Der Kampf gegen die Eiszeit ist Risiko und Chance zugleich
Dieser Kommentar erschien bei der WirtschaftsWoche Online.
Politiker und Notenbanker wollen die Eiszeit nicht akzeptieren. Die letztlich vergeblichen Versuche diese zu überwinden, bieten Chancen für Investoren.
Die Weltwirtschaft dürfte in diesem Jahr um 3,1 Prozent wachsen, deutlich weniger als in den Jahren vor der Finanzkrise und nur wenig mehr als die 2,5 Prozent, die als Rezession definiert werden. Ohne China, das in diesem Jahr wohl um 6,7 Prozent wächst, läge das Wachstum der Weltwirtschaft um 1,2 Prozentpunkte tiefer. Die USA leisten mit 2,2 Prozent Wachstum nur einen Beitrag von 0,3 Prozentpunkten zum weltweiten Wachstum, die Sorgenkinder Europa (0,2 Prozentpunkte) und Japan (0,1) noch weniger.
Es sollte niemanden wundern, dass die Wachstumsraten der Weltwirtschaft so gering sind. Zum einen haben wir es immer noch mit den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise zu tun, deren Ursachen keineswegs bereinigt wurden. Im Gegenteil: Die Schulden sind weltweit auf einen neuen Rekord von 152 Billionen US-Dollar gewachsen. Jeder Versuch, das Wachstum der Schulden zu beschränken, führt unmittelbar zu einer Abschwächung des Wachstums und erhöht die Gefahr einer Rezession. Allein deshalb setzen die Notenbanken der Welt auf dauerhaft tiefe Zinsen, um so wenigstens die Schuldenlast gering zu halten.
Die Ursachen für das schwache Wachstum gehen aber noch tiefer. Es ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass Schulden nur vorgezogener Konsum sind, der nun als Nachfrage fehlt. Es liegt auch nicht an den von Larry Summers und anderen Volkswirten kritisierten „Ersparnisüberhängen“, die nichts anderes sind als das Spiegelbild der Überschuldung. Es liegt vielmehr – ganz banal – an den fundamentalen Faktoren, die für das Wachstum einer Wirtschaft verantwortlich sind: an der Demografie und an den Produktivitätsfortschritten.
Überall in der westlichen Welt liegen die Wachstumsraten der Erwerbsbevölkerung deutlich unter den Jahren vor 2005. In der EU beispielsweise wuchs die Erwerbsbevölkerung damals noch um rund 0,3 Prozent pro Jahr, heute schrumpft sie um 0,6 Prozent pro Jahr. Alleine diese Veränderung bedeutet – alle anderen Einflussfaktoren unverändert – eine Verringerung des jährlichen Wirtschaftswachstums um einen Prozentpunkt. Da das Wachstum schon zuvor nicht hoch war, fühlt es sich umso schlechter an. So einfach ist das.
Erschwerend kommt hinzu, dass überall – vor allem auch in den USA – die Produktivitätszuwächse gemessen am BIP pro Erwerbstätigen rückläufig sind. Über die Ursachen für dieses Phänomen wird in Fachkreisen heftig gestritten. Während Skeptiker wie Professor Robert Gordon davon ausgehen, dass wir uns auf dauerhaft tiefe Zuwächse einstellen müssen und die letzten 200 Jahre nicht die neue Regel, sondern die Ausnahme darstellen, sind andere optimistischer. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis sich die technologischen Fortschritte auch in den Wachstumszahlen niederschlagen. Auch ich sehe mehr strukturelle Gründe für den schwachen Produktivitätsfortschritt: den Rückgang der globalen Arbeitsteilung, die Investitionsschwäche, den steigenden Anteil des (weniger produktiven) Dienstleistungssektors und schließlich (politisch gewollte) Wettbewerbshemmnisse. Da muss man schon eine deutliche Trendumkehr annehmen, um zu deutlichen Wachstumsraten für die Wirtschaft zu gelangen. Und selbst, wenn wir mit zwei Prozent Produktivitätswachstum rechnen, würde die Wirtschaft in der EU in den kommenden Jahren real nur um 1,4 Prozent pro Jahr wachsen (minus 0,6 plus 2 ergibt 1,4).
