Best of 2016: Der Wohlstand der Mittelschicht wird sinken
Dieses Interview mit mir erschien im März 2016.
Deutschland hat die Krisen seit 2008 kaum gespürt, wir leben in einer „Wohlfühlblase“, sagt Daniel Stelter. Noch. Denn die Blase könnte bald platzen. Geld und Vermögen sind bedroht. Anleger sollten sich vorbereiten.
WirtschaftsWoche Online: Herr Stelter, der Dax ist noch immer nahe seinen Höchstkursen, die Beschäftigung ist so stark wie noch nie seit der Wiedervereinigung, die Steuereinnahmen sprudeln. Ihr neues Buch heißt „Eiszeit in der Weltwirtschaft“. Wenn das die Eiszeit ist, dann freuen wir uns schon auf den nächsten Boom nach Ihrer Definition.
Daniel Stelter: Was Sie beschreiben, ist ja nur eine Momentaufnahme, noch dazu eine unvollständige. In den meisten Ländern blühen Beschäftigung und Steuereinnahmen keineswegs. Ich bezeichne die Situation in Deutschland gerne als Wohlfühlblase: Deutschland hat in den vergangenen Jahren enorm von Sonderfaktoren profitiert, die verhindert haben, dass wir die Krise so schmerzlich zu spüren bekommen haben, wie beinahe alle Länder um uns herum. Diese Sonderfaktoren werden jedoch, wie der Name schon sagt, nicht für immer anhalten. Und dann wird die Krise auch hierzulande viel härter zuschlagen.
Welche Sonderfaktoren haben uns denn unsere „Wohlfühlblase“ beschert?
Vor allem der Boom der chinesischen Industrie, ohne den der Aufschwung der deutschen Exportbranchen nicht denkbar wäre. Chinas Wachstum ebbt bereits ab, und es gibt nichts, was es aus deutscher Sicht adäquat ersetzen könnte. Hinzu kommt: Derzeit arbeiten noch die geburtenstarken Jahrgänge; bald gehen die meisten dieser Babyboomer, die 1950 bis 1965 geboren sind, in Rente und zahlen netto nichts mehr in die Sozialsysteme ein, sondern nehmen heraus. Außerdem konsumiert eine überalterte Bevölkerung erfahrungsgemäß weniger als eine jüngere. Die Demografie wird durch die Flüchtlinge zwar etwas entschärft, dürfte aber nach wie vor zu extremen Problemen führen. Und schließlich sind die Ursachen, die 2008 zum Beinahe-Kollaps der Weltwirtschaft geführt haben, alles andere als beseitigt; sie sind im Gegenteil sogar noch schlimmer geworden.
Welche Krisenursachen sind das?
Die weltweite Verschuldung – und zwar nicht nur die der Staaten, auf die die Schuldenproblematik ja meistens reduziert wird, sondern die Gesamtverschuldung der meisten Volkswirtschaften – ist seit 2008 weiter gewachsen. Das sind die Schulden der Staaten, Unternehmen und der Privatleute zusammen. Sie liegen in fast allen Ländern heute höher als 2008. In den USA lag die Gesamtverschuldung Ende 2014, mehr als sechs Jahre nach Beginn der Krise, bei rund 235 Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung, in Deutschland bei 183 Prozent und in Japan sogar bei 380 Prozent des jeweiligen BIP, also des Bruttoinlandsprodukts. Das sind Niveaus, die dauerhaft untragbar sind. Fast überall sind die Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung seit Beginn der Krise weiter gestiegen.
Mit derart hohen Verschuldungsquoten leben einige reiche Länder, etwa Japan, schon sehr lange. Warum sollten sie jetzt plötzlich zum unkalkulierbaren Risiko werden?
Zunächst sind Schulden nicht per se etwas Schlechtes. Wenn sie in einem vernünftigen Rahmen bleiben, da würden wir aber von maximal 140 Prozent des BIP sprechen, und wenn sie produktiv eingesetzt werden, etwa durch Unternehmen oder den Staat für Zukunftsinvestitionen, sind Schulden sogar gut, weil sie wachstumssteigernd wirken.
Aber?
