Reformen statt Schulden – was Europa wirklich brauchte
Es ist erschütternd, wie wenig Fortschritte wir in den letzten fünf Jahren gemacht haben. Denn genauso alt ist dieser Beitrag von mir. Wer jetzt aufhört zu lesen, verpasst was. Denn die Punkte, die ich damals definiert habe, gelten heute umso mehr! Wir haben nicht nur keine Fortschritte gemacht, sondern im Gegenteil alles verschlimmert. Mit Blick auf Deutschland muss man sogar sagen, wir haben unsere Ausgangslage für die nächste Stufe der Krise nachhaltig verschlechtert. Eine Erkenntnis, die den Medien dämmert, kommt doch die BILD beispielsweise gleich mit einer “kleinen Serie” über die schlechte Politik unter Frau Merkel.
Wusste sie es nicht besser? Doch. Denn was ich damals schrieb und seither regelmäßig wiederholt habe, ist den Regierenden natürlich bekannt. Sie haben wider besseren Wissen das Richtige unterlassen und das Falsche verstärkt. Nicht nur in Deutschland:
Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bleibt ihrer Tradition treu. Der frühere BIZ-Chefvolkswirt William White warnte frühzeitig vor der Finanz- und Wirtschaftskrise, doch niemand wollte auf ihn hören. Stattdessen wurde der „Meister“ Alan Greenspan für seine Politik des immer billigeren Geldes von allen Seiten gelobt. In diesen Tagen ist es genauso. Im neuesten Jahresbericht warnt die BIZ erneut in deutlichen Worten vor den Nebenfolgen der heutigen Wirtschaftspolitik und fordert eine drastische Umkehr. Die aggressive Geldpolitik würde die Probleme der Realwirtschaft nicht lösen. Stattdessen wären neue Blasen in den Finanzmärkten die Folge, weil Anleger in verzweifelter Suche nach Rendite immer größere Risiken eingingen. Die Aktienmärkte hält die BIZ für deutlich überbewertet und verweist darauf, dass die Aktien in Europa letztes Jahr um 15 Prozent zugewonnen hätten, während die Wirtschaft stagnierte und die erwarteten Gewinne um drei Prozent zurückgegangen sind. Fundamental zeichnet sich aus Sicht der BIZ keine Besserung ab. Im Gegenteil: Die Investitionsschwäche in den Industrieländern hält an und das Wachstum der Produktivität nimmt weiter ab. In der Tat ist weltweit die Produktivität im letzten Jahr sogar gesunken. Hinzu kommt der beginnende Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter.
Was wäre also die Alternative zur heutigen Wirtschaftspolitik? Wie müsste ein Programm aussehen, welches die Industrieländer und damit die Weltwirtschaft wieder zurück auf einen nachhaltigen Wachstumspfad bringt? Nach Lektüre des Jahresberichts der BIZ ergibt sich ein klares Programm:
1. Schluss mit Wachstum auf Pump
Obwohl immer von „Sparen“ geredet wird, ist in Wahrheit nichts davon zu spüren. Die Verschuldung von Staaten und Privaten ist in den Industrieländern aber auch den Schwellenländern seit 2007 weiter angestiegen. Die Staatsverschuldung der G7 wuchs um immerhin 40 Prozentpunkte auf nunmehr 120 Prozent des BIP. Auch der Privatsektor macht immer mehr Schulden. Weltweit stiegen die Schulden um beeindruckende 30 Prozent seit 2007. Trotz dieser rasanten Schuldenzunahme diagnostiziert die BIZ ein schwaches Wirtschaftswachstum, was angesichts der bereits bestehenden Schuldenlast nicht überraschen kann. Ein großer Teil der neuen Schulden dient nur dazu, dass bestehende Schuldengebäude vor dem Einsturz zu bewahren, führt aber nicht zu neuer Nachfrage und schon gar nicht zu mehr Investitionen. Der Versuch eine Krise, ausgelöst durch zu viele Schulden und zu billiges Geld, durch noch billigeres Geld und noch mehr Schulden zu bekämpfen ist damit offiziell gescheitert. Umso schlimmer, dass die Politik in Europa – nun auch noch unterstützt vom deutschen Wirtschaftsminister – und die EZB, statt dies anzuerkennen, auf eine Verstärkung der Dosis setzt. Nach dem Motto: Es wirkt nicht, also nehmen wir mehr davon.
