Gespräch mit der Schwä­bischen Zei­tung: Wir zer­stören systema­tisch die Basis unseres Wohl­stands

Dieses Interview erschien in der Schwäbischen Zeitung:

Herr Stelter, wie steht es um Deutschland Ende des Jahres 2023? Machen Sie sich Sorgen?

Wer macht sich heutzutage denn keine Sorgen um Deutschland? Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte, die falschen Prioritäten der jetzigen Politik und das herausfordernde internationale Umfeld haben eine Gemengelage geschaffen, bei der man sich durchaus Sorgen um Deutschland machen muss.

Was läuft alles schief?

Ein sehr gutes, eigentlich schlimmes Beispiel sind die jüngsten Pisa-Ergebnisse. Es gab einmal Zeiten, in denen insbesondere Baden-Württemberg in der Bildung spitze war. Nun hat es den stärksten Absturz unter den Bundesländern zu verzeichnen. Deutschland insgesamt stürzt in Sachen Bildung massiv ab.

Weitere Baustellen?

Wir tun uns sehr schwer mit der Integration der Zuwanderer. Wir haben eine schlechte Infrastruktur, zu viel Bürokratie, zu hohe Energiepreise und viele weitere Probleme. Ganz offensichtlich fehlen uns die Kraft und der Wille, unsere Probleme grundlegend anzugehen.

Wie konnte es so weit kommen – gerade bei der Bildung?

Wir haben in unserem Schulsystem schon lange große Schwierigkeiten damit, Kinder aus bildungsfernen Schichten zu integrieren und zu fördern. Die Antwort der Politik darauf war es, über die Jahre hinweg immer weiter die Leistungsstandards abzusenken. Diese Entwicklung wurde durch die sehr hohe Zuwanderung in den vergangenen zehn Jahren noch beschleunigt. Im Gegensatz zu anderen Ländern verfügen wir über kein Verfahren, mit dem wir uns die Zuwanderer aussuchen. Die Zuwanderer suchen sich vielmehr uns aus. Wenn man auf qualifizierte Zuwanderung achtet, hat man später auch qualifiziertere Kinder und Arbeitskräfte. Wenn man wie wir überwiegend bildungsferne Zuwanderer aufnimmt, potenziert sich das Problem.

Was wäre zu tun?

Wir müssten viel mehr in Bildung investieren. Alle zugewanderten Kinder müssten sofort in den Kindergarten und Deutsch lernen. Das hat man alles nicht getan. Nun sehen wir das Ergebnis dieser Versäumnisse. Diese Fehler sind nur sehr schwer wieder zu korrigieren.

Versteht die Politik den Handlungsbedarf?

Wenn man den Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung liest, werden schon die richtigen Themen angesprochen: Digitalisierung, eine intelligentere Zuwanderung und vieles mehr. Aber die Antworten der Bundesregierung auf diese Herausforderungen sind oftmals viel zu ideologisch. Da heißt es dann, wir müssen mehr umverteilen, die Schulden erhöhen oder die Klimapolitik in einer bestimmten Art und Weise gestalten. Es gibt kaum jemanden, der erkennt, dass Deutschland ein Sanierungsfall ist.

Warum ist das so?

Der Leidensdruck fehlt. Wenn Firmen schließen oder die Produktion aus Deutschland wegverlagern, wird das als nicht so schlimm wahrgenommen, weil durch die Demografie ohnehin ein Mangel an Arbeitskräften herrscht. Das heißt, die Arbeitslosigkeit in Deutschland steigt nicht. Daneben kaschieren wir alle Missstände mit Geld und tun so, als wäre alles fein.

Aber ist die Lage denn so schlimm, wenn die Arbeitslosigkeit gar nicht steigt?

Ja, weil wir uns die Basis unseres Wohlstands systematisch kaputt machen. Ein zentrales Problem ist auch, dass es in der Vergangenheit ja immer irgendwie gutgegangen ist. Wir verkennen aber, dass die Lage dieses Mal eine ganz andere ist als noch vor 20 Jahren. Damals waren die Babyboomer um die 40, jetzt sind sie 60. Das heißt, damals konnten sie richtig anpacken, jetzt stehen sie alle vor dem Ruhestand. Dazu ist der globale Wettbewerb weitaus intensiver geworden.

