Sehen wir 666 im S&P je wieder?

Dieser Kommentar von mir erschien bei der WirtschaftsWoche:

Den Finanzkrisen-Crash von 2009 haben Anleger längst verdaut. Neue Analysen zeigen jedoch, dass China und die Notenbanken die Weltwirtschaft zu früh retteten. Warum neue Tiefpunkte an der Börse noch immer möglich sind.

In der kommenden Woche nähert sich ein denkwürdiges Jubiläum. Am 6. März 2009 erreichte der S&P 500 seinen letzten Tiefpunkt. Am Nachmittag dieses Freitags fiel der amerikanische Leitindex S&P 500 auf das Niveau von 666 Punkten. Keine 18 Monate zuvor hatte er noch bei über 1500 Punkten notiert. Die Finanzkrise wütete und ich erinnere mich noch sehr gut an die damaligen Diskussionen, die um die Frage kreisten, ob es den Regierungen und Notenbanken gelingen würde, eine neue große Depression zu verhindern. Immerhin war der Absturz nach allen Maßstäben dramatischer als 80 Jahre zuvor. Obwohl die US-Börse schon mehr als 57 Prozent vom Höchststand eingebüßt hatte, genügte viel Mut dazu, zuzugreifen.

Wer es an diesem Tag wagte, in den Aktienmarkt zu gehen, der wurde reichlich belohnt. Seither hat die US-Börse um 320 Prozent zugelegt, was die Korrektur im letzten Quartal 2018 in anderem Licht erscheinen lässt. Für Aktionäre waren die letzten zehn Jahre sehr erfreulich, dürften die Erträge doch wenn man die Dividenden mit einrechnet, deutlich über 400 Prozent liegen.

Frühe Wende

Rückblickend ist es leicht, Wendepunkte an den Märkten zu identifizieren. Wenn man mitten im Getümmel ist, fällt dies schon deutlich schwerer. Vor allem deshalb, weil wirkliche Tiefpunkte an den Börsen selten sind. In den USA gab es im letzten Jahrhundert vier solche Wendepunkte: 1921, 1933, 1949 und 1982. Schaut man sich diese Wendepunkte genauer an, stellt man fest, dass es vor zehn Jahren kein wirklicher Tiefpunkt gewesen sein muss.

Der Analyst Russell Napier hat dies in einem interessanten Buch analysiert. Demnach herrscht an den Tiefpunkten der Bärenmärkte eine schlechte Stimmung, was man mit Sicherheit für 2009 feststellen kann. Die Nachrichtenlage war sehr schlecht und Umfragen unter Investoren ergaben eine Skepsis, wie noch nie zuvor. Der Kassenbestand der Investoren war sehr hoch, viele hatten sich nach den dramatischen Verlusten aus dem Markt zurückgezogen. Die britische FINANCIAL TIMES begann mit einer neuen Serie zur „Zukunft des Kapitalismus“ und es stand in der Tat zu befürchten, dass die Krise außer Kontrolle geraten würde. So gesehen die typischen Merkmale für einen Tiefpunkt.

Andererseits habe ich auch immer wieder diskutiert, wie wichtig nicht nur die Stimmung, sondern auch die fundamentalen Faktoren bei der Bewertung der Märkte sind. Hier zeigt sich, dass 2009 mitnichten die Kriterien eines Wendepunktes im Bärenmarkt markiert, zumindest wenn man sich an den historischen Beispielen orientiert. So war der Markt, gemessen an Indikatoren wie dem Shiller-PE, das einen rollierenden Durchschnitt vergangener Gewinne heranzieht und Tobins Q, welches den Marktwert in Relation zu den Wiederbeschaffungskosten der Vermögenswerte stellt, zwar günstiger als im Durchschnitt der vorangegangenen Jahre, aber weit davon entfernt, billig zu sein. Das Shiller-PE war im März 2009 zwar unter 12 gefallen und damit so tief wie seit 1986 nicht mehr. Die anderen Tiefpunkte waren bei Bewertungen von 5,2 (1921), 7,8 (1933), 9,1 (1949) und 6,7 (1982). So gesehen, hatte der S&P 500 aus Sicht jener, die mit einem ausgeprägteren Bärenmarkt rechneten, noch einige Luft nach unten.

China und die Notenbanken

Dass es nicht so weit gekommen ist, liegt an zwei wesentlichen Faktoren. Zum einen hat China ein Konjunkturprogramm historischen Ausmaßes aufgelegt und mindestens 500 Milliarden US-Dollar in die eigene Wirtschaft gepumpt. Großzügige Kreditvergabe und massive Investitionen in die Infrastruktur des Landes verhinderten nicht nur eine auch politisch gefährliche Krise im eigenen Land, sondern rettete die ganze Weltwirtschaft, die schon damals unter enormen Schulden litt. Man kann es nicht anders sagen, die Führung in China hat die damals noch freie Verschuldungskapazität des Landes genutzt, um der Welt eine erneute Große Depression zu ersparen.

