„China vor der Schulden-Mauer“

Dieser Beitrag erschien bereits im Juli 2014 bei manager magazin online. Er hat nichts an Aktualität verloren:

Die Verschuldung Chinas ist auf einen neuen Rekordwert gestiegen: 251 Prozent des BIP, noch 2008 waren es 147 Prozent. Damit liegt China auf einem Niveau mit den westlichen Industrieländern und deutlich über dem Wert anderer Schwellenländer. „China hat sich verschuldet, bevor es reich wurde“, zitiert die Financial Times einen Analysten. Dabei gibt vor allem das Tempo Anlass zur Sorge, also der rasche Anstieg der Schulden.

Schon vor einiger Zeit habe ich in diesem Zusammenhang von der chinesischen Schuldenwirtschaft nach westlichem Vorbild gesprochen. Allen Beteuerungen zum Trotz wachsen die Schulden weiter. Zu groß sind die Sorgen, dass Wirtschaftswachstum weiter zu belasten. Doch ein immer größerer Anteil der neuen Kredite dient nur noch dazu, bestehende Kredite zu bedienen. Die Erfahrung anderer Länder lehrt, dass erhebliche Fehlinvestitionen die Folge sind. Ein Blick auf die Geisterstädte in China scheint diesen Punkt zu bestätigen. 

Aufgeblähter Bausektor

Dem Bausektor kommt mit einem Anteil von 13 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) eine erhebliche Bedeutung zu. Zählt man die von der Bauwirtschaft abhängenden Sektoren wie Stahl und Baumaterialien hinzu, liegt der Wert sogar bei 16 Prozent des BIP beziehungsweise einem Drittel des gesamten Investitionsvolumens. Die Financial Times schätzte den Anteil des chinesischen BIP, der letztes Jahr mit dem Bau, Verkauf und der Ausstattung von Wohnungen generiert wurde, gar auf 23 Prozent. Das liegt deutlich über dem vergleichbaren Wert zum Höhepunkt der Blase in den USA, Irland oder Spanien.

Damit ist die chinesische Bauwirtschaft, wie George Magnus, ein ausgewiesener Chinaexperte, in einem Beitrag für die FT feststellt, das Rückgrat der Weltwirtschaft: Treiber der Entwicklung in China und damit Stütze der Rohstofflieferanten von Australien bis Peru.

Nun droht das Ende des 15-jährigen Immobilienbooms. Alle Indikatoren weisen auf ein Platzen der Blase in China hin. Verglichen mit dem Vorjahreszeitraum ist das Volumen an verkauften Wohnungen in den ersten vier Monaten des Jahres um 7,8 Prozent gefallen. Im gleichen Zeitraum gingen die Baubeginne um 22,1 Prozent zurück.

Der Bestand an unverkauften Wohnungen wächst ständig, derzeit liegt das Überangebot im Durchschnitt in den Städten bei rund 20 Prozent. Damit wachsen die Risiken im Bankensystem: Schließlich sind rund 50 Prozent der Ausleihungen mit Immobilien besichert. Zusätzliche Risiken erwachsen aus den Aktivitäten im „Shadow Banking“, die immerhin 6 Billionen US-Dollar und damit die Hälfte des chinesischen BIP ausmachen.

Entgegen den offiziellen Aussagen greift die Regierung bereits ein, um die Wirtschaft zu stabilisieren und den Immobiliensektor aufzufangen. Der Grund liegt auf der Hand: Wenn sich das Wachstum des Sektors von 20 auf 10 Prozent halbiert, fällt die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate auf 2 Prozent. Ein deutlicher Rückgang gegenüber den soeben vermeldeten 7,5 Prozent.

