Olaf Scholz und der Reali­täts­sinn

Erst versprach er ein grünes Wirtschaftswunder, nun „neues Wachstum durch technologische Innovationen“. Bundeskanzler Olaf Scholz ist offenbar sehr zufrieden mit seinem Interview in der Welt am Sonntag. Die Bundesregierung veröffentlichte es komplett auf der eigenen Seite, sodass es jeder ohne Paywall nachlesen kann.

Schon die Zusammenfassung lässt einen (ver)zweifeln: „Bundeskanzler Olaf Scholz hat mit der Welt am Sonntag über den Bürokratieabbau, seine klare Absage an Schuldenmachen ohne Ende sowie den Wohnungsbau gesprochen. ‘Je schneller sich der Ausbau von Windkraft, Solarenergie, Stromnetze und Wasserstoff-Wirtschaft vollzieht, umso schneller werden die Zweifel verstummen‘, blickt der Kanzler voraus.“ – bto: Tja. Welche Zweifel sollten dann weichen? Es würde genügen, wenn Scholz sich mit den Kosten einer solchen Wasserstoff-Wirtschaft beschäftigen würde.

Hier seine wichtigsten Aussagen:

  • Na, Deutschland ist kein lädiertes Land. Um im Bild des Piratenkapitäns zu bleiben: Deutschland ist ein stolzes Segelschiff und für alle Stürme gerüstet.“ – bto: Daran kann man durchaus Zweifel hegen.
  • Es ist unübersehbar, dass wir eine Wachstumsschwäche haben. Hauptursache dafür ist, dass einige unserer Exportmärkte schwächeln, allen voran China. Das wirkt sich auf eine Exportnation wie unsere aus. Gleichzeitig haben wir mit hoher Inflation und gestiegenen Energiepreisen zu tun, die eine Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine sind.  Die zeitweilige Unterbrechung von Lieferketten aufgrund der Covid-19-Pandemie ist ebenfalls noch spürbar. Und all das hat auch noch zu einem plötzlichen Anstieg des Zinsniveaus geführt, das nicht zuletzt die Bauwirtschaft besonders herausfordert.“ – bto. Klar, es liegt nur an unvorhersehbaren Ereignissen.
  • Viel von dem, was wir hierzulande tun können, um unsere Wirtschaft anzukurbeln, haben wir in den vergangenen Wochen auf den Weg gebracht – unter anderem mit dem Wachstumschancengesetz. Es ermuntert Unternehmen zum Beispiel, nicht abzuwarten und fällige Investitionen jetzt zu tätigen. Investitionen in den Wohnungsbau und für bestimmte Anschaffungen können stärker steuerlich geltend gemacht werden. Die Unternehmen sollen mehr Liquidität erhalten, indem sie den Verlustvortrag stärker nutzen können. Auch für Start-ups und Arbeitnehmerbeteiligung gibt es Erleichterungen.“ – bto: Das wird vor allem für Mitnahmeeffekte sorgen. Denn wer investiert schon, nur weil es Subventionen gibt, wenn die Aussichten schlecht sind.  
  • Zentrale Aufgabe bleibt aber, strukturell für mehr Wachstum zu sorgen. Die Preise für Energie sind noch zu hoch und müssen runter. Deshalb beschleunigen wir den Ausbau von Windkraft und Solarenergie. (…)Deshalb habe ich den Deutschlandpakt vorgeschlagen. Das Ziel: Städte und Gemeinden, Länder, die Bundesregierung und gerne auch die demokratische Opposition sollen gemeinsam anpacken, damit mehr Tempo in die Prozesse kommt. Der Dschungel an Vorschriften muss gelichtet werden. Es geht darum, in kurzer Zeit so viel wie möglich von unnötigen Vorschriften, die uns daran hindern, schnell zu sein, abzuschaffen und oder zu verändern – auf Bundesebene, in den Ländern und auch in den Kommunen.“ – bto: Jetzt müsste noch jemand dem Bundeskanzler erklären, dass das nichts wird mit der billigen Solarenergie, denn man braucht auch Netze, Speicher, Backups … und schwupp, hat man sehr hohe Kosten.