Die anderen Retter der Welt waren die Notenbanken. Zwar tragen sie, wie an dieser Stelle mehr als einmal erklärt, erhebliche Mitschuld an der Überschuldungssituation, in der wir uns immer mehr befinden, doch war es 2009 sicherlich richtig, die Politik des billigen Geldes noch aggressiver fortzusetzen. So senkte die Fed die Zinsen auf 0,25 Prozent und die Bank of England beschloss am 6. März 2009 mit Quantitative Easing zu beginnen, also dem direkten Aufkauf von Wertpapieren. Die in Japan schon (erfolgreich?) befolgte Strategie wurde rasch auch in den USA und in Europa erst nach einigen weiteren Krisenrunden von der ECB verfolgt. Theoretisch sollte so der Politik Zeit gekauft werden, die Grundursachen von Finanz- und Eurokrise anzugehen. Das Komplettversagen der Politiker, dies in den letzten zehn Jahren getan zu haben, wird sich in der nächsten Rezession bitter rächen.

China und die Notenbanken haben also die Börsen früher gerettet als zu anderen Zeitpunkten. Die Frage ist nur, war es das schon?

Sag niemals nie?

Skeptiker wie Russel Napier sagen: nein. Wir haben zwar einen Bullenmarkt, der kurz davor ist, der längste der Geschichte zu werden. Aber es ist nicht ausgemacht, dass wir nicht doch noch einen wirklichen Tiefpunkt an der Wall Street erleben. Das Shiller-PE liegt zurzeit wieder auf einem Blasenniveau von rund 30, tiefer als im Jahr 2000, aber nicht wesentlich unter dem Niveau von 1929. (Die Daten finden sich übrigens alle im Internet). Dies alles in einem Umfeld, in dem alles optimal verläuft: Die Steuersenkungen Donald Trumps treiben die Unternehmensgewinne, die Unternehmen nutzen den Cashflow für den Aufkauf eigener Aktien und für Übernahmen, die Zinsen scheinen nun doch nicht zu steigen und selbst im Handelskonflikt mit China deutet sich eine Lösung an.

Nun mag das tiefe Zinsniveau höhere Bewertungen rechtfertigen, wie einige Beobachter anmerken. Andererseits sind die tiefen Zinsen eben auch das untrügliche Zeichen, dass etwas nicht stimmt mit der Wirtschaft. Entweder signalisieren sie langfristig geringere Wachstumsraten, was wiederum für weniger Gewinnwachstum und damit tiefere Bewertungen spräche. Oder aber die Zinsen sind so tief, weil sonst die Illusion nicht mehr aufrechterhalten werden kann, die angehäuften Schulden würden ordnungsgemäß bedient. Zombie-Banken und -Unternehmen können nur zu Tiefstzinsen am Leben bleiben.

 Angemessen wäre in einem solchen Umfeld wohl eher ein Shiller-PE von 15, was locker einer Halbierung der Kurse an der Wall Street entspräche. Billig wären Aktien wohl erst, wenn wir sie zu einem Shiller-PE von 10 kaufen könnten. Luft nach unten aus Sicht jener, die mit fundamentalen Bewertungen argumentieren. So oder so ist unstrittig, dass, wer auf heutigem Niveau kauft, auf Sicht von zehn Jahren nur maue Renditen erwarten darf.

Goldilocks – wie lange noch?

Börsianer sprechen von einem Goldilocks- Umfeld, wenn man auf die US-Märkte blickt. Die Konjunktur ist immer noch gut genug, um die Unternehmensgewinne nicht zu gefährden. Die Zinsen bleiben tief genug, um die aufgehäuften Schuldenberge nicht zu einer zu großen Last werden zu lassen. Doch fragt sich, wie lange dieses Szenario noch glaubhaft bleibt. In den USA laufen die Effekte der Steuersenkungen aus – die ohnehin enttäuschend waren, weil die Unternehmen nicht investiert haben – während die Konsumnachfrage zuletzt deutlich zurückging. Vorlaufende Indikatoren zeigen eine deutliche Abschwächung der Konjunktur. Erste Stimmen werden laut, die fordern, dass die Fed nicht nur aufhört, die Zinsen zu erhöhen, sondern dazu übergeht, sie zu senken, um eine Rezession noch zu verhindern.

In China belasten zeitgleich die Bemühungen, das Schuldenmonster unter Kontrolle zu bringen, die Konjunktur. Zwar steuert die Regierung gegen und setzt seit Anfang des Jahres wieder auf deutliches Kreditwachstum. Nach dem Schuldenboom der letzten Jahre hat die Wirkung neuer Kredite auf die Realwirtschaft jedoch auch in China deutlich nachgelassen und es ist wie in den westlichen Industrieländern fraglich, ob die Strategie der Bekämpfung einer durch zu hohe Schulden ausgelösten Krise durch noch mehr Schulden dauerhaft funktionieren kann.

Bei uns in Europa leisten wir uns derweil ein gefährliches Theater um den Brexit, zunehmende politische Spannungen in der EU und eine Eurozone, die die letzte Krise noch gar nicht richtig überwunden hat und auf eine neue Rezession zusteuert. Italien dürfte bereits wieder in der Rezession stecken.

Nicht das Umfeld, in dem man auf große Gewinne setzen sollte. Besser an der bewährten Strategie der Diversifikation über Assetklassen (Liquidität/Anleihen, Aktien, Immobilien, Gold) und Regionen (wichtig: nicht zu viel in Europa!) festhalten und sich auf turbulente Monate einstellen. 666 Punkte werden wir wohl nicht mehr wiedersehen. Aber wer mag 1500 ausschließen angesichts des Umfelds, in dem wir uns befinden?

→ wiwo.de: “Die Finanzkrise war noch nicht der Tiefpunkt”, 28. Februar 2019