Leben wir über unseren Verhältnissen?

Wenn man rein auf den Schuldenstand Deutschlands schaut, dann nicht. Wir sind deutlich geringer verschuldet als die meisten unserer europäischen Nachbarn. Aber wir haben große verdeckte Verbindlichkeiten, für die wir nicht vorgesorgt haben: Versprechen für zukünftige Pensionen, für zukünftige Renten, für die zukünftige Gesundheitsversorgung. Wenn man das einrechnet, haben wir in den vergangenen Jahrzehnten deutlich über unseren Verhältnissen gelebt.

Müssen wir jetzt sparen?

Das ist auch nicht sinnvoll. Denn die anderen Länder, mit denen wir unsere Währung teilen, haben noch mehr über ihren Verhältnissen gelebt. Wenn wir jetzt sparen, werden diese Länder trotzdem nicht sparen. Von daher ist es nicht sinnvoll, solide zu haushalten, wenn die anderen – auch die EZB – das Geld weiter raushauen.

Ist das ein Appell, doch die Schuldenbremse zu lockern?

Ja, wir sollten die Schuldenbremse lockern, da im gesamten Euroraum nicht gespart wird. Wer alleine spart, ist der Dumme. Das Bittere dabei ist, die Politik hatte in den vergangenen 20 Jahren genug Geld. Aber sie hat es eben nicht in Digitalisierung, Bildung und Infrastruktur investiert, stattdessen wurde es für Wahlgeschenke und Soziales ausgegeben. Wenn wir uns den Sozialstaat anschauen, haben wir ganz klar über unseren Verhältnissen gelebt – und tun das immer noch. Der Staat muss jetzt vor allem umschichten – weg von Sozialausgaben hin zu wichtigen Investitionen. Das wird aber nicht reichen, weshalb man wohl auch mehr Schulden machen muss.

Wo ist der Haken?

Wenn man der Politik wieder erlaubt, mehr Schulden zu machen, wird sie das Geld vermutlich wieder für die falschen Dinge ausgeben – für soziale Wohltaten und eine wenig sinnvolle Klimapolitik. Sobald wir die Schuldenbremse lockern, werden wir sehen, wie die Politik das Geld erneut verplempert.

Kann sich unser reiches Land nicht höhere Ausgaben leisten?

Wir berauschen uns immer daran, dass wir solch ein reiches Land seien. Die Wahrheit ist aber, wir sind längst nicht so reich, wie wir denken. Wir sind auch nicht so erfolgreich, wie wir denken. In vielen Bereichen stellen wir sogar ein abschreckendes Beispiel für andere Länder dar.

Zum Beispiel?

Unsere Energiepolitik führt zu hohen Stromkosten und einem hohen CO2-Ausstoß, und dies trotz Investitionen von geschätzt 1000 Milliarden Euro. Unsere analoge und digitale Infrastruktur ist in einem schlechten Zustand, trotz Rekordeinnahmen des Staates und Nullzins bis zur Corona-Krise. Unser Bildungssystem schafft zu viele Abgehängte, trotz weit überdurchschnittlicher Bezahlung der Lehrer.

Kürzlich haben Sie gesagt, uns bleiben noch drei Jahre Zeit, Deutschland zu sanieren, um damit den Wohlstand zu retten. Wie meinen Sie das?

Das hat mit der Demografie zu tun. Je näher der Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge rückt, desto schwieriger werden Reformen. Dazu kommt, dass die Industrie, die demnächst wegen der Energiekosten abwandert, nicht mehr zurückkommen wird. Wenn wir das Bildungssystem nicht zügig grundlegend reformieren, haben wir außerdem eine junge Generation, die keinen Beitrag mehr zu einer positiven Wirtschaftsentwicklung leisten kann. Das Zeitfenster ist extrem eng – und es wird sich vermutlich schließen, ohne dass es zu Reformen gekommen ist.

Was heißt das dann für unser Land?

