- und Negativzins haben sie die Verschuldungskapazität wiederhergestellt. Vermutlich hätte es dennoch nicht gereicht, wäre China nicht mit einem gigantischen schuldenfinanzierten Konjunkturprogramm eingesprungen. Damit wurde nicht nur die Schuldentragfähigkeit im Westen erhöht, sondern zugleich noch neue Verschuldungskapazität in der Welt mobilisiert.

Mit erheblichem Erfolg! Weltweit ist die Verschuldung auf über 325 Prozent des BIP gestiegen, 50 Prozentpunkte mehr als noch 2007. Angetrieben vom billigen Geld aus den USA und Europa wurde überall auf Pump gelebt. China bleibt dabei mit einer Vervierfachung der Verschuldung seit dem Jahr 2000 und einem Anstieg von rund 120 Prozent des BIP auf über 280 Prozent einsamer Spitzenreiter.

Politiker und Notenbanker haben es also geschafft, die weltweite Verschuldungskapazität durch Erhöhen der Anzahl der Schuldner und das Senken der Finanzierungskosten nochmals deutlich auszuweiten. Damit wurde die Politik, die uns in die Krise von 2008 geführt hat, noch konsequenter fortgesetzt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir vor dem nächsten „Minsky-Moment“ stehen, dann allerdings mit noch mehr Schulden und schon rekordtiefen Zinsen.

Kein Wunder, dass schon nach der nächsten Möglichkeit gesucht wird, die Verschuldungskapazität zu erhöhen. Nichts anderes steht hinter den Rufen nach einem Euro-Finanzminister und mehr „Solidarität“ Deutschlands. Es geht nur um eines: mehr Schulden zu ermöglichen, um das System noch eine Runde weiter zu bekommen.

Keine schmerzfreien Lösungen

Es ist Zeit, dass wir unsere Wirtschaftspolitik grundlegend hinterfragen. Seit Mitte der 1980er-Jahre setzen wir darauf, mit Schulden kurzfristiges Wachstum zu erzielen. Dabei nimmt die Produktivität der neuen Schulden stetig ab. Nachdem jahrzehntelang die Wirtschaft im Einklang mit der Verschuldung wuchs, werden heute weltweit immer mehr Schulden gebraucht, um überhaupt noch Wachstum zu erzielen. Die Ursache liegt in der überwiegend unproduktiven Verwendung der Schulden. Wir kaufen uns damit gegenseitig vorhandene Vermögenswerte zu immer höheren Preisen ab. Im Unterschied zu Investitionen in neue Produkte und Dienstleistungen wächst dadurch die Wirtschaft jedoch kaum, wenn man von dem Zusatzkonsum durch den Reichtumseffekt steigender Vermögenspreise absieht.

Ermöglicht wird das Ganze von einem Bankensystem, das fast unbegrenzt neues Geld schöpfen kann, indem es Kredite gewährt. In unserem Geldsystem wird neues Geld überwiegend (zu rund 90 Prozent) durch das Bankensystem geschaffen. Steigende Nachfrage nach Vermögenswerten führt dabei zu einem Preisanstieg, der wiederum eine höhere Beleihungskapazität für alle Vermögenswerte ermöglicht. Wir sind damit abhängig von steigenden Vermögenswerten, neuen Schuldnern und immer tieferen Zinsen. Die Zinsen müssen morgen noch tiefer sein, einfach weil sie heute schon tief sind.

Nur mit immer mehr Schulden bleibt das System am Laufen. Das Problem ist dabei, dass wir nicht einfach aufhören können. Die ausstehenden Schulden müssen bedient werden, soll es nicht zum Kollaps kommen. Dies bedingt, dass zumindest in Höhe der Zinsen auf der ausstehenden Schuld neue Schulden aufgenommen werden. Denn woher sonst soll das Geld denn kommen?

Es gibt keinen einfachen Weg aus unserer selbst gewählten Misere. Wir haben uns von der Schuldendroge abhängig gemacht und brauchen eine ständig steigende Dosis. Bleibt sie aus, ist der „Minsky-Moment“ da – der ultimative Crash.