Aber die Kredite wurden in den vergangenen Jahren gegeben, um damit unproduktive Dinge zu finanzieren, zum Beispiel Immobilienblasen. Ein Beispiel: 1990 standen in Großbritannien Kredite in Höhe von etwa 25 Prozent des damaligen BIP an das produzierende Gewerbe aus, weitere Kredite in Höhe von 35 Prozent des BIP an Bau-, Hypotheken- und Konsumentenkrediten. Heute sind es noch immer 25 Prozent des BIP an Krediten für das produzierende Gewerbe, aber 100 Prozent an Immo- und Konsumkrediten. Auf gut Deutsch: Wir finanzieren volkswirtschaftlich Unsinniges mit den wachsenden Schuldenbergen, und wir verkaufen uns gegenseitig mit dem geliehenen Geld bereits vorhandene Vermögenswerte zu immer höheren Preisen, hauptsächlich Immobilien. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene sind immer mehr Schulden nötig, um damit ein bisschen Wachstum zu erzeugen.
Das ist im Prinzip seit Jahrzehnten der Fall; weshalb sollte es gerade jetzt zum Problem werden?
Im Moment bekämpfen wir die Schulden mit einer Art Doppeltherapie: mit Niedrigzinsen und Sparprogrammen. Diese Strategie ziehen wir nun schon seit sieben Jahren durch, und die Schuldenlast sinkt nicht, sondern sie steigt. Zum Problem wird sie konkret werden, wenn eines oder mehrere der unter den Sparprogrammen ächzenden Länder den Euro verlassen und seine Kredite nicht mehr tilgen will. Dann gibt es eine neue Bankenkrise. Ein paar Mal standen wir schon kurz davor. Diese Gefahr ist nicht gebannt, weil die bisherige Niedrigzins-Politik der Notenbanken das Problem nicht beseitigt, sondern nur Zeit kauft, die die Politik aber nicht nutzt.
Konkret: Um den Kollaps und Staatspleiten zu verhindern, haben die Notenbanken die Zinsen auf null gesenkt und Schuldpapiere aufgekauft, also Geld gedruckt. Auf die Dauer ist das gefährlich, weil die Volkswirtschaften sich an das billige Geld der Notenbanken gewöhnen, kaum wirkliche Reformen angehen und außerdem langfristig die Gefahr besteht, dass die Bürger das Vertrauen in die Währungen verlieren. Dann gäbe es eben doch noch eine galoppierende Inflation.
Hatten die Notenbanken 2008 denn überhaupt eine Handlungsalternative?
Damals war es richtig, mit viel Geld, Konjunkturprogrammen und Zinssenkungen gegen einen drohenden Stillstand des Systems zu kämpfen. Aber das sind Akutmaßnahmen; langfristig verschärfen sie das Problem, wenn man sie nicht wieder absetzt. Wir hatten nun fast sieben Jahre Zeit, eine andere, langfristig tragfähige Lösung für das Schuldenproblem zu finden.
Welche Lösungen schweben Ihnen vor?
Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten: Da das Heraussparen aus dem Schlamassel trotz Negativzinsen und Anleihekäufen offenbar nicht funktioniert, kann man die Schuldenberge nur verringern, indem man sie per Federstrich abträgt, also Teile der Schulden streicht. Oder, indem man hohe Inflation erzeugt, die sie real entwertet. Inflation erzeugen ist offenbar auch nicht so einfach, wie die Notenbanker dachten. Im Moment herrscht ja eher das Gegenteil, Deflation. Außerdem ist Inflation sozial ungerecht. Ich plädiere für einen geordneten Schuldenschnitt.
Verlierer wären Gläubiger, also Rentner und Sparer.
Ja, wenn man es mit dem Rasenmäher macht. Deswegen ja geordnet. Ganz ohne Schmerzen werden wir aus der über viele Jahre eingebrockten Situation nicht herauskommen, es geht längst nur noch um Schadensbegrenzung. Je länger wir an den alten, sinnlosen Rezepten festhalten, desto teurer wird es. Ein geordneter Schuldenschnitt könnte beispielsweise auf einen relativ langen Zeitraum gestreckt werden. Dann wäre es für die einzelnen Anleger, Steuerbürger und Unternehmen auch verkraftbar.
