Ge­spräch mit der WELT: Es gäbe einen Hebel, durch den wir Diskus­sionen um die Schulden­bremse beenden könnten

Dieses Interview erschien in der WELT:

WELT: Herr Stelter, seit Ihrem letzten Buch „Ein Traum von einem Land – Deutschland 2040“ sind zweieinhalb Jahre vergangen. Seither folgten zwei Kriegsausbrüche, weitere unkoordinierte Einwanderung, eine Energienotlage und die amtliche Bestätigung des deutschen Bildungsdesasters. Wird für Ihr Ziel langsam die Zeit knapp?

Daniel Stelter: Die Probleme waren damals längst für jedermann offensichtlich, nur niemand wollte es wahrhaben. Und alles, was bis dahin schlecht gelaufen war, ist danach beschleunigt schlecht gelaufen: Migration, das Bildungswesen, unsere Infrastruktur und die Digitalisierung. Hinzugekommen sind Deglobalisierung und Deindustrialisierung, zudem war die Stärkung der Bundeswehr damals noch eine Empfehlung, angesichts der geopolitischen Entwicklung ist sie heute ein Muss. Von daher: Ja, das Zeitfenster hat sich geschlossen, durch Zeitablauf, aber auch durch Änderung der Umfeldbedingungen.

WELT: Was davon kann man der Ampel-Koalition anlasten?

Stelter: Dass die Große Koalition unter Kanzlerin Merkel das Land verwaltet, den Atomausstieg beschlossen, fatale Energiepolitik betrieben und die guten Jahre ungenutzt gelassen hat, um das Land zukunftsfähig zu machen – das ist ja mittlerweile Konsens. Die Ampel hatte insofern schwierige Startbedingungen.

WELT: … aber?

Stelter: Die Frage ist doch: Wie reagiert man darauf? Wirtschaftsminister Habeck hatte die Chance, die Interessen des Landes über die seiner grünen Partei zu stellen und die letzten sechs Atomkraftwerke am Netz zu lassen. Er hätte ja sogar die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich gehabt. Damit hätte er über die Energiekosten zu sinkender Inflation beigetragen – und damit indirekt auch die politische Mitte gestärkt. Wir hätten in der Gasmangellage auch pragmatisch sagen können, wir machen Fracking in Deutschland, auch da gibt es Studien, die besagen, dass das technisch möglich ist.

WELT: Das ifo-Institut verweist darauf, dass es bis zur Förderung bis zu neun Jahre dauern würde.

Stelter: Ich glaube, das ist eine Frage des politischen Willens – wenn wir gewollt hätten, hätten wir das hinbekommen. Was dazukommt, ist, dass trotz des veränderten Umfelds so getan wird, als wären wir ein Land, das im Geld schwimmt, zum Beispiel bei der neuerlichen Erhöhung des Bürgergelds: Da heißt es immer, die Leute haben so wenig Geld …

WELT: Es gibt ja tatsächlich auch die Alleinerziehenden mit zwei Kindern, die nicht arbeiten gehen können, weil sie keine Kita-Plätze finden – und die Inflation lässt sich auch nicht wegdiskutieren.

Stelter: Ja, das Thema ist vielschichtig, aber die gern herangezogene Alleinerziehende ist nicht das wirklich typische Beispiel für die Masse. Und vergessen wir nicht: Bürgergeldempfänger bekommen zusätzlich die Warmmiete bezahlt. Von dem ganzen Ärger und den Sorgen um gestiegene Energiepreise wurden sie komplett freigehalten.

WELT: Die Erhöhung des Bürgergelds hat den Segen des Verfassungsgerichts, da käme die Politik gar nicht heran.