Weltweite Konsequenzen

Eine Abschwächung der chinesischen Wirtschaft hätte erhebliche Folgen für die Weltwirtschaft. In China selbst würde das Bankensystem in eine Schieflage kommen, und die Überschuldung der Lokalregierungen – die sich zu einem guten Teil aus den Einnahmen aus dem Immobilienmarkt finanzieren – würde offen zu Tage treten. International würden die Rohstofflieferanten ihren wichtigsten Kunden verlieren, das weltweite Wachstum käme ins Stottern. 

Schlimmer würde sich die dann zu erwartende stärkere Orientierung Chinas auf den Export auswirken. Über die bereits begonnene Abwertung des Yuan würde China nicht nur den internationalen Währungskrieg weiter anheizen, sondern zusätzlich den bereits vorhandenen deflationären Druck erhöhen. Mit fatalen Wirkungen gerade auch für die überschuldeten Nationen Europas. In einem Umfeld fallender Preise wird die Bedienung der Schulden noch schwerer.

Letztlich wird auch China – wie Europa! – nicht darum herumkommen, die faulen Schulden abzuschreiben. Dabei wird es auch darum gehen, den Schaden zu verteilen. Wie der in China lehrende Michael Pettis in seinem Blog ausführt, wird dies nicht so einfach sein, wie westliche Beobachter gemeinhin glauben. Werden die privaten Haushalte weiter belastet, verhindert dies das eigentlich beabsichtigte Re-Balancierung der chinesischen Wirtschaft: weniger Investition und Export, mehr Konsum.

Eine Belastung der privaten Unternehmen würde diese erneut schwächen, kann also nicht im Interesse der Politik sein. Verbleibt der Staatssektor, der zwar vordergründig über erhebliche finanzielle Reserven verfügt. Diese aber – siehe Währungsreserven – nur über längere Zeit und dosiert nutzen kann. Die erforderlichen Reformen dürften auf erheblichen Wiederstand treffen. So schmerzfrei, wie es die Optimisten erwarten, dürfte die Bewältigung der Schuldenkrise und Immobilienblase für China also nicht sein.

Zusätzlich erschwert wird die Anpassung dadurch, dass in China – wie auch in Japan Ende der 1980er Jahre – die Erwerbsbevölkerung ihren Höchststand erreicht hat und zu schrumpfen beginnt. Für 2030 wird erwartet, dass China bis zu 140 Millionen Arbeitskräfte fehlen. Seit 1949 hat sich die Lebenserwartung in China von 35 auf 75 Jahre mehr als verdoppelt.

Zeitgleich ist die Geburtenrate auf unter 1,5 Kinder/Frau gesunken. Nur leicht über dem Niveau in Deutschland übrigens. Die Präferenz für Jungen hat dazu geführt, dass auf 6 Jungs 5 Mädchen kommen, was angesichts der absolut großen Zahlen dazu führt, dass in den nächsten zwei Jahrzehnten Millionen chinesische Männer keine Chance haben, eine Frau zu finden. Dies wird zu erheblichen sozialen Problemen führen.

Die unsichtbare Mauer durchbrechen

Weniger Arbeitskräfte bedeuten weniger Wirtschaftswachstum, außer es gelingt, dass BIP/Kopf deutlich zu steigern. Dazu muss China die „unsichtbare Mauer“ überwinden. Diese liegt zwischen 10 000 und 17 000 US-Dollar BIP pro Kopf. Nur Japan und Südkorea ist es in den letzten hundert Jahren gelungen, diese magische Grenze nach oben zu durchbrechen und von einem Schwellenland zu einer Industrienation zu werden. 

Andere wie Argentinien und die ehemalige Sowjetunion sind an der Mauer abgeprallt und wieder zurückgefallen. Ursache: Bis zur Wachstumsmauer haben eher autokratisch geprägte Wirtschaftssysteme einen Vorteil. Um aber das neue Niveau zu erreichen, sind die Sicherung von Eigentumsrechten, Rechtsstaatlichkeit und die Förderung von Innovation und Kreativität – was wiederum stark mit persönlicher Freiheit verbunden ist – wichtige Voraussetzungen.