Im Klartext heißt dies: Wir stehen vor einer anhaltend langen Phase geringen Wachstums. Um in diesem Umfeld die Schulden weiterhin tragbar zu halten, wird den Notenbanken keine andere Wahl bleiben, als die Zinsen dauerhaft tief zu halten. Ein Umfeld geringer Kapitalerträge – wie in der letzten Woche beschrieben – und wohl auch geringer Volatilität, könnte man meinen.
Doch so wird es nicht kommen. Eine EU, die dauerhaft stagniert, wird zunehmend unter Druck kommen. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wird weiter zunehmen, weil wir zwar auf hohem Wohlstandsniveau verharren, jedoch keine Zuwächse erzielen. Bekanntlich ist es emotional viel besser, reicher zu werden, als reich zu sein. Erschwerend kommen die Kosten der alternden Gesellschaft hinzu, die erhebliche Verteilungskonflikte mit sich bringen wird.
Um die Bevölkerungen zufriedenzustellen und die Existenzberechtigung der EU zu sichern, werden die Politiker in Brüssel und in den Nationalstaaten in Kooperation mit der EZB ein breites Arsenal an Maßnahmen umsetzen. Da sie weder die Erwerbsbevölkerung deutlich vergrößern können, noch die Produktivität steigern, dürften es letztlich nur Strohfeuer sein, die temporär die Wirtschaft beleben, bevor diese wieder auf das tiefere Trendwachstum zurückfällt. Was bleiben wird, sind höhere Schulden.
Sehr gut zu beobachten war das in den letzten Jahrzehnten in Japan. Im Versuch, die Folgen einer Finanzkrise gepaart mit schrumpfender Erwerbsbevölkerung zu bekämpfen, hat die Regierung ein Konjunkturprogramm nach dem nächsten aufgelegt, flankiert von einer Bank of Japan, die bereitwillig Geld immer billiger machte. Damit hat sie letztlich die Volatilität an den Märkten erhöht.
Volatilität heißt: Es geht auch noch oben! Immer wenn ein Programm angekündigt wird, dürften die entsprechenden Aktien steigen: Finanzierung von Breitbandtechnologie (Telekomfirmen), Straßenbau (Bau), Bildung (Bau und Dienstleister), Sicherheit (Rüstungs- und Sicherheitstechnik), aber auch Bürgergeld/Konsumgutscheine (dauerhafte Konsumgüter) sind denkbare Felder. Ebenfalls dürfte versucht werden, die Banken zu sanieren, zum Beispiel indem die EZB faule Kredite aufkauft. Dies mit dem Ziel, die Kreditvergabe anzukurbeln, was ebenfalls nur temporäre Effekte zeigen wird, da angesichts der fundamental geringen Wachstumsaussichten der Anreiz zu investieren gering ist. Siehe auch hier Japan.
Wer mag, kann diese Interventionszyklen an den Märkten spielen und so versuchen, die sonst mageren Renditen – siehe Kommentar letzte Woche – aufzubessern. Wird interveniert, steigen die begünstigten Branchen und Zykliker; verpufft der Effekt werden, die Langweiler wieder gefragt.
Losgehen dürfte es demnächst. Zunächst wird den Staaten erlaubt, wieder größere Defizite zu machen. Danach wird die EZB dazu übergehen, laufende Defizite zu finanzieren, perspektivisch auch Schulden zu annullieren. Die Helikopter sind in der Ferne schon zu hören. Wir halten an der langfristigen Strategie fest und spielen nur ein wenig an der Gewichtung zwischen Liquidität und Aktien und mit der Auswahl der Sektoren. Mehr nicht.
→ WiWo.de: Anlegen, wenn der Staat mitmischt, 27. Oktober 2016