Stelter: Wir müssen das Bürgergeld trotzdem denen vermittelbar machen, die das Ganze erwirtschaften. Dazu brauchen wir einen stärkeren Anreiz zur Aufnahme einer Arbeit – und da bewegt sich Herr Heil ja auch jetzt offenbar endlich. Das betrifft vor allem jene Empfänger, die die deutsche Sprache noch nicht beherrschen. Sie lernen die ja nicht, wenn sie zu Hause bei der Familie sitzen, sondern „on the job“. Die Ampel hat zwar schon ein paar Stellschrauben betätigt, um Arbeit attraktiver zu machen. Aber die Grenzbelastung – also der Anteil eines zusätzlich verdienten Euros, der wieder abgegeben werden müsste –, ist für jemand, der aus dem Bürgergeld in Arbeit kommt, teilweise so hoch, dass es sich für ihn nicht lohnt, zu arbeiten. Deshalb müsste man an die zu hohe Abgabenbelastung in diesem Bereich heran, sodass am Ende jemand von jedem Euro, den er dazuverdient, die Hälfte behält. Und was die Alleinerziehenden angeht: Investieren wir doch in Kita-Plätze statt in Alimentierung.

WELT: Sehen Sie Sparpotenzial bei der Klimapolitik?

Stelter: Die müssten wir in der Tat ganz anders angehen, weil die Art wie wir es machen, einfach komplett ineffektiv und ineffizient ist. Wir müssten uns fragen: Wie viel Geld wollen wir in Deutschland pro Jahr für Klimaschutz ausgeben? Und uns dann für die effizienteste Verwendung dieser Mittel entscheiden. Wir dürften uns ja laut Pariser Klimaschutzabkommen sogar CO₂-Einsparungen, die wir im Ausland erzielen, auch anrechnen.

WELT: Warum tun wir das nicht?

Stelter: Es ist politisch nicht gewollt. Nehmen Sie die 80/20-Regel, das sogenannte Pareto-Prinzip: Demnach kann man den größten Teil einer Aufgabe mit nur wenig Aufwand erledigen: Also 80 Prozent des Ergebnisses mit nur 20 Prozent Aufwand. Erst die übrigen 20 Prozent erfordern den erheblichen Aufwand von 80 Prozent. Das gilt auch beim Kampf gegen Treibhausgase. Wenn wir also helfen, in Indien alte Kohlekraftwerke zu modernisieren, nutzt das dem globalen Klima unendlich viel mehr, als wenn wir hier den Schadstoffausstoß einzelner Gebäude mit hohen Subventionen und riesigem Aufwand minimal verbessern. Und dieses Prinzip gilt auch für den Plan der Politik, dass andere mit unseren Technologien den Kampf gegen den Klimawandel aufnehmen. Das geht am Markt vorbei. Denn was die Welt braucht, sind Technologien für die leichteren 80 Prozent. Und die kommen nicht von uns. Glauben Sie mir: Den Kampf um die schweren letzten 20 Prozent werden wir mit Lösungen führen, die es heute noch gar nicht gibt.

WELT: Die Ampel-Koalition hat sich im Haushaltsstreit geeinigt – und sich gleich vorbehalten, mit Blick auf eine Verschärfung im Ukraine-Krieg doch noch die Notlage auszurufen. Ein Haushaltstrick mit Ansage?

Stelter: „Ein Tag, der zeigt, was diese Regierung leisten kann“, meinte Wirtschaftsminister Habeck nach der Einigung. Die bittere Erkenntnis für uns Bürger ist: offensichtlich nicht viel. Statt bei einem Budget, was relativ zur Wirtschaftsleistung fast 60 Milliarden über dem Niveau von 2019 lag, Prioritäten zu setzen, hat man sich darauf verlegt, Bürger und Wirtschaft noch höher zu belasten. Wenn – wie die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) vorrechnet – die Stromkosten für die Wirtschaft um zehn bis 20 Prozent steigen, darf man sich nicht wundern, wenn die Zukunft für viele Unternehmen im Ausland liegt. Die Hintertür einer weiteren Notlage unterstreicht, wie wenig geeignet die Regierung ist, die Herausforderungen zur Sicherung unseres Wohlstands anzugehen.

WELT: Wie könnte denn bei einer möglichen Reform der Schuldenbremse vermieden werden, dass das Geld, wie schon in den vergangenen zehn, 15 Jahren, wieder überwiegend verkonsumiert statt investiert wird?