Richtigerweise müssten wir der Tatsache ins Auge sehen, dass ein großer Teil der Schulden – ich schätzte den Betrag auf rund fünf Billionen Euro im Euroraum – nicht mehr bezahlt werden kann. Besser wäre es, hier einen Schnitt vorzunehmen und dann neu zu starten, als das Spiel auf Zeit fortzusetzen und das Problem damit immer weiter wachsen zu lassen. Realisierungswahrscheinlichkeit? Vorerst gering. Die Politik wird sich lange nicht trauen, diesen Weg zu gehen. Am Ende wird sie aber nicht darum herum kommen, freilich erst nachdem noch weiterer und größerer Schaden angerichtet wurde.
2. Entschärfen der Demografie-Bombe
Bereits im Jahr 2011 hat die BIZ in einer Studie aufgezeigt, dass die Versprechen der Politik für künftige Renten, Pensionen und Gesundheitsleistungen unter keinen Umständen finanzierbar sind. Würden Staaten wie Unternehmen bilanzieren, wäre das offensichtlich. Die wahre Verschuldung liegt zwischen 400 und 800 Prozent des BIP. Die BIZ hat damals berechnet, was die Politik tun müsste, um dieses Problem zu lösen. Selbst bei einem Einfrieren der Kosten für Rentner auf dem heutigen Anteil am BIP würden die Staatsschulden in vielen Ländern wie USA, UK und Frankreich weiter ungebremst ansteigen. Deutschland sah in diesem Szenario besser aus, allerdings war dies noch vor den Rentengeschenken der Großen Koalition. Dabei muss man bedenken, dass ein Einfrieren auf heutigem Niveau natürlich pro Kopf eine deutliche Kürzung darstellt. Dennoch ist ein Umsteuern durch längere Arbeitszeiten, höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und geringere Rentenniveaus unerlässlich. Realisierungswahrscheinlichkeit: immer geringer. Sobald die Mehrheit der Wähler Transferempfänger ist wird sich die Politik nur noch an deren Interessen orientieren. Die Politik der deutschen Regierung gibt da nur einen Vorgeschmack. Dass es am Ende zu einem Kampf zwischen Alt und Jung aber auch zwischen Alt (vermögend) und Alt (unvermögend) kommen wird, ist kein guter Ausblick.
3. Wachstum stärken
Ohne Wachstum wird es unmöglich sein, die bestehenden Herausforderungen zu lösen. Je geringer die Wachstumsrate der Wirtschaft, desto mehr Schuldner werden nicht in der Lage sein, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Auf Ebene der Staaten beweist das Beispiel Italien, dass allen Bemühungen zum Trotz die Schulden immer weiter ansteigen, wenn es nicht gelingt, das Wirtschaftswachstum nach oben zu bekommen. Angesichts der tiefen Inflation – oder gar der Gefahr einer Deflation, die die BIZ übrigens mit Blick auf historische Daten nicht so problematisch sieht – kann es nur darum gehen, dass Realwachstum der Wirtschaft zu stärken. Mit Blick auf die schrumpfende Erwerbsbevölkerung ist höheres Wirtschaftswachstum nur denkbar, wenn es gelingt, die Produktivität pro Kopf zu steigern. Schon seit Jahrzehnten nimmt das Wachstum der Produktivität ab und ist in Europa seit mehr als 15 Jahren schon negativ und in den USA nur noch knapp positiv. Die BIZ fordert konsequente Reformen, um das Wachstum zu stärken.