Doch wie könnte man mit dem Schuldenüberhang umgehen? Die Optionen sind begrenzt:

  • Tilgung der Schulden durch Sparen: Was für einzelne Haushalte, Unternehmen und auch Staaten funktionieren kann, funktioniert nicht auf weltweiter Ebene. Jeder Versuch des „Deleveraging“ durch gesamtwirtschaftliches Sparen führt zu einem überproportionalen Einbruch der Nachfrage und damit zu einer Rezession, die wiederum den Druck auf die Schuldner erhöht. In der extremsten Version kommt es zu einer Debt-Deflation wie in den USA in der Weltwirtschaftskrise. Wenn überhaupt kommt es zu einem Schuldnertausch, wo, wie beispielsweise in Spanien seit 2008 und Japan seit 1990 zu beobachten, der Privatsektor Schulden abbaut und sich dafür der Staat (deutlich mehr) verschuldet. Es ist unmöglich, dass wir uns aus dem Schuldenproblem heraussparen.
  • Höhere Wachstumsrate der Wirtschaft: Am angenehmsten wäre es, wenn es uns gelänge, das Wachstum der Realwirtschaft über die Wachstumsrate der Schulden zu bringen. Dann würden die Schuldenquoten über die Zeit sinken. Leider ist dies aus verschiedenen Gründen nicht realistisch. Neben dem bereits angesprochenen Problem der abnehmenden Produktivität der neuen Schulden haben wir es mit erheblichen Gegenwinden zu tun: In den westlichen Ländern beginnt die Erwerbsbevölkerung zu schrumpfen (Europa, Japan) bzw. zu stagnieren (USA), während gleichzeitig die Produktivitätszuwächse abnehmen. Damit ergibt sich ein geringeres Wachstumspotenzial der Realwirtschaft. Während Ökonomen noch über die Ursachen der geringen Produktivitätszuwächse rätseln, dürfte es unstrittig sein, dass die Politik des billigen Geldes durch die Verhinderung der dringend notwendigen Bereinigung überflüssiger Kapazitäten zu dem Problem beiträgt. Die Schuldenlast macht es so noch schwerer, das erforderliche Wachstum zur Reduktion derselben zu erzielen. Herauswachsen, so schön es wäre, ist somit keine Option.
  • Höhere Inflation: in der Vergangenheit, so zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg, hat man über erhöhte Inflationsraten das Nominalwachstum der Wirtschaft über die Wachstumsrate der Schulden getrieben und auf diese Weise eine Entschuldung realisiert. Wäre Inflation im heutigen Umfeld leicht zu erzielen, so hätten wir sie schon lange. Dem ist aber nicht so. Stattdessen überwiegen die deflationären Kräfte von Überkapazitäten und Überschuldung. Die von den Notenbanken neu zur Verfügung gestellten Mittel bleiben im Bankensystem stecken. Zum einen, weil die Banken selbst noch auf mindestens einer Billion Euro an faulen Krediten sitzen (Europa), zum anderen, weil die potenziellen Kreditnehmer entweder schon verschuldet sind oder aber angesichts der unsicheren Aussichten kein Interesse an weiterer Verschuldung haben. Ohne eine deutliche Zunahme der Verschuldung und damit der Nachfrage nach Gütern kann es aber keine Inflation geben. Will man in diesem Umfeld Inflation erzeugen, so geht das nur durch eine Erschütterung des Vertrauens breiter Bevölkerungsschichten in das Geld. Dann sprechen wir aber nicht mehr von vier Prozent Inflation, sondern von deutlich höheren Raten. Noch ist eine solche Entwicklung nicht in Sicht und es bleibt bei der Inflation der Vermögenswerte, getrieben von der Verfügbarkeit billiger Kredite.
  • Schuldenrestrukturierung: verbleibt die Möglichkeit geordneter und ungeordneter Schuldenschnitte. Schuldner können ihre Zahlungen einstellen oder Gläubiger und Schuldner einigen sich über einen Schuldenerlass. Doch auch in diesem Szenario verlieren Gläubiger einen Teil ihrer Forderungen. Da dieses Szenario politisch unattraktiv ist, versuchen die Politiker auf Zeit zu spielen und hoffen doch noch auf die Rettung über Wachstum und Inflation. Bis es so weit ist, wird nach weiteren Möglichkeiten gesucht, mit noch mehr Schulden das System am Laufen zu halten.