  • Der Economist nennt Deutschland den kranken Mann Europas. Was tun Sie?Scholz: Diese angelsächsische Zeitung kritisiert uns für die angeblich deutsche Obsession, nicht Schulden ohne Ende aufzunehmen. Der Text rät quasi dazu, 100 bis 200 Milliarden Euro zusätzliche Schulden zu machen jedes Jahr. Aber da sage ich: Nein! Schuldenmachen ohne Ende löst unsere Probleme nicht, schafft aber neue. Es geht darum, die Wachstumsdynamik unseres Landes zu entfalten. (…) Den Außenhandel haben wir nicht in der Hand, weil wir ja schlecht ein Konjunkturprogramm für den Rest der Welt machen können. Aber wenn es dort wieder läuft, hat das sehr konkrete positive Auswirkungen bei uns: unser Maschinenbau, unsere Automobilindustrie, unsere Chemieindustrie und viele andere Wirtschaftszweige bleiben gefragt, weil sie qualitativ stark sind. Eine Voraussetzung dafür ist übrigens auch, dass es genügend Arbeitskräfte in Deutschland gibt. Dafür haben wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf den Weg gebracht, mit dem wir Talente anziehen auf allen Qualifikationsstufen, von der Ingenieurin bis zum Facharbeiter.“ – bto: Wir wissen, dass das mit den Fachkräften so nicht funktioniert. Außerdem bleibt das Problem, dass wir an internationaler Wettbewerbsfähigkeit verlieren und die Deglobalisierung uns trifft.
  • Das Tempo unserer Verwaltung entscheidet mit darüber, wie stark Deutschlands Wirtschaft wächst. Ich bin es leid, wenn beim Bau einer neuen U-Bahn-Linie mehr als zehn Jahre für die Planung draufgehen! Die Energiewende wird scheitern, wenn die Genehmigung einer Windkraftanlage mehrere Jahre dauert. Unser Gesundheitssystem gehört zu den weltweit besten – aber wir haben die Digitalisierung verschlafen.“ – bto: Und deshalb kürzt die Regierung die Mittel für die Digitalisierung…
  • „(Der Staat soll) Sicherheit vermitteln: Das haut hin, diese Umstellung unserer Industrie geht gut aus. Denn das wird es ja – mit guten und gut bezahlten Industrie-Arbeitsplätzen, mit Wertschöpfung, mit bezahlbarer und sicherer Energie. Je schneller sich der Ausbau von Windkraft, Solarenergie, Stromnetze und Wasserstoff-Wirtschaft vollzieht, umso schneller werden die Zweifel verstummen.“ – bto: Wie gesagt – eine Aussage, die jeglicher Substanz entbehrt. Das zeigt, wie weit die Selbstillusionierung der Akteure fortgeschritten ist.
  • Es hat immer eine enge Verbindung zwischen staatlichem Handeln und privatwirtschaftlichem Engagement geben. Am stärksten vielleicht in der Zeit, in der Deutschland seinen ganz großen industriellen Aufschwung hatte, Ende des 19. Jahrhunderts. Und jetzt müssen wir die Weichen in die Zukunft stellen, damit die Dinge passieren, die für uns alle wichtig sind.“ – bto: Scholz vergleicht Äpfel mit Birnen.  
  • Beispiel Wasserstoffnetz: Unser Ziel ist es, dass die Gasnetzbetreiber hier jetzt Milliarden in dieses neue, klimaneutrale Wasserstoffnetz investieren. Damit man den Switch hinkriegt, also den Umstieg von Erdgas zu Wasserstoff. Das gilt es klug zu planen, damit Wasserstoff genutzt werden kann, ohne dass diejenigen, die noch Erdgas brauchen, keines mehr kriegen. Diese gigantischen privatwirtschaftlichen Investitionen wird es aber nur geben, wenn wir mit den Unternehmen gemeinsam verabreden, wo dieses Netz gespannt und wie es reguliert wird. Wie seinerzeit beim Bau der Erdgas-Pipelines wird das jetzt bei Wasserstoff gehen. Das ist keine Staatsintervention, sondern kluge Infrastruktur-Politik.“ – bto: … die aber im eklatanten Widerspruch zum Versprechen billiger Energie steht.
  • „(…) das privatwirtschaftliche Investment in ein Wasserstoffnetz in Deutschland fände ganz sicher die Zustimmung von Frau Mazzucato, die ich ebenfalls sehr schätze. Es geht darum, den Rahmen dafür zu setzen, dass Unternehmen heute hohe Milliardensummen investieren, die sie dann über vielleicht 30 Jahre hinweg mit Gewinn zurückverdienen.“ – bto: Mit Gewinnen aus den staatlichen Subventionen, vergisst Scholz hier zu sagen.
  • „Frage: Geht es Ihrer Regierung nicht doch um mehr als Rahmenbedingungen? Robert Habeck sagt in einem aktuellen Podcast ganz offen, der Staat soll wirtschaftlicher Akteur werden, weil die Rolle des Gesetzgebers allein zu schwach sei …Scholz: Ich bleibe konkret: Wir haben uns gerade beim Wasserstoffnetz dafür entschieden, eine privatwirtschaftliche Lösung möglich zu machen. Wir werden keine staatlichen Stahlwerke bauen, wir werden keine staatlichen Aluminiumwerke bauen, wir werden keine staatlichen Chemiefabriken bauen und die pharmazeutische Industrie wird ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit auch nicht dadurch weiter ausbauen, dass der Staat sie übernimmt. Das sind alles erfolgreiche privatwirtschaftliche Unternehmen und werden es auch bleiben.“ – bto: Was daran ist noch privat, wenn der Staat den Gewinn garantiert? Es ist, was Habeck sagt, und es wird wie in der DDR enden. Nur früher, weil es kein Westdeutschland gibt, das dauerhaft Transfers leistet.
