“Warum Deutschland nicht noch mehr Umverteilung braucht”
Dieser Kommentar erschien bei manager magazin online. Unter anderem geht es darin um die Zuwanderer aus der Türkei, die einem besonders hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind. Passend und mit Blick auf den Blogbeitrag vom letzten Donnerstag an dieser Stelle, in dem es um die Folgen der Zuwanderung auf die jeweiligen Länder ging, (Tenor: es ändern sich beide Gesellschaften) folgende interessante Information zur Abstimmung in der Türkei aus SPIEGEL ONLINE: “Nach vorläufigen Ergebnissen stimmten 63,2 Prozent der in Deutschland lebenden Staatsbürger für die Verfassungsänderung. Nur 36,8 votierten mit Nein, meldet die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. (…) Ganz anders hingegen der Trend in den USA, wo mehr als 80 Prozent mit Nein und damit gegen das Präsidialsystem stimmten. In Chicago, wo bereits alle Stimmen ausgezählt waren, lag die Ablehnung sogar bei knapp 90 Prozent, ebenso in Miami. Auch in Houston und Los Angeles lief es auf ein solches Ergebnis hinaus, in New York, Boston und Washington lagen die Neinsager bei rund 80 Prozent.”
These von bto: Das liegt nicht an der Kampagne der AKP, sondern an der Qualifikation der Zuwanderer. Die Türken in den USA – so die Vermutung – sind besser qualifiziert und deshalb nicht so leicht zu überzeugen. Das ist ein wichtiger Punkt, den man bei der Analyse der Armut in Deutschland im Hinterkopf haben sollte. Dass diese These nicht so falsch ist, ergibt sich aus folgendem Zitat aus ZEIT ONLINE: “Anstatt vorschnell zu urteilen, sollte man genauer untersuchen, wie das Ja unter den Türkeistämmigen in Deutschland zustande gekommen ist. Sie sind in erster Linie Einwanderer aus ländlichen Gebieten der Türkei und deren Nachkommen, die überwiegend einem traditionellen und religiös-konservativen Milieu entstammen.” – bto: Das ist die Folge unserer Zuwanderungspolitik.
Doch nun zu meinem mm-Kommentar:
Soziale Gerechtigkeit wird das Thema der Bundestagswahl 2017. Doch wer würde eigentlich von mehr Umverteilung profitieren? Überwiegend Zuwanderer, die schon heute deutlich besser in Deutschland leben als in ihren Heimatländern. Wir brauchen klügere Lösungen.
Eigentlich hätte es so gut für Martin Schulz laufen können. Pünktlich zum Wahlkampf liefert ihm das von Parteifreundin Andrea Nahles geführte Sozialministerium den Beweis für seine These des “ungerechten Landes”. Nun kann mit voller Kraft ein Gerechtigkeitswahlkampf geführt werden, der die SPD zu alter Stärke und Martin Schulz in das Kanzleramt führen soll.
Dumm nur, dass uns die OECD zeitgleich vorrechnet, wie wir vom Staat ausgenommen werden. Die Abgabenbelastung in Deutschland ist die zweithöchste aller OECD-Länder. Da ist es nicht leicht, für mehr Abgaben und Umverteilung zu werben.
Dabei hat die SPD erhebliche Mitschuld an der hohen Belastung. Großzügige Rentengeschenke haben in den letzten Jahren eine Beitragssenkung verhindert. Rechnet man noch die hohen Strompreise dank Energiewende und die vielen weiteren Abgaben hinzu, dürften einige von uns direkt und indirekt 70 Prozent ihres Einkommens an den Staat abführen.
Als “arm” gilt üblicherweise, wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verdient. Ich will jetzt gar nicht auf die Sinnhaftigkeit dieser Definition eingehen, wären doch selbst nach einer Verdoppelung aller Einkommen in Deutschland immer noch genauso viele Menschen “arm”.
Ich frage mich nur, wie der bedauerte Zuwachs der Armut in Deutschland zu anderen Zahlen der OECD passt, die zeigen, dass Deutschland eines der Länder mit der geringsten Einkommensungleichheit ist und das Land mit dem geringsten Armutsrisiko. Außerdem sind die verfügbaren Einkommen der ärmsten zehn Prozent zwischen 2007 und 2014 laut OECD schneller gewachsen als das Medianeinkommen.
Die Ungleichheit hätte demnach abgenommen, was übrigens angesichts des Aufschwungs am Arbeitsmarkt ebenfalls nicht überraschen kann. Aufgrund dieser Verbesserung in den letzten Jahren wird von der Politik flugs ein längerer Zeitraum in den Vordergrund gestellt, um so doch noch zu dem gewünschten medialen Spin zu kommen. Eben dem Problem der Ungleichheit.
Die Armut wird deutlich steigen
Nehmen wir die Zahlen einmal, wie sie präsentiert werden, und schauen etwas genauer auf die Komponenten. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes ist die Armutsquote – definiert als weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens – in den letzten Jahren gestiegen. Von 10,8 Prozent (1995) auf 12,6 (2005) und 13,9 (2014). Dabei sind unterschiedliche Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich vom Armutsrisiko getroffen:
- Bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund liegt das Risiko demnach bei 11,3 Prozent.
- Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist das Risiko deutlich höher. Menschen mit “direktem Migrationshintergrund” haben ein Risiko von 22,2 Prozent, jene mit “indirektem” (also Nachkommen von nach Deutschland eingewanderten Menschen) immer noch ein Risiko von 16,1 Prozent.
