Die EU sollte von Polen lernen, nicht von Italien

Nach allen Indikatoren fällt die Europäische Union im internationalen Wettbewerb immer weiter zurück. Seit Jahren wächst der Rückstand des Pro-Kopf-BIPs zwischen der EU und den USA. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, wird die Wohlstandslücke zwischen dem durchschnittlichen Europäer und dem Amerikaner im Jahr 2035 genauso groß sein wie heute zwischen dem durchschnittlichen Europäer und seinem indischen Pendant.

Offiziell, so scheint es, wacht die EU auf. So erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union, dass „Europa alles tun wird, was nötig ist, um seinen Wettbewerbsvorteil zu behalten.“

Leider spricht wenig dafür, dass die EU über entscheidende erhaltenswerte Wettbewerbsvorteile verfügt. Eher geht es darum, Rückstände aufzuholen. Bei keiner der als kritisch angesehenen Zukunftstechnologien von Künstlicher Intelligenz bis Quantencomputer hat Europa eine relevante Stellung.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die EU-Kommission nach dem Italiener Mario Monti, der bereits 2012 Vorschläge zur Reform unterbreitet hat, mit Mario Draghi erneut einen Italiener bittet, Reformvorschläge zu erarbeiten.

Ohne die Qualifikation des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank infrage stellen zu wollen, darf man aufgrund seiner bisherigen Aussagen davon ausgehen, dass mehr finanzielle Mittel für die EU – gern auch auf Pump – eine wesentliche Säule seiner Vorschläge sein werden. Ganz auf der Linie des amtierenden EU-Kommissars für Wirtschaft und Währung, des Italieners Paolo Gentiloni.

Polen konnte BIP deutlich steigern

Dabei sind Zweifel an der Wirksamkeit immer höherer Schulden überaus angebracht. Sind doch nicht jene Staaten besonders erfolgreich, die viele Staatsschulden machen, sondern die, denen es gelingt, ein hohes Wachstum zu erzielen.

Blickt man auf die Entwicklung der EU-Staaten in den letzten 20 Jahren, muss man feststellen: Kein Land hat sich mit Blick auf das BIP pro Kopf so schlecht entwickelt wie Italien. Umgekehrt haben sich einige andere Staaten hervorragend entwickelt, vor allem Irland und Polen.

Zugegeben: Polen ist von einem tieferen Niveau aus gestartet. Dennoch ist der Fortschritt des Landes im europäischen Vergleich beispiellos. Die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung stieg laut Institut der deutschen Wirtschaft (IW) von 1991 bis 2022 auf das Dreieinhalbfache, in Deutschland dagegen nur um 50 Prozent. Polen ist heute die sechstgrößte Volkswirtschaft der EU.

Polnische Bürger haben positive Einstellung zur Marktwirtschaft

Das IW identifiziert als Gründe für diese herausragende Entwicklung die radikal marktwirtschaftlichen Reformen, die Liberalisierung des Bildungswesens mit klarem Fokus auf Qualität – was sich auch in den PISA-Ergebnissen zeigt – und die sehr guten Rahmenbedingungen, die der Staat geschaffen habe. Bei praktisch allen Indikatoren liegt unser östlicher Nachbar mittlerweile vor uns, und man kann sich fragen, ob es noch lange dauert, bis Polen bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf mit Deutschland gleichzieht.

Getragen wird dieser Aufschwung von einer laut Umfragen sehr positiven Einstellung der polnischen Bürger zu Marktwirtschaft, wirtschaftlicher Freiheit und persönlicher Leistung. Im internationalen Vergleich, vor allem mit den anderen Staaten der EU, ragen die Polen damit positiv heraus.

Will die EU sich nun reformieren und für die Zukunft wieder wettbewerbsfähig machen, sollte sie sich also eher auf den Rat jener verlassen, die bewiesen haben, wie man entsprechende Fortschritte macht, statt auf den Rat jener zu hören, die es seit Jahrzehnten nicht geschafft haben, ihr eigenes Land zu modernisieren. Das gilt auch für Deutschland.

→ handelsblatt.com: „Die EU sollte von Polen lernen, nicht von Italien“, 17. Dezember 2023