„Brexit-Angst der Börse ist nur vorgeschoben“
Zum zweiten Mal in diesem Jahr gehen die Märkte auf Tauchstation. Angeblich sind es die Brexit-Ängste – doch in Wahrheit stecken Zweifel an der Allmacht der Notenbanken dahinter.
Eigentlich wollte ich mich in dieser Woche nicht noch einmal mit dem Brexit beschäftigen. Habe ich doch schon letzte Woche einen zu erwartenden Einbruch bei UK-Aktien und Britischem Pfund als eine Kaufgelegenheit beschrieben. Nun sind die Märkte schon vor der Entscheidung auf Tauchstation gegangen. Nicht nur in London, sondern gleich weltweit. Der Brexit wirkt also schon vorher und scheint – so man den Umfragen folgen will – nicht mehr ganz so unwahrscheinlich.
Ich denke, der Brexit ist nur ein Anlass für die Investoren, Risiken abzubauen, nicht jedoch die eigentliche Ursache. Auch ohne Brexit war es an der Zeit, dass die Märkte korrigieren und, schlimmer noch: erkennen, dass die Notenbanken zunehmend mit ihrem Latein am Ende sind. Egal was sie auch tun, die Realwirtschaft dümpelt vor sich hin. Die Inflation, so heiß erwünscht, will sich nicht einstellen.
Brexit wird weder Großbritannien noch Europa schaden
Zunächst die Erinnerung an meine feste Überzeugung: der Brexit, so er denn kommt, dürfte rein wirtschaftlich betrachtet weder England noch der EU beziehungsweise der Eurozone nachhaltig schaden. Allem Getöse der Akteure zum Trotz werden beide Seiten eine Lösung finden, um den Handel am Laufen zu halten.
Gerade aus Sicht der Europäer ist England mit seinem enormen Handelsdefizit ein zu bedeutender Markt, als dass man ihn so einfach Amerikanern und Asiaten überlässt. Man wird sich also einigen – und zwar rascher und leichter, als die Drohgebärden es heute erwarten lassen.
Politisch ist es eigentlich auch keine große Änderung der Lage. Die Eurozone wird so oder so in schwieriges Fahrwasser geraten, und ich bleibe bei meiner Einschätzung, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es zu einem Austritt eines Landes kommen wird. Das würde dann wirklich zu einer Kettenreaktion führen und als Anleger kann und muss man sich darauf vorbereiten. Ein Brexit könnte da höchstens beschleunigend wirken, allerdings auch nicht so, dass der Zerfall des Euros morgen bevorsteht. Davor stehen der unbeugsame Wille der Politik und das Füllhorn der EZB. Solange der politische Wille zum Euro bestehen bleibt, kann sich die Währungsunion noch ein paar Jahre halten. Sobald er abgewählt wird, was nicht eine Frage des „Ob“, sondern nur des „Wann“ ist, kommt es zum Knall.
Brexit ist nicht der Grund für fallende Märkte
Warum also fallen die Märkte? Ich denke, der Brexit liefert nur ein willkommenes Signal, um sich entsprechend neu zu positionieren. Der eigentliche Grund für den Einbruch ist ein anderer. Es ist der abnehmende Grenznutzen der Geldpolitik. Stellen wir es uns einfach vor: Wenn die EZB jeden Tag zehn Millionen neue Euro schafft, um auf diesen Weg die Wirtschaft zu stimulieren, so bedeutet es bei einem angenommenen Anfangswert von 100 Millionen im ersten Schritt eine Erhöhung der Geldmenge um zehn Prozent. Die Erhöhung um weitere zehn Millionen entspricht dann jedoch nur noch einer Steigerung um neun Prozent. Und hat sie erst mal die Geldmenge auf 300 gesteigert, sind zehn weitere Millionen nur noch etwas mehr als drei Prozent.
Da wir aber wie Junkies immer wieder einen neuen Kick benötigen, genügt uns eine absolut gleichbleibende und prozentual schrumpfende zusätzliche Dosis nicht. Wir brauchen mehr. Sichtbar wird das zuerst in der Realwirtschaft, wo immer mehr neue Schulden immer weniger zusätzliches BIP erzeugen. Erbrachte ein Dollar neue Schulden in den 1960er-Jahren immerhin noch rund 60 Cent zusätzliches BIP, kann man heute schon froh sein, wenn es noch rund zehn Prozent sind. Dies gilt übrigens weltweit und kann gerade in China drastisch beobachtet werden, wo den rund einer Billion US-Dollar neuer Schulden weniger als die Hälfte zusätzliches BIP gegenüberstanden.