Legt man die Bevölkerungsanteile im Schnitt der Jahre 2012 bis 2014 zugrunde, waren rund 6,8 Millionen Deutsche ohne Migrationshintergrund vom Armutsrisiko betroffen, 2,35 Millionen Menschen mit direktem Migrationshintergrund und 1,65 Millionen mit indirektem.
Leider finden sich solche Berechnungen nicht in den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes, weshalb der tatsächliche Anteil des Einflusses der Bevölkerungszusammensetzung nur vermutet werden kann.
Sicher ist aber: Angesichts der demografischen Entwicklung ist mit einer deutlichen Zunahme der Armut in Deutschland zu rechnen. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund wächst deutlich in den kommenden Jahrzehnten. Bei den unter 20-Jährigen lag er schon vor der Zuwanderungswelle des Jahres 2015 bei rund 25 Prozent.
Zählt man die letzte Migrationswelle inklusive des Familiennachzugs mit ein, dürfte der Anteil an der Alterskohorte nochmals deutlich steigen. Und damit auch die Armut in Deutschland. Die Mehrheit der armutsgefährdeten Menschen wird schon 2018 einen Migrationshintergrund haben.
Wie wir die Armut besser bekämpfen können
Andere Studien gehen noch tiefer auf die einzelnen Personengruppen ein. Demnach haben Zuwanderer aus den Mitgliedsstaaten der EU-15 (das waren die Länder, die in der EU waren, bevor es zur Erweiterung der EU um 10 Staaten im Jahr 2004 kam,) ein deutlich geringeres Armutsrisiko als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Dies dürfte an der Qualifikation dieser Zuwanderer und der problemlosen Integration liegen. Danach folgt die Gruppe der Spätaussiedler und ihrer Nachkommen, die mit 18,1 Prozent bereits ein höheres Armutsrisiko hat.
Deutlich höhere Armutsgefährdungsquoten weisen Personen aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten (also 2004 oder später beigetreten) mit 24,1 Prozent, Personen aus den Gastarbeiter-Anwerbeländern (30,2 Prozent) und Personen aus Drittstaaten (36,1 Prozent) auf. Steigt also der Anteil der letzten drei Gruppen an den Migranten, wächst die Gesamt-Armutsquote ebenfalls überproportional.
Herausstechend ist das erhebliche Armutsrisiko der hier lebenden 2,9 Millionen türkischstämmigen Menschen: Immerhin 36 Prozent gelten als armutsgefährdet. Jeder Zehnte von Armut bedrohte hat damit türkische Wurzeln.
Wir brauchen eine andere Armutsdefinition
Alle Zuwanderer verdienen dabei deutlich mehr als sie zuvor in ihren Heimatländern verdient haben. Auch die Transferempfänger dürften sich in Deutschland deutlich besserstellen als in ihren Herkunftsländern. So liegt das Bruttonationaleinkommen pro Einwohner in der Türkei bei 9.950 US-Dollar pro Jahr, in Deutschland bei 45.790. Selbst um unterschiedliche Lebenshaltungskosten bereinigt, dürfte ein Zuwanderer in Deutschland finanziell deutlich besser leben, als in seinem Heimatland – unabhängig davon ob er erwerbstätig ist oder nicht.
Somit stellt sich die Frage, ob wir mit einer Armutsdefinition, die sich an einer Grenze von 60 Prozent des Median orientiert, auf dem richtigen Weg sind. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund wächst in den kommenden Jahren deutlich an, dabei überproportional aus jenen Regionen, die schon heute eine geringere Erwerbsbeteiligung haben und geringere Löhne erzielen als andere Gruppen der Bevölkerung. Verglichen mit der Lage in ihren Heimatländern erleben diese Menschen eine deutliche finanzielle Verbesserung, so dass sie sich selbst wohl kaum als “ärmer” definieren dürften.
Im Gegenteil besteht angesichts der Großzügigkeit unseres Sozialstaats die ernste Gefahr, die falschen Migrationsanreize zu setzen und nicht die Leistungsträger der Welt anzulocken, sondern jene, die eher auf die soziale Absicherung achten. Doch genau diese Zuwanderer kann unsere hoch entwickelte Industriegesellschaft mit Blick auf den anstehenden demografischen Wandel nicht gebrauchen.
Wir brauchen also nicht mehr Umverteilung, um eine “Ungerechtigkeit” zu bekämpfen, die aus der Tatsache rührt, dass wir überwiegend Zuwanderer haben, die eine geringere Erwerbsbeteiligung und tiefere Löhne haben als die schon hier lebende Bevölkerung. Wer wirklich die statistische Armut bekämpfen will, muss an den Ursachen ansetzen:
- Die Zuwanderung an den Bedürfnissen unserer Wirtschaft orientieren, durch eine Auswahl nach Qualifikation.
- Das Bildungsniveau der hier lebenden Menschen mit Migrationshintergrund deutlich steigern.
- In den Heimatregionen der Zuwanderer helfen, was deutlich besser und günstiger ist, als hier in Deutschland.
Auf den Wahlkampf bezogen, muss man feststellen, dass die SPD auf das falsche Pferd setzt. Nach der Wahl im Saarland stellte sich heraus, dass immerhin 60 Prozent der Wähler finden, dass es in Deutschland “alles in allem gerecht” zugeht. Ist es da wirklich die richtige Nachricht nach mehr Umverteilung zu rufen – vor allem wenn ein immer größerer Teil der Begünstigten schon heute hier deutlich besser lebt als in ihren Herkunftsländern?
→ manager-magazin.de: “Warum Deutschland nicht noch mehr Umverteilung braucht”, 13. April 2017
→ SPIEGEL.de: “63 Prozent der Türken in Deutschland stimmten für Erdogans Reform”, 16. April 2017