Laut IWF könnte China, wenn es entsprechende Reformen angeht, bis 2030 auf 40 Prozent des BIP/Kopf der USA kommen. Ohne Reformen sind nur 25 Prozent realistisch. China liegt heute auf einem Niveau von 20 Prozent. Dazu muss Kapital in innovative und kreative Bereiche fließen. Genau das passiert jedoch nicht. 90 Prozent der neuen Kredite gehen an die Staatsunternehmen (SOEs) obwohl diese nur gut 30 Prozent des BIP erwirtschaften. Sie sind zudem chronisch unprofitabel. Die staatlichen Banken leihen kleinen Unternehmen, die eher Innovationsmotor sein könnten, nur selten Geld.

Grundlegende Reformen sind notwendig, damit China einen innovativen Privatsektor entwickelt. Die Banken müssen frei werden in ihrer Kreditvergabe, die Migration innerhalb des Landes muss leichter möglich sein und nicht zuletzt bleibt die Frage, ob Kreativität und Innovation bei strikter Zensur funktionieren können. Mit Blick auf die zunehmende Einschränkung von Internet, Medien, Wissenschaft und Forschung, scheint die Führung der kommunistischen Partei jedoch den Schluss gezogen zu haben, dass zu viel an Freiheit die eigene Machtbasis gefährdet. Dies wären keine guten Nachrichten für Unternehmertum und Innovation.

Es gibt aber durchaus ermutigende Zeichen. So die Beschlüsse des letzten Parteikongresses, die durchaus das Potential haben, den enormen Wandel, vor dem das Land steht, zu gestalten. Gerade die Möglichkeit der Landbevölkerung, Land zu beleihen und zu veräußern – also klassische Eigentumsrechte als Grundlage jeder dynamischen Volkswirtschaft wahrzunehmen – wird eine ungeahnte Dynamik auslösen.

Historische Vorbilder

Der Abgesang auf China ist so alt wie die wirtschaftliche Aufholjagd. Und jedes Mal hat China den Zweiflern gezeigt, dass sie Unrecht haben. Ungebremst von Russlandkrise, Asienkrise, Dotcom-Bubble oder Finanzkrise hat es China geschafft, nachhaltig hohe Wachstumsraten zu erzielen und zur Fabrik der Welt zu werden. Doch kann man aus dieser Historie wirklich ableiten, dass jegliche Zweifel unangebracht sind? Darf man wirklich mit Blick auf das enorme Auslandsvermögen davon ausgehen, dass die Regierung immer und für wirklich alle Fälle genügend Munition hat, jedes Problem zu lösen? Vielleicht doch nicht.

Der Wandlungsprozess vor dem China steht, ist nicht einmalig. Die USA in den 1920er und Japan in den 1980er Jahren waren ebenfalls erfolgreiche Volkswirtschaften, die nach einer langen Phase des Booms über Investitionen und Exporte das Geschäftsmodell ändern mussten. In beiden Fällen kam es zu einem deutlichen Anstieg der Verschuldung, die schließlich in einer Überschuldungskrise mündete: der großen Depression und den verlorenen Jahrzehnten. In beiden Fällen haben die Verantwortlichen den erforderlichen Anpassungsbedarf unterschätzt und erst die Krise führte zu den schwierigen Anpassungsprozessen. 

Im China von heute wird es vor allem darum gehen, dass die derzeit Privilegierten relative Wohlstandsverluste hinnehmen müssen. Ihr Einfluss und ihr Vermögen werden schrumpfen zugunsten einer Stärkung von Privatunternehmen und Konsumenten. Es ist zu hoffen, dass die chinesische Führung den Übergang besser bewältigt, als die USA und Japan in der Vergangenheit. Nicht nur im chinesischen Interesse.

manager magazin.de: „China vor der Schulden-Mauer“, 25. Juli 2014