Zum einen müssten Staaten und Unternehmen wieder mehr investieren. Der Kapitalstock ist in den meisten Industrieländern so alt wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr.
Die Staaten müssten dazu die Einnahmen anders verwenden, also weniger Konsum und mehr Investition, da die Verschuldungskapazität bereits ausgeschöpft ist. Zwar gibt es Experten wie Paul Krugman und Larry Summers, die die Staaten angesichts des billigen Geldes zu drastischen Investitionsprogrammen auf Pump drängen, doch dürften die Folgen fatal sein. Der unbedienbare Schuldenberg würde nur noch größer. Und andere, die wie Wolfgang Münchau in der FINANCIAL TIMES (FT) von heute eine direkte Finanzierung der Konjunkturprogramme durch die EZB fordern, hoffen eigentlich auf eine Bereinigung des Schuldenproblems durch die Hintertür. Entweder über einen demokratisch nicht legitimierten Schuldentilgungsfonds über die Bilanz der EZB (deutscher Anteil: 28 Prozent) oder die dann doch einsetzende Inflation, die, wenn sie denn kommt, sicherlich nicht bei vier Prozent pro Jahr stehen bleibt.
Die Unternehmen müssten auch mehr investieren. Doch warum sollten sie? Mit vorhandenen Anlagen und unzureichendem Wettbewerb lassen sich Renditen erwirtschaften, die bei weiterer Ausweitung der Kapazitäten nur sinken können. Da ist es besser, eigene Aktien zurückzukaufen oder Wettbewerber zu übernehmen. Beides dient zwar dem Aktienkurs, aber nicht dem Produktivitätswachstum der Volkswirtschaft. Besser wäre angesichts der Demografie gerade in Deutschland ein Boom in der Automatisierung. Doch die Unsicherheit ist den Unternehmen zu hoch.
Der Staat müsste zudem effizienter werden. Damit ließen sich mehrere Ziele auf einmal erreichen: geringere Kosten für den Steuerzahler, bessere Leistungen für die Bürger und weniger Bindung von Humankapital im öffentlichen Sektor und damit die Freisetzung von fähigen Mitarbeitern für die Privatwirtschaft. Was für die Privatwirtschaft die radikale Automatisierung und Umstellung auf Roboter ist, muss im öffentlichen Dienst die Durchforstung der Aufgaben, die radikale Vereinfachung der Prozesse und eine viel weitergehende Automatisierung sein. Nach dem Motto: Was wird gemacht, wie wird es gemacht und wer macht es? Wie auch in der Privatwirtschaft wird es nicht damit getan sein, schrittweise Verbesserungen zu erzielen. Gefordert ist stattdessen eine fundamentale Transformation. Diese sollte angesichts der Finanzlage, vor allem aber angesichts der auch im öffentlichen Dienst offensichtlichen demografischen Probleme leichter zu realisieren sein, als die Politik befürchtet.
Verbleibt als weiterer wesentlicher Faktor die dringend nötige Verbesserung unseres Bildungssystems. In einem immer intensiveren globalen Wettbewerb werden wir nur dann bestehen können, wenn wir unsere wenigen Kinder überdurchschnittlich gut ausbilden und die gesamte Bevölkerung intensiv fortbilden. Kein Politiker, der dies nicht in Festreden betont – und dennoch nicht umsetzt. Die geringen Fortschritte in den PISA-Tests täuschen darüber hinweg, wie groß die Probleme im Bildungssektor sind. Zweiflern empfehle ich den Besuch einer örtlichen Schule.
Keine neuen Themen und Forderungen. Realisierungswahrscheinlichkeit: sehr gering. Richtige Wirtschaftspolitik wirkt langsam und ist zudem oft unpopulär. Kurzfristige Wirtschaftspolitik ist angenehm und verlagert Probleme in die Zukunft.
