Lager­streit statt nüchterne Ver­ständigung be­för­dert den Nieder­gang

In der aktuellen Podcast-Episode #209 ist Professor Werner Plumpe zu Gast. Mit ihm spreche ich über die Erfolgsfaktoren für Deutschland und wieso wir nicht darauf hoffen können, die aktuelle Krise so einfach zu überwinden.

Vor einigen Wochen hat er in der FAZ seine Sicht der Dinge dargelegt. Hier die Kernaussagen:

  • „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. So folgte bisher auf jede Krise eine Phase der Depression, der sich erst eine leichte, dann gelegentlich gar eine stürmische Erholung anschloss, die wiederum einen oberen Wendepunkt einleitete, in der Abschwung und Krise die Zeit von Aufschwung und Boom beendeten. Dieses Muster ist relativ stabil; beobachten lässt es sich seit der Durchsetzung kapitalistischer Strukturen in Großbritannien seit dem 18. Jahrhundert, in Deutschland recht gesichert seit den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts. Die zeitlichen Abläufe waren nicht immer gleich. Gelegentlich waren die Aufschwung- beziehungsweise Abschwungphasen kürzer oder länger, aber an den grundsätzlichen Verläufen änderte das wenig.“ – bto: Und genau daraus schließen jetzt die Menschen, dass es unweigerlich nach der aktuellen Krise wieder nach oben gehen muss.
  • „(…) sobald der Staat eingreift, verändert er unter Umständen wichtige Parameter. Und das hat Folgen in vielerlei Hinsicht; nicht nur der Staatshaushalt kann dadurch ins Ungleichgewicht geraten, auch der mit den ökonomischen Zyklen verbundene Strukturwandel wird möglicherweise gebremst oder in seinen Auswirkungen verzerrt, was wiederum unter anderen Umständen ein wesentlicher Krisenfaktor werden kann.“ – bto: Einfach deshalb, weil der Staat alte Strukturen erhält und so die Anpassung verlangsamt, statt erleichtert.
  • „Und genau dieser Zusammenhang lässt uns in Deutschland auch angesichts der gegenwärtigen Krisenphänomene zunächst ratlos werden. Die Hoffnung, es werde schon gut gehen, das Land sei reich und seine Wirtschaft habe sich in der Vergangenheit doch durchaus resilient gezeigt, wie das Modewort heißt, ist nicht gut begründet. Vor allem trauen wir ihr nicht. Ihre aus politischen Motiven nachvollziehbare Propagierung kann vielmehr selbst zum Krisenfaktor werden, hindern uns derartige Vorstellungen doch daran, der ökonomischen Realität nüchtern ins Auge zu sehen. Und dazu zählt eben auch, die Auf- und Abschwünge nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten, sondern sie in ihrem Kontext, ihrem ökonomischen Milieu zu begreifen. Denn ihre Rhythmik sagt ja noch nicht sehr viel über die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung, ihre Trends aus. Man kann durchaus rhythmisch strukturierte Niedergänge erleben.“ – bto: Das ist eine klare Aussage!
  • „Seit dem Krieg bis in die 1990er-Jahre hinein gab es zudem eine bestimmende Tatsache, die im Alltagsbewusstsein heute kaum präsent ist: Während die Wirtschaft mal schneller, mal langsamer wuchs und seit den 1970er-Jahren gelegentlich auch stagnierte oder schrumpfte, nahm die Produktivität kontinuierlich und schneller als die wirtschaftliche Gesamtleistung zu. Es konnte also, um es vereinfacht auszudrücken, bei sinkender jährlicher Arbeitsleistung gleichwohl mehr verteilt werden. Dieses Muster hat sich derart ins kollektive Denken eingebrannt, dass die öffentliche Meinung es fast schon für eine Art Naturgesetz hielt. Doch ist es das keineswegs.“ – bto. Das ist es keineswegs. Im Gegenteil. Wir haben es mit einer Situation zu tun, in der wir einen kleineren Kuchen haben und davon immer mehr verschenken und verschwenden, was den Kuchen, der zum Verteilen bleibt, zusätzlich verkleinert.
  • „Seit den 1990er-Jahren hat sich die Lage zunächst schleichend, inzwischen dramatisch verändert. Seit jener Zeit gingen die jährlichen Produktivitätszuwächse deutlich auf ein Viertel der zuletzt erreichten Werte zurück, von etwa zwei Prozent jährlich auf 0,5 Prozent in der Zeit vor Corona; mittlerweile schrumpft die totale Faktorproduktivität. Gegenwärtig sinkt bei steigender Bevölkerung deren Pro-Kopf-Leistung. Das historisch als dauerhaft erfahrene Muster steigenden Wohlstands bei sinkender Arbeitszeit gibt es nicht mehr. Und angesichts des demographischen Wandels, insbesondere der Tatsache, dass in absehbarer Zeit Millionen gut ausgebildeter Arbeitskräfte den Arbeitsmarkt verlassen, für die kaum Ersatz in Sicht ist, schon gar nicht durch eine unregulierte Zuwanderung schlecht qualifizierter Menschen, ist auch kaum eine Besserung in Sicht.“ – bto: Nein, wir haben ein weiteres Problem.