Kauf von Kunst und Immobilien steigert das Einkommen nicht
Eine Ursache für die abnehmende Produktivität neuer Schulden ist natürlich die schlechte Mittelverwendung. Wir haben uns immer mehr Geld geliehen, um bereits vorhandene Vermögensgegenstände wie (vor allem) Immobilien, Kunst und Finanzassets zu kaufen. Dies und nichts anderes steht hinter dem von vielen Seiten und vor allem prominent von Thomas Piketty bedauerten Zuwachs der weltweiten Vermögen. Diese Art der Verschuldung steigert das Einkommen jedoch nicht. Die Schulden wachsen, ohne dass es sich in der Realwirtschaft niederschlägt. Ich erinnere immer wieder gerne an die Zahlen aus England. Britische Banken haben der produktiven Realwirtschaft (alle Unternehmen außer Baufirmen) 1990 Kredite im Umfang von 25 Prozent des BIP geliehen. Genauso viel wie heute. Die Kredite, die an Baufirmen und für Konsum und Hypotheken ausgereicht wurden, betrugen 1990 rund 35 Prozent des BIP. Heute liegt dieser Wert bei rund 100 Prozent.
Finanzmärkte können sich nicht ewig von der Realwirtschaft entfernen
Das Problem aus Sicht der Finanzmärkte ist, dass die Realwirtschaft letztlich doch die Zinsen für die Schulden erwirtschaften muss. Je mehr sie unter dieser Schuldenlast leidet, desto weniger kann sie wachsen. Hinzu kommen das Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung und abnehmende Produktivitätszuwächse – und da haben wir sie dann, die ökonomische Dauerstagnation der Eiszeit.
Doch Finanzmärkte können sich nur begrenzt von einer schwachen Realwirtschaft lösen. Temporär können billiges Geld und sinkende Eigenkapitalanforderungen die Finanzmärkte weiter nach oben treiben. Doch auch hier setzt der Effekt des abnehmenden Grenznutzens irgendwann ein. Alle, die sich verschulden wollen und können, sind verschuldet. Alle, die investieren und spekulieren wollen, tun dies bereits. Dann kommt der Punkt, an dem es zum Margin Call kommt. In der Weltwirtschaft und an den Finanzmärkten.
Und damit sind wir bei der aktuellen Brexit-Panik an den Märkten. Es war einfach Zeit für den Margin Call. Die Märkte haben schon seit Monaten nicht mehr weiter nach oben gefunden, die Profis begannen sich entsprechend zu positionieren. In Gold und Goldminen und mit der Spekulation auf fallende Märkte. Was dann als Ausrede für den Einbruch herhalten muss, ist eigentlich egal. Nun sind es die Engländer.
Die Fallhöhe für den nächsten Margin Call wächst
Es ist ein lauter Schrei der Märkte nach „Mehr!“. Noch mehr Geld, noch tiefere Zinsen. Am besten Helikopter-Geld und die Monetarisierung aller Schulden durch die Notenbanken. Und wie die Äußerungen der Notenbanker der letzten Tage gezeigt haben, werden sie nicht enttäuscht werden. Dann kommt die Rallye an den Märkten, aber die Krankheit des Systems wird weiter vergrößert. Die Fallhöhe für den nächsten – finalen? – Margin Call erhöht.
Führt mich zum Appell: Investoren, die diese Kolumne regelmäßig lesen, wissen, dass es um Vermögenserhalt geht. Nur durch internationale Diversifikation in Aktien, Gold, Cash und Immobilien und absoluten Kostenfokus können die Verluste begrenzt werden. Wer noch nicht genügend Qualitätsaktien besitzt, der sollte diese Tage nutzen, um die Position aufzustocken.
Können die Märkte weiter fallen? Ja, sie können. Doch sind 100-jährige Anleihen klammer Staaten wirklich besser? Ich denke, schon die zehnjährigen bieten nur renditeloses Risiko.
→ WirtschaftsWoche online: „Brexit-Angst der Börse ist nur vorgeschoben“, 16. Juni 2016