  • In Duisburg macht Thyssenkrupp einen Vertrag mit dem Staat, wie in Zukunft produziert werden darf und bekommt dafür Milliarden.Scholz: Das Unternehmen investiert in ein Stahlwerk, das CO2-neutral Stahl produzieren kann. Es setzt dabei auf ein Verfahren, das bisher nur an wenigen Orten erprobt wurde und in dieser Dimension neu ist. Das ist echte Pionierarbeit. Die trauen sich was! Und für diese mutige Investition gibt es staatliche Unterstützung. Wenn dieser Versuch klappt, können bald alle Stahlwerke auf diese Weise umgebaut und klimaneutral werden – auf Dauer natürlich ohne Staatshilfe. Das Gleiche gilt für die Halbleiterindustrie. Das sind milliardenschwere privatwirtschaftliche Investitionen, die eine staatliche Begleitung erhalten. Überall auf der Welt!“ – bto: Hmm. Nehmen wir an, die Technik funktioniert. Dann macht es die ganze Welt – und das an Standorten mit billigerem Wasserstoff. Ergo die Frage: Was haben wir davon? Wir könnten versuchen, die Technologie zu verkaufen. Und dann bleibt immer noch die Frage, ob es nicht günstiger wäre, auf Carbon Capture zu setzen oder Zertifikate zu kaufen.
  • Im Wirtschaftsteil der ‚Welt am Sonntag‘ lese ich jede Woche von Unternehmen, die ihren Plan verkünden, bald CO2-neutral zu produzieren. Das ist gut so und das wird nur gehen mit großen Mengen Strom aus erneuerbaren Quellen; möglichst preiswert und überall verfügbar. Die Entscheidungen dafür treffen wir gerade, und die Leitungen bauen wir schon. Mit jeder fertigen Leitung, die Strom aus dem Norden und Osten Deutschlands nach Süden und Westen bringt, sinken die Preise. Wäre der Leitungsbau in der Vergangenheit nicht gezielt verschleppt worden, etwa von der bayerischen Staatsregierung, wären die Preise schon heute deutlich günstiger.“ – bto: Das mag sein. Aber es ist nicht nur eine Frage der Netze.
  • Wollen sie nun den Strom für die energieintensive Industrie subventionieren oder nicht?Scholz: Einen solchen Eingriff in den Markt müssen wir sehr genau wägen, damit er keine ungewollten Folgen hat: Es darf nicht dazu führen, dass dann der Ausbau von Wind- und Solarenergie stockt. Und wie könnten wir es rechtfertigen, dass Unternehmen, die riesige Gewinne machen, von dem Steuerzahler und der Steuerzahlerin subventioniert werden und Deutschland sich dafür stark verschuldet.“ – bto: Vor allem ist es sinnlos mit Blick auf die künftigen Kosten des Stroms. Denn dieser wird nicht billiger!
  • Bedeutet Dekarbonisierung ehrlicherweise nicht doch zumindest teilweise Deindustrialisierung?Scholz: Nein, denn alle Länder müssen dekarbonisieren. Das sind auch international verabredete Ziele. (…) Nun kann die Lösung aber nicht sein, dass wir nun unseren Wohlstand verringern, damit anderswo Wachstum entstehen kann. Im Gegenteil: Wenn wir die nötigen Technologien und Produkte bei uns entwickeln und erfolgreich einsetzen, um den Klimawandel aufzuhalten, wird das unseren Wohlstand mehren und das Wachstum überall auf der Welt unterstützen – ohne unsere Lebensgrundlagen zu bedrohen.“ – bto: Komisch nur, dass die Politik bei uns das nicht unterstützt. Denn was wir machen, ist nicht die Entwicklung dieser Technologien. Hinzu kommt, dass, selbst wenn alle dekarbonisierien würden, die Voraussetzungen nicht die gleichen sind, siehe Sonne in Spanien.
  • Unsere Aufgabe ist es, unsere Volkswirtschaft zu modernisieren und in eine klimaneutrale Zukunft zu führen, ohne dass die Bürgerinnen und Bürger das als eine Verschlechterung ihres Lebens begreifen.“ – bto: Die Regierung modernisiert die Wirtschaft. Das ist das Problem in wenigen Sätzen.

bundesregierung.de: „Neues Wachstum durch technologische Innovationen“, 16. September 2023