  • „Dabei wird eine weitere Schwäche offenbar, die es historisch so nicht gab. Das deutsche Bildungssystem war trotz aller Schwächen seit den 1870er-Jahren, und zwar sowohl in der Allgemeinbildung wie in der Spitzenforschung, dazu in der Lage, den gelegentlich raschen Bevölkerungszuwachs (von 45 auf 67 Millionen Menschen zwischen 1870 und 1914, von gut über 40 auf 62 Millionen seit 1945 in der Bundesrepublik) nicht nur zu verkraften, sondern ein im internationalen Vergleich hohes Qualitätsniveau zu erreichen. Davon ist in der Gegenwart wenig zu spüren: Die Bevölkerung wächst, das Qualifikationsniveau sinkt.“ – bto: … und zwar rasant.
  • „Der starke Strukturwandel, ein Merkmal der Wiederaufbauzeit und auch noch der 1970er- und der 1990er-Jahre, die wesentliche Quelle der Produktivitätsgewinne, ist zum Stillstand gekommen. Das hat eine Fülle von Ursachen. Viele Potentiale sind ausgeschöpft; die Landwirtschaft ist extrem geschrumpft, wenig wettbewerbsfähige Industriezweige sind fast ganz aufgegeben worden. Gleichzeitig sind die Investitionsquoten niedrig, die Entfaltung neuer technologischer Potentiale gering, die Tendenz, dass wichtige Industriezweige aus Kostengründen ihre Standorte verlagern, hoch. Stattdessen ist die steuerliche Belastung der Industrie in diesem Land gewaltig, während der Staat gleichzeitig den Niedriglohnsektor mit seiner geringen Produktivität subventioniert und die Digitalisierung von Wirtschaft und Verwaltung sowie die Fortentwicklung der Infrastruktur verschläft.“ – bto: Der Staat ist sicherlich ein Problem.
  • „Schließlich, auch davon ist zu reden, zählt die deutsche Wirtschaft zu den Hauptleidtragenden der gegenwärtigen Deglobalisierungstendenzen. Man kann diese aus politischen Gründen für gerechtfertigt halten, ja fordern, doch sollte niemand so naiv sein, davon auch noch wirtschaftliche Vorteile zu erwarten. Schon das Kleinreden der Energiepreisverteuerungen ist Augenwischerei, wenn man an den Industriestandort Deutschland denkt, von den preistreibenden Wirkungen einer möglichen Entkopplung von China zu schweigen.“ – bto: Aber genau das erzählt uns die Politik ständig.
  • „Man kann versuchen, alle genannten Probleme monetär zu kompensieren und auf Besserung zu warten;“ – bto: Doch woher soll dieses Geld kommen? Ich sehe diesen Weg als zum Scheitern verurteilt, was aber nicht bedeutet, dass man es nicht probieren wird.
  • „(…) man kann sich der Illusion hingeben, all das werde in absehbarer Zeit zu einer Art grünem Wirtschaftswunder führen. Dafür spricht wenig. Die Dimensionen der gegenwärtigen Krise liegen denn auch nicht in ihrer Rhythmik; sie liegen in einem ökonomischen Milieu, das auf Schrumpfung angelegt ist. Man kann dieses Schrumpfen wollen, sollte dann aber immerhin zugeben, dass wir von aktiver Handlungsfähigkeit immer weiter entfernt sind. Denn schrumpft die ökonomische Leistungsfähigkeit, schrumpft auch die Kraft zu ökologischer Erneuerung. Man kann das, wie gesagt, mit der Illusion, wir seien ein reiches Land und machten dann eben mal Schulden, camouflieren wollen; verantwortungsbewusst ist das nicht. Aus der Rhythmik der Schwankungen kann zu leicht eine Spirale nach unten werden, die dann nur noch schwer aufzuhalten ist.“ – bto: So ist es. Haben wir erstmal Industrien verloren, kehren diese nicht zurück.
  • „Die alte Befähigung zur Selbstkorrektur scheint mittlerweile der politischen Konfrontation zum Opfer zu fallen, denn das Thematisieren der Krise wird als Politikum Gegenstand einer Art Lagerstreit, in dem eine nüchterne Verständigung nicht mehr möglich ist: Was dem einen eine angemessene Beschreibung ökonomischer Verhältnisse ist, brandmarkt der andere als Schmähkritik, Verschwörungstheorie oder Fake News. Die alte Regel, dass eine Krise nur in den Dimensionen ernsthaft bearbeitet werden kann, in denen sie vorurteilsfrei zur Kenntnis genommen ist, gilt nicht mehr. An deren Stelle ist Wunschdenken (‚grünes Wirtschaftswunder‘, erfolgreiche Energiewende etc.) getreten. Das ist kein gutes Zeichen.“ – bto: Und es wird immer weiter so erzählt, siehe Beiträge der letzten Woche.
  • „In Deutschland galt lange Zeit die Regel, dass die Lage schlechter dargestellt wurde, als sie wirklich war; das hatte gelegentlich skurrile Züge, war aber insgesamt durchaus hilfreich. Gegenwärtig scheint das Gegenteil der Fall: Das Land hält sich für reich – und manche Bürger sind das sicher auch. Aber die vielen, auf die es im wirtschaftlichen Alltag ankommt, die alltäglich die produktive Arbeit leisten und das Land tragen, sind es gerade nicht. Projekte auf ihre Kosten sollte man daher ernsthaft überdenken. ‚Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch‘, sagt Hölderlin. Mit einem nüchternen Kassensturz könnte es beginnen.“ – bto: Dann müsste man aber zugeben, dass man lange Märchen erzählt hat.

zeitung.faz.net: „Warten auf ein Wunder“, 19. August 2023