Stelter: Wir hätten von 2010 bis zur Corona-Krise problemlos mehr in unser Land investieren können und müssen, ohne dafür Schulden aufzunehmen. Stattdessen wurden die Mittel für mehr Sozialstaat, den Aufbau der Bürokratie und eine Vielzahl politischer Projekte von Migration bis Energiewende verbraucht. Es ist eine Lüge, wenn vom „Kaputtsparen“ geredet wird. Es war bewusste Politik. Es ist doch so: Erweitern wir den Rahmen der Politik, wird sie diesen nutzen – aber nicht unbedingt für echte Investitionen, denn diese waren immer möglich. Dennoch bin ich für eine Reform der Schuldenbremse, allein schon, weil wir eine Währung mit Ländern teilen, die nicht im Traum daran denken, weniger Schulden zu machen. Wer da spart, ist der Dumme. Wir sollten aber über dedizierte Sonderschulden gehen – was heute Sondervermögen genannt wird – und dabei die Mittelverwendung laufend und verbindlich von einer unpolitischen Instanz wie dem Bundesrechnungshof überprüfen lassen. Beim Thema „Transformation“ würde ich Vertreter der Wirtschaft direkt mit einbinden.

WELT: Hat es Deutschland nicht immer wieder geschafft, so etwa alle 20 Jahre mit einer großen Anstrengung zurück nach vorn zu kommen?

Stelter: Das höre ich auch oft. Es lässt sich leider nicht mehr einfach so in die Gegenwart übertragen. Als Schröder die Hartz-Reformen durchgesetzt hat, waren die Babyboomer um die 40, auf der Höhe ihrer Schaffenskraft. Jetzt stehen die alle vor der Rente. Zudem ist der globale Wettbewerb viel intensiver geworden. Und was wir heute an Geschäft nicht mehr haben, das ist weg. Und das kommt auch nicht wieder.

WELT: Was bedeutet das für die deutsche Volkswirtschaft?

Stelter: Es gäbe einen Hebel, wie wir auch die Diskussionen um die Schuldenbremse beenden könnten: Wachstum! Eine solche Politik wird aber bewusst nicht gemacht. Und so rutschen wir langsam abwärts – die Arbeitsbevölkerung schrumpft vor sich hin, die nicht integrierte Jugend wird mit Bürgergeld ruhig gestellt. So kann man die Substanz schon noch ein paar Jahre aufbrauchen, die DDR hat das ja auch über Jahrzehnte geschafft, wenn auch mit Transfers aus dem Westen. Den großen Knall wird es nicht geben.

WELT: Wäre das besser, damit die Probleme den Menschen bewusst werden? Dass wir als Land langsam abrutschen, müsste doch längst jeder in seiner Lebenswirklichkeit wahrnehmen.

Stelter: Solange Probleme nicht benannt werden, weil es den „Falschen“ in die Hände spielen könnte, wird sich das nicht ändern. Ich habe beispielsweise schon 2015 ganz nüchtern eine DIW-Studie analysiert und mit der Empirie verglichen, die auf der Annahme basierte, die Flüchtlinge würden langfristig einen positiven Beitrag für unsere Wirtschaft leisten – mit einem Kostenansatz von null. Ich habe gesagt, das wird uns mindestens 50 Milliarden Euro kosten und bin dafür angefeindet worden. Wir sehen ja jetzt, wo wir stehen.

WELT: Aber es dringt nicht durch. DIW-Chef Marcel Fratzscher war seit Mai 2020 mindestens achtmal bei Markus Lanz zu Gast. Und Sie?

Stelter: Seit März 2021 glaube ich gar nicht mehr.

WELT: Die Sendung, in der Sie von „Staatsversagen“ sprachen und damit eine große Debatte lostraten.

Stelter: Ja. Wobei ich es als witzig in Erinnerung habe, dass ich es ja begründet habe, und alle sind nacheinander meine Gründe durchgegangen und haben mir eigentlich am Ende Punkt für Punkt zugestimmt. Vielleicht hätte ich besser von Politikversagen sprechen sollen.

→ welt.de: „„Es ist eine Lüge, wenn vom ,Kaputtsparen‘ geredet wird. Es war bewusste Politik““, 31. Dezember 2023