Von welchem Umfang der Schuldenstreichung sprechen wir und wie hoch müssten Steuern sein, um das gegenzufinanzieren?
In der Eurozone dürften mindestens drei Billionen Euro an privaten und öffentlichen Schulden uneinbringlich sein. Das bedeutet auch, dass ebenso drei Billionen an Geldvermögen nicht so werthaltig sind, wie die Besitzer denken. Wenn man die Schulden geschickt bündelt und – auch mithilfe der EZB –refinanziert, lässt sich die Belastung, über Jahrzehnte gerechnet, gering halten.
Ist das politisch denn durchsetzbar?
Sehr schwierig. Deswegen befürchte ich, dass es zu einer weniger verträglichen Lösung kommen wird. Konkret: Staatliche Zwangsmaßnahmen, wie höhere Grundbesitzabgaben, Negativzinsen oder Bargeldbeschränkungen werden zunehmen, wir werden eine sehr lange Phase schwachen Wachstums erleben, der Wohlstand der meisten Bürger, vor allem der Mittelschicht, wird sinken. Das Renteneintrittsalter wird weiter steigen. Aber auch Immobilienbesitzer sind ein einfaches Ziel, wenn Staaten mehr Geld brauchen. Rentenversicherungen bringen kaum noch etwas; an den Sachwertmärkten kommt es immer wieder zu Crashs. Das ist kein Weltuntergang, aber angenehm ist das nicht. Als zweite Variante ist aber nach wie vor auch das Szenario der galoppierenden Inflation nicht vom Tisch. Ich nenne es auch Ketchupflaschen-Inflation. Man klopft und klopft auf den Boden und nur scheinbar kommt nichts raus.
Wie bitte?
Dass bisher trotz des vielen Notenbankgeldes und der wiederholten Maßnahmen keine hohe Güterpreisinflation aufgekommen ist, liegt an der schwachen Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Das kann sich aber ändern, wenn das Vertrauen der Wirtschaftssubjekte in eine Währung durch anhaltende ultralockere Geldpolitik zerstört wird. Niemand weiß, ob das kommt, aber wenn, dann steigt die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes rapide, und die Inflationsraten schießen nach oben.
Der ehemalige Chef der Bank of England legte diese Woche Deutschland den Euro-Austritt nahe, auch Sie bezeichnen in Ihrem Buch den Euro als Schuldenkatalysator. Sollte Deutschland wirklich den Euro verlassen?
Politisch leider undenkbar, aber es wäre die beste Lösung für Deutschland und die Eurozone. Ein Austritt Deutschlands würde unsere Vermögensverluste beschränken, zugleich könnten wir die wirtschaftlichen Folgen besser bewältigen, unter anderem mit mehr Investitionen im Lande. Der viel wahrscheinlichere Fall ist jedoch der Austritt eines Krisenlandes wie Italien. Dies wird uns ins Chaos stürzen, weitere Länder mitziehen und erheblichen wirtschaftlichen Schaden und Vermögensverluste für uns bringen. Die ökonomische Antwort ist eindeutig.
Was sollen Anleger heute tun?
Fest steht, dass die Halter von Geldvermögen so oder so die Gekniffenen sind. Mit sicheren Bundesanleihen allein können Anleger ihr Vermögen nicht erhalten, weil sie keine Zinsen abwerfen und zugleich die Vermögenspreise steigen. Die Deutschen halten nach wie vor viel zu viel Geld in Zins- und Geldkonten. Letzten Endes bietet ein Portfolio aus Aktien, Anleihen, Gold, Bargeld und Immobilien die besten Chancen auf Werterhalt des Vermögens. Dies aber global gestreut! Alles in Deutschland und Europa zu investieren, ist sicherlich falsch.
Die Börse bricht immer wieder ein. Wie gelingt Anlegern die richtige Auswahl?
Mein wichtigster Tipp: Misstrauen Sie Tipps. Ich würde immer raten, die Auswahl für das Portfolio in Eigenregie vorzunehmen und dabei seinen eigenen Verstand zu nutzen. Die Qualität bei Aktien und Anleihen sollte im Vordergrund stehen: Es geht darum, dass das gewählte Unternehmen auch in 20 Jahren noch etwas produziert, das die Welt braucht. Nur dann besteht die Chance darauf, zwischenzeitlich dramatische Verluste irgendwann wieder auszugleichen.
