Niedrigzinsen: Die Badewannen-Theorie springt zu kurz
Man schreibt mir: „Ich habe gerade einen (aus meiner Sicht schlechten) Artikel im SPIEGEL über den Zusammenhang zwischen EZB Zinspolitik und Anlageverhalten der hiesigen Bevölkerung gelesen. Richtig ist, dass man hierzulande viel zu defensiv anlegt. (Sie haben es unverblümter ausgedrückt.) Dennoch denke ich, dass die Kritik im Artikel grob unzutreffend ist. Zuerst einmal muss man doch die ganze Eurozone betrachten, nicht ein Land. EZB-Europa versinkt in Schulden. Der Zinssatz sollte Risiken für den Gläubiger widerspiegeln und höhere Schulden (=ceteris paribus, größeres Ausfallrisiko) gehen mit höheren Zinsen einher. Zweitens spricht der Autor von der Risiko-Rendite Relation, verzerrt sie jedoch komplett. Was wir derzeit erleben, ist nahezu null Rendite bei hohem Risiko. Oder hält jemand Italien und andere EU-Länder für sichere Häfen? Ich finde diesen Artikel tendenziös und einen Versuch, die Zinsmanipulation durch die EZB der breiten Bevölkerung in die Schuhe zu schieben.“
Dann schauen wir uns den Artikel doch einmal an:
- „Hans-Peter Friedrich ist offenbar Fan der Helikopter-Meinung. Recht wahllos wirft der CSU-Politiker in den Redaktionen dieses Landes seine Ansichten zu allen erdenklichen politischen Themen ab – mal kritisiert der ehemalige Innen- und Agrarminister die Türkei, dann rät er der eigenen Kanzlerin zum Parteiaustritt oder lässt die Welt seine Meinung zu Mario Draghi wissen. Der EZB-Chef, sagte Friedrich kürzlich der ‚Bild‘-Zeitung, sei schuld an einem ‚massiven Glaubwürdigkeitsverlust‘ seiner Bank und müsse schnellstmöglich durch einen Deutschen ersetzt werden, ‚der sich der Tradition der Währungsstabilität der deutschen Bundesbank verpflichtet fühlt.‘“ – bto: Wie wenig ich von den Vorstellungen der CSU halte, habe ich hier beschrieben. Auch ein Deutscher wäre nicht in der Lage eine andere Geldpolitik zu fahren.
- „Dass der Helikopter-Vorschlag überhaupt ernsthaft diskutiert wird, zeigt auch, wie verzweifelt die EZB inzwischen ist. Trotz Nullzinsen mäandert die Inflation seit Monaten um den Nullpunkt. Auch für einen deutschen EZB-Chef wäre das Zweiprozentinflationsziel die oberste Maßgabe – mit Zinserhöhungen, die das Geld verknappen, würde er sich noch weiter davon entfernen. Ein Dilemma.“ – bto: Soweit stimme ich auch zu, wobei der Autor mit keinem Wort erwähnt, dass es auch wegen der Überschuldung ein Problem ist.
- „Bedanken könnte er sich dafür bei seinen Landsleuten: Die Bundesregierung strebt Haushaltsüberschüsse an, statt via Staatsanleihen die Ersparnisse ihrer Bürger in Straßen und Hochschulen zu investieren. Auch deutsche Unternehmen leihen sich weniger Geld als noch vor einem Jahr, während die Kreditnachfrage im Rest der Eurozone steigt.“ – bto: Es ist, wie ich geschrieben habe, Irrsinn, zu sparen, wenn die Ersparnisse dann im Ausland verloren gehen. Genau das machen wir gerade. Allerdings ist es nur bedingt gut, dass die Krisenländer wieder mehr Schulden machen. Denn damit steigt die Überschuldung weiter an. Beides ist also falsch!
- „Der Preis des Geldes wird aber – wie bei jedem Gut – durch seine Knappheit bestimmt. Und an der Ersparnisschwemme, die das Geld so billig macht, trägt die größte Volkswirtschaft der Eurozone die Hauptschuld. Um mehr als 250 Milliarden Euro übersteigen die Ersparnisse hierzulande die Investitionen.“ – bto: Da haben wir sie wieder, die Truhentheorie! Wir haben viele Ersparnisse und deshalb sinken die Zinsen. Dabei ist der Kreislauf umgekehrt: Übermäßige Verschuldung führt zu einem übermäßigen Geldmengenwachstum, weil parallel auch die Guthaben wachsen. Deshalb haben wir am Ende eines Schuldenbooms auch zu viele „Ersparnisse“. Wenn wir dann kein Wachstum mehr haben, ist es natürlich richtig, dass die Ersparnisse rumliegen und die Renditen drücken. Es ist aber auch so, dass die Banken, die bekanntlich keine Guthaben brauchen, um Kredite zu vergeben, aus eigenem Interesse die Zinsen immer tiefer treiben. Denn nur so können sie die Illusion aufrechterhalten, sie seien noch solvent und die Forderungen werthaltig. Schuldner und Banken sitzen hier in einem Boot. Da der Preis immer vom billigsten Anbieter gesetzt wird, drücken damit die kranken Banken den Zins für alle nach unten. Das können sie aber nur deshalb, weil ihnen die EZB hilft. Durch das billige Geld der EZB gibt es geringere Kosten auf der Passivseite. Sie können also die Zinsen für Ausleihungen drücken und haben dennoch eine positive Marge. Da niemand Vernünftiges insolventen Banken Geld zu null leiht, hat die EZB hier eine erhebliche, marktverzerrende Rolle. Nur wäre die Alternative nicht schön: eine Pleitewelle! Natürlich kommen Faktoren wir Demografie und geringe Produktivitätsfortschritte noch als weitere dämpfende Faktoren hinzu. Es sind also nicht nur die deutsche Sparwut und die geringen Investitionen, sondern weitaus mehr, was zu den tiefen Zinsen führt!