Deutschland wird nicht mit einem großen Knall untergehen. Wir werden vielmehr ein stetiges Siechtum erleben, wie es in Italien seit etwa 20 Jahren der Fall ist – mit kaum Wachstum und einer Abwanderung der gut Ausgebildeten. Unser Wohlstand wird immer weiter sinken. Schon heute sind wir stark abgestürzt – etwa im Vergleich zu den USA. Wir werden in Sachen Wohlstand immer weiter nach hinten durchgereicht. Es gibt eine Studie, die besagt, dass in 20 Jahren – wenn es so weitergeht – der Abstand zwischen uns und den USA so groß sein wird wie heute zwischen uns und Indien.

Könnte eine andere Regierung das besser machen?

Man muss sagen, Kanzlerin Angela Merkel hat schon keinen guten Job gemacht – und die Ampel macht nun alles noch viel schlimmer. Es liegt aber nicht nur an der Politik, sondern auch ein gutes Stück an uns selbst. Wir Bürger lassen das alles so durchgehen, wir nicken es ab. Die Politiker wollen gewählt werden und machen entsprechend wenig sinnvolle Versprechungen – die wir dann glauben.

Sind wir Bürger auch zu faul, zu träge geworden? Wenn man an die Vorstellungen der Generation Z oder auch an die Forderungen so mancher Gewerkschaften denkt …

Träge würde ich nicht unbedingt sagen. Aber viele verkennen, wie schlecht es um unser Land steht und welche enormen Verhaltensänderungen eigentlich notwendig wären, um unseren Wohlstand zu erhalten.

Das Bürgergeld steigt demnächst um satte zwölf Prozent. Viele hart arbeitende Menschen können das nur schwer verstehen. Macht es die Politik nicht viel zu attraktiv, nicht zu arbeiten?

Ja. Wir sollten viel stärkere Anreize setzen, eine Arbeit aufzunehmen. Für das Bürgergeld wird gerne mit dem sozialen Frieden argumentiert. Ich bin eher der Überzeugung, dass es den sozialen Frieden gefährdet, wenn diejenigen, die arbeiten, den Eindruck haben, sie werden weit über Gebühr belastet. Die Politik hat alle sinnvollen Aspekte der Hartz-Reformen von Gerhard Schröder wieder ad acta gelegt – leider.

Was müsste am dringendsten getan werden, um das Ruder noch herumzureißen?

Im Bildungssystem müssen wir die Leistungsstandards anheben – und nicht absenken. Dabei geht es um die „Basic Skills“, also Mathe, Mathe, Mathe und Deutsch, Deutsch, Deutsch. Wir sollten zudem die berufliche Bildung aufwerten. Nicht jeder muss Abitur machen. Wir müssen auch in der Klimapolitik auf Effizienz und Effektivität schauen – und endlich aufhören zu glauben, wir könnten uns alles leisten. Wir müssen die Maßnahmen ergreifen, die auch wirklich etwas bringen.

Des Weiteren müssen wir durch Entbürokratisierung die Rahmenbedingungen verbessern. Für eine neue Regelung müssen fünf alte gestrichen werden. Daneben gilt es, dringend in Infrastruktur und Digitalisierung zu investieren und die Zuwanderung besser zu steuern, sodass qualifizierte Menschen zu uns kommen. Die, die schon hier sind, müssen wir so stark fordern, dass sie auch am Arbeitsmarkt teilnehmen.

Wie sieht Deutschland in fünf Jahren bestenfalls aus?

Im besten Fall haben wir eine Politik, die konsequent Reformen umsetzt. Wir schneiden wieder deutlich besser im Pisa-Ranking ab. Wir haben günstige Energiepreise. Wir haben die Radikalpolitik in der Energieversorgung beendet. Idealerweise laufen wieder zwei, drei Atomkraftwerke. Wir haben massiv in Infrastruktur und Digitalisierung investiert, wir haben entbürokratisiert und die Steuern reformiert – und es so geschafft, wichtige Industrie im Land zu halten.

Und das negative Szenario?

Das wird leider eher eintreten. In diesem Szenario ist nicht viel passiert. Wir haben große Verteilungskonflikte und massive Integrationsprobleme im Land. Einst wichtige Schlüsselindustrien sind nicht mehr vertreten. Deutschland ist dann noch mehr wie Italien geworden – nur ohne die gute Laune der Italiener und ohne gutes Essen, Sonne, Strand und Mittelmeer.

→ schwaebische.de: „Wirtschaftsexperte: Wir zerstören systematisch die Basis unseres Wohlstands“, 28. Dezember 2023