Sie raten auch, Geldanlagen und Vermögen über verschiedene Währungen zu streuen. Welche wären das konkret?
Eine Streuung über Anlagen aus dem US-Dollarraum, in Schweizer Franken oder die norwegische Krone neben den Vermögenswerten in Euro ist sinnvoll. Auch einen Teil des Vermögens in Gold anzulegen – als Alternativwährung und Versicherung gegen Währungskrisen – hat seine Berechtigung. Sämtliche Geldanlagen im Euro-System zu halten, stellt ein hohes Risiko dar, das Anleger möglichst vermeiden sollten. Grundsätzlich lohnt eine Streuung über mehrere Währungen aber erst für relativ große liquide Vermögen. Wer kann, sollte auch Kontobeziehungen außerhalb des Euroraums unterhalten.
Und was können weniger Betuchte tun? Müssen sie ganz auf Streuung verzichten?
Nein. Diversifikation ist für Kleinsparer genauso wichtig. Das heißt zum Beispiel, nicht all sein Geld in eine Immobilie zu stecken oder mit dem gesamten Wertpapierdepot nur auf den Dax zu setzen. Also breit streuende Fonds. Dabei sollte man allerdings auf die Gebühren achten. Der negative Effekt überteuerter Fonds wird gerne unterschätzt.
Viele haben ihre Ersparnisse in Lebensversicherungen oder Riester-Verträge gesteckt. Was sollten diese Sparer tun?
Sicher kann man niemandem raten, heute noch eine kapitalbildende Lebensversicherung abzuschließen, da die Rendite kaum noch die Inflation ausgleicht und daher langfristig kein Vermögen mehr bildet. Wenn man schon eine oder mehrere solche Versicherungen hat, kommt es meiner Meinung nach darauf an, wie lange sie noch läuft. Wenn man noch 20 Jahre warten muss, bevor der Vertrag das Laufzeitende erreicht, sollte man lieber mit einem kleinen Verlust aussteigen. Wer aber nur unter Verlusten aussteigen kann und schon bald das Ende der Laufzeit erreicht, sollte drinbleiben, auch, wenn es nicht das optimale Anlageprodukt ist.
Die Immobilie als Sachwert gilt vielen als der effektivste Schutz vor Inflation und Währungskrisen.
Eine Immobilie ist kein Fehler, wenn sich nicht Ihr ganzes Vermögens darauf konzentriert. Nichts spricht gegen eine bescheidene, selbst genutzte Immobilie; „Tante Emma ihr klein Häuschen“ dürfte der Staat weitgehend unangetastet lassen. Und bei großen Vermögen spricht nichts gegen eine Beimischung von Immobilien. Das Problem ist, dass die Deutschen entweder gar keine, sondern nur Nominalvermögen wie Sparkonten und Versicherungen oder viel zu viele Immobilien haben. Beides ist gefährlich. Immobilienbesitzer müssen damit rechnen, dass der Staat irgendwann die Abgaben und Steuern auf Immobilienbesitz deutlich erhöht. Immobilienbesitzer können nicht davor wegrennen. Außerdem sind Eigentumswohnungen in guten Lagen schon extrem teuer, was die Gefahr künftiger Preiseinbrüche birgt.
Von anderen Sachwerten wie Oldtimern, Kunst, Wein oder Whisky halten Sie auch nichts?
Viele der Sachwertanlagen sind ebenfalls überteuert. Aber das größte Risiko liegt darin, dass sich diese Gegenstände in einer Notlage nicht schnell zu Geld machen lassen, weil sich für einen vernünftigen Preis kein Käufer findet. Und nach der Bereinigung werden produktive Vermögenswerte gesucht sein. Deshalb kann ich nicht ernsthaft zu Whisky raten, es sei denn, der Anleger möchte ihn trinken.
→ WiWo.de: „Der Wohlstand der Mittelschicht wird sinken“, 3. März 2016