Vermutlich wird uns nichts anderes übrig bleiben, als die faulen Schulden bei den einzigen Schuldnern abzuladen, die über eine praktisch unbegrenzte Verschuldungskapazität verfügen: den Notenbanken. Diese sind ohnehin schon dabei, im großen Umfang Forderungen aufzukaufen. Dies müssten sie noch verstärkt tun, und sobald sie einen signifikanten Bestand haben, sollten sie die Forderungen abschreiben und den Schuldnern in einer Art „Jubel-Jahr“ erlassen. Da Notenbanken per Definition nicht illiquide und damit nicht insolvent werden können, bleibt dies wohl der einzige und relativ schmerzfreie Weg der Bereinigung. Japan dürfte uns diesen Weg schon in wenigen Jahren vormachen und dabei die ebenfalls heftig umstrittene Frage beantworten: Gelingt das, ohne zu einer Zerrüttung der Währung durch Hyperinflation zu führen? Vermutlich ja.

Depression in Zeitlupe statt großer Depression

Damit haben wir zwar eine Wiederholung der großen Depression wie in den 1930er-Jahren verhindert, jedoch die Krisenursachen nicht bereinigt, sondern, im Gegenteil, die Probleme vergrößert. Wir erleben deshalb eine Depression in Zeitlupe. Der Einbruch war nicht so tief wie in den 1930er-Jahren, die Erholung dafür auch deutlich schwächer. In den USA entsprach das Wachstum in den letzten zehn Jahren ziemlich exakt dem Wachstum der Jahre 1929 bis 1938. Auch in Europa liegen die Wachstumsraten deutlich unter dem Vorkrisentrend.

Dass wir in Deutschland von dieser Krise nichts wahrnehmen, ist kein Zeichen der besonderen Solidität der deutschen Wirtschaft. Im Gegenteil. Die Außenhandelsüberschüsse basieren darauf, dass sich unsere Kunden immer mehr verschulden. Spiegelbildlich zu unseren Handelsüberschüssen gewähren wir unseren Kunden Kredit, was angesichts der Überschuldungssituation keine gute Strategie ist. In einer Welt mit zu vielen Schulden müssen die Gläubiger zwangsläufig verlieren. Hinzu kommt ein Euro, der unzweifelhaft schwächer ist, als es eine Deutsche Mark wäre, und damit die Exporterfolge zusätzlich beflügelt. Die tiefen Zinsen, konsequente Folge der Überschuldung, tragen ebenfalls zur deutschen Wohlstandsillusion bei. Die „Schwarze Null“ ist nicht die Folge kluger Politik, sondern günstiger Finanzierungskosten infolge der anhaltend ungelösten Eurokrise. Spätestens in der nächsten Rezession dürfte diese Wohlstandsillusion schmerzhaft platzen. Man denke nur an die über 850 Milliarden Euro zins- und tilgungsfreier Kredite, die wir den Krisenländern gewähren, und die jeden Tag größer werden (TARGET2).

Nur eine Frage der Zeit bis zum nächsten Knall

Damit ist es nur eine Frage der Zeit, bis die bisher nur unterdrückte und keineswegs bewältigte Krise wieder ausbricht. Mit noch höheren Schulden und schon deutlich tieferen Zinsen und aufgeblähten Bilanzen der Notenbanken dürfte es dann noch schwerer werden, die Krise erneut einzudämmen. Noch negativere Zinsen und Helikoptergeld dürften dann zum Einsatz kommen.

Dass die Entscheidungsträger diese Gefahren nicht sehen, ist eher ein Warnsignal. Noch 2007 hielt US-Notenbank-Chef Ben Bernanke, der – obwohl er über die große Depression geforscht hat – die Wiederholung derselben nicht kommen sah, die Subprime-Krise für ein kleines Problem, welches die US-Wirtschaft nicht nachhaltig beeinflussen würde. Kürzlich erklärte seine Nachfolgerin Janet Yellen, es gäbe „keine Finanzkrise mehr zu unseren Lebzeiten“. Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall.

Hier der Link zu der Ausgabe des ifo Schnelldienstes:

sd-2017-17-taube-etal-finanzkrise-2017-09-14