4. Finanzsystem sanieren
Für die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich bleibt der Schuldenberg und die schwache Kapitalisierung des Banksektors weiterhin eine Belastung für die wirtschaftliche Entwicklung und ein systemisches Risiko. Zwar hofft die BIZ, dass der Stresstest der EZB die Banken zur Offenlegung ihres Kapitalbedarfs und Sanierung ihrer Bilanzen zwingt, doch darf an dieser Hoffnung zu Recht gezweifelt werden. Studien beziffern den Kapitalbedarf europäischer Banken auf bis zu 800 Milliarden Euro. Wer soll diese Lücke schließen? Staaten und Banken sind noch mehr als vor sechs Jahren wechselseitig voneinander abhängig und stützen sich wie zwei Betrunkene, während die EZB den Nachschub an Bier sichert. Ohne eine Bereinigung der faulen Schulden, eine strengere Regulierung der Banken und deutlich höhere Eigenkapitalanforderungen wird es nicht funktionieren. Realisierungswahrscheinlichkeit: null. Die Politik scheut sich, den Bürgern die Wahrheit zu sagen, denn ohne eine Bereinigung der faulen Schulden von rund fünf Billionen Euro kann man auch die Banken nicht auf eine stabile Grundlage stellen. Solange unklar ist, wer wie und in welcher Höhe die Kosten übernimmt, wird das Thema nicht angegangen. Zwar werden die Rufe nach Vermögensabgaben immer lauter und Politökonomen wie Thomas Piketty liefern eine Argumentationshilfe für die Politik, aber noch traut sich die Politik nicht daran.
5. Normalisierung der Geldpolitik
Nachdem die BIZ die Geldpolitik für gescheitert hält und erhebliche schädliche und risikoerhöhende Nebenwirkungen sieht, ist die Forderung, diese Politik zu beenden konsequent. Dieser Sicht kann man nur zustimmen. Ausführlich diskutiert die BIZ die Erfahrung mit ähnlichen Situationen in der Vergangenheit und erwartet Verwerfungen an den Finanzmärkten, sobald die Geldpolitik ihre Richtung ändert. Diese seien aber umso größer, je länger man mit der Normalisierung wartet. Realisierungswahrscheinlichkeit? Absolut null. Wenn die Notenbanken ernsthaft ihre derzeitige Politik beenden, wird offensichtlich, dass nur die Flut billigen Geldes den Booten Auftrieb gegeben hat. Das Schuldengebäude würde zum Einsturz gebracht werden. Und genau deshalb wird es nicht dazu kommen. Zwar mag die eine oder andere Notenbank mal eine Verlangsamung des Gelddruckens versuchen, eine Rückführung der Bilanzexpansion steht nirgendwo zur Debatte. Ohne die Notenbankstützung müsste sich die Politik der harten Realität stellen. Und nicht nur die Politik, sondern auch die Bevölkerungen der Industrieländer.
Weil wir das nicht wollen, ist ein anderes Szenario viel wahrscheinlicher: Die Notenbanken werden nicht weniger, sondern immer mehr in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen. Immer mehr Liquidität soll die Wirtschaft stützen. Immer mehr zweifelhafte Schulden werden in den Büchern der Notenbanken landen, so lange, bis diese letztlich zu Bad Banks geworden sind, zum Endlager für wertlose Wertpapiere. Diese können dann zins- und tilgungsfrei gestellt werden und die laufenden Defizite der Staaten nebenher auch noch finanziert werden. Einige sehen darin die perfekte, schmerzlose Lösung. Andere – wie ich – zweifeln daran, dass es möglich ist, sich so einfach aus dem Problem herauszumogeln. Zu groß ist die Gefahr des Vertrauensverlustes in unser Geld- und Finanzsystem.
Eine Prognose wage ich jetzt schon: Auch im nächsten Jahr wird die BIZ warnen, die Zeitungen darüber berichten, ich einen weiteren Kommentar schreiben. Aber wirklich was verändern wird das nicht. Die Politik wird sich nicht ändern.