- „Der deutsche Sparer muss sich eingestehen: Niemand braucht sein Geld. Jedenfalls nicht zu den Konditionen, die er gewohnt ist. Vier Prozent auf bombensichere Anlagen? Das gab es nur in Zeiten garantierten Wirtschaftswachstums und steigender Staatsverschuldung.“
- „Wer bereit ist, als Aktionär in guten wie in schlechten Zeiten zu einem Unternehmen zu stehen, kann auf hohe Renditen hoffen. Wer das nicht will, muss wohl noch sehr lange mit Niedrigzinsen leben – und sollte dem Italiener im EZB-Tower nicht die Schuld daran geben.“
Damit macht sich der Autor das viel zu leicht. Es ist eben nicht wie in einer Badewanne, wo es nur um Zu- und Abfluss geht. Wir haben es mit einem Schuldenüberhang zu tun, der umgekehrt zu viele Forderungen produziert. Beides wirkt verstärkend negativ auf Wachstum und damit Zinsen.
Am Tag darauf brachte SPIEGEL ONLINE dann den Kommentar des von mir sehr geschätzten Thomas Fricke. Deutlich fundierter – nichts anderes war zu erwarten – jedoch ebenfalls auf das Badewannen-Bild abhebend:
- „Immerhin sind ja nicht nur in Italo-Draghis Eurozone die Zinsen so niedrig – sondern fast überall in der hoch entwickelten Welt. Spinnen die alle? Selbst die Schweizer?“ – bto: Natürlich ist das die Folge der Eiszeit.
- „Die Frage ist aber, ob die Umstände neun Jahre nach Ausbruch einer Jahrhundertfinanzkrise (wieder) normal sind. (…) Wenn eine große Finanzblase platzt, wie das 2007 der Fall war, gibt es eine Menge Leute, die plötzlich ziemlich viele Schulden haben, die nicht mehr gedeckt sind. Und es gibt eine Menge Anleger, die plötzlich vorsichtig werden und ihr Geld lieber aufs Sparbuch bringen oder in sogenannte sichere Häfen.“ – bto: Der Zustand der Überschuldung wirkt dämpfend auf Wachstum und Zinsen, weil a) eine Flucht in Sicherheit einsetzt, b) die Banken ihre Schuldner am Leben erhalten müssen.
- „Wenn keiner mehr Geld ausgeben will und alle mehr sparen, fehlen der Wirtschaft schnell die Abnehmer für ihre Autos oder Maschinen – und dann fällt es noch schwerer, Schulden abzubauen. Dann geht die Spirale nach unten los.“ – bto: Es ist nicht nur Wollen, sondern auch Können. Wenn man pleite ist, kann man nicht mehr. Damit sind wir aber bei der Ursache: der Überschuldung!
- „Hier liegt der Grund, warum nach so einem Crash fast automatisch die Zinsen fallen – Angebot und Nachfrage: Wenn viele ihr Geld zur Bank bringen und wenige den Mut haben, Kredite aufzunehmen, bleibt das Geld liegen.“ – bto: Das ist mir zu vereinfacht. Banken setzen den Zins tief, um Schuldnern zu helfen und um selber nicht Pleite zu machen. Zombies stützen Zombies – mithilfe der EZB, die den Preis für risikofreie (o. k., relativ) Schulden so nach unten treibt, dass alle sinken. Wie sonst könnte Italien weniger Zinsen zahlen als die USA?
- „Das ist auch der Grund dafür, dass gute Notenbanker aus Sorge vor der drohenden Abwärtsspirale möglichst viel Geld anbieten. Es geht darum, den Kollaps zu verhindern (…). Je niedriger die Zinsen, desto schneller geht die Entschuldung.“ – bto: Nur, lieber Herr Fricke, wo liegen die Schulden in der Eurozone heute tiefer als 2007? Nirgends. Zwar haben die Privatsektoren weniger Schulden, dafür die Staaten umso mehr.
- „Dann ist das Klagen über die (Neben-)Wirkungen von Draghis Nullzinsen etwa so, als würde man auf die Feuerwehr schimpfen, weil die beim Löschen eines Großbrands alles nass macht. Schwer zu verhindern – und trotzdem kein Grund, den Wasserhahn zuzudrehen.“ – bto: Da bin ich bei ihm.
- „Man kann darüber streiten, ob das, was Draghi im Detail macht, richtig ist. Und ob es besser wäre, das Geld, das er den Banken gibt, direkt den Leuten zu geben: Helikopter-Geld, nennt man das.“
→ SPIEGEL ONLINE: „Niedrigzinsen: Sorry, niemand braucht Ihr Geld“, 21. April 2016
→ SPIEGEL ONLINE: „Kritik an EZB-Chef Draghi: Spinnen die alle? Nur der Deutsche nicht?“, 22. April 2016