EU-Impfstrategie als schlechtes Omen für die Klimapolitik
Dieser Kommentar erschien bei manager magazin und FOCUS:
Wer das Versagen der EU bei der Impfkampagne gegen das Coronavirus ökonomisch greifbar machen will, benötigt nicht viel mehr als einen Taschenrechner. Besonders fatal: Beim womöglich noch größeren Problem des Klimawandels agiert Brüssel ähnlich unbeholfen.
Wir haben es mit einer einfachen Sache zu tun: Das Corona-Virus bedroht Leben und Gesundheit von Millionen und der Kampf gegen das Virus führt zu enormen wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Schäden. Allein für Deutschland beziffern führende Wirtschaftsforschungsinstitute wie das Institut für Weltwirtschaft in Kiel den Schaden auf gut 400 Milliarden Euro. Je länger die Krise anhält, desto größer ist der Schaden.
Die Antwort auf diese Herausforderung ist ebenso simpel:
- Je früher man hart eingreift, desto eher bekommt man das Virus unter Kontrolle (siehe China).
- Je mehr man testet, desto eher bekommt man das Virus unter Kontrolle (Korea).
- Je besser man verfolgen kann, wie sich das Virus verbreitet, zum Beispiel mit einer funktionsfähigen App, desto besser bekommt man das Virus unter Kontrolle (Taiwan).
- Je besser man die Risikogruppen schützt, desto weniger Tote hat man zu beklagen und je geringer ist die Belastung des Gesundheitssystems. (Tübingen)
- Je früher man einen Impfstoff hat, desto weniger Menschen müssen erkranken und desto früher kann sich die Wirtschaft wieder erholen.
Nachdem wir in Deutschland und der EU eher schlecht als Recht die ersten vier Punkte der Liste bearbeitet haben, liegt nun die Hoffnung auf dem letzten Punkt: die möglichst rasche Impfung möglichst vieler Menschen.
Man könnte annehmen, dass dies absolute Priorität für die Politik in Europa hat. Wir wissen aber nicht erst seit diesem Wochenende, dass dies nicht der Fall ist. Die EU-Kommission hat – ob nun aus Rücksicht auf französische Interessen wie der SPIEGEL insinuiert – oder aus falsch verstandener Sparsamkeit, wie andere vermuten, auf die falschen Impfstoffe gesetzt und von den richtigen zu wenige gekauft. Der französische Lieferant Sanofi dürfte seine 300 Millionen Dosen, wenn überhaupt, erst im Oktober liefern können. Zusätzlich angebotene Mengen von Biontech/Pfizer wurden im November abgelehnt.
Impfen ist keine Kostenfrage
Verstehen kann man das nicht. Denn der gesundheitliche und wirtschaftliche Nutzen ist offensichtlich. Nehmen wir das Beispiel Deutschland: Der wirtschaftliche Schaden von 400 Milliarden Euro entspricht über einem Zeitraum von zwei Jahren überschlägig gerechnet rund vier Milliarden Euro pro Woche – wenn man annimmt, dass der Schaden gleich verteilt ist. Viel spricht aber dafür, dass der Schaden mit der Dauer der Beschränkungen ansteigt. Wenn beispielsweise Geschäfte, Hotels und Restaurants noch länger geschlossen bleiben müssen, gehen immer mehr Konkurs. Man sieht, das Verkürzen dieser Frist ist entscheidend. Jede Woche, die wir früher zur Normalität zurückkehren können, hat also allein für Deutschland einen Wert von vier Milliarden Euro.
Machen wir die Rechnung auf:
- Wenn wir pro Woche 250.000 Menschen impfen, dauert es 100 Wochen, bis wir die 25 Millionen besonders Gefährdeten geimpft haben und rund 200 Wochen bis zur „Herdenimmunität“.
- Wenn wir hingegen wie in Israel 150.000 Menschen pro Tag impfen würden, wären wir in 24 bzw. 48 Wochen durch.
- Genügt die Impfung der 25 Millionen besonders Gefährdeten, um weitgehend zur wirtschaftlichen Normalität zurückkehren zu können, reduziert der israelische Weg in Deutschland den wirtschaftlichen Schaden um rund 300 Milliarden Euro (76 Wochen mal 4 Milliarden Euro). Selbst wenn man den Schaden für die wärmeren Monate auf null setzt, kommen wir auf einen Nutzen von rund 150 Milliarden Euro.
- Theoretisch könnten wir – allein in Deutschland! – bis zu 150 Milliarden Euro für eine schnelle Impfung ausgeben und es wäre immer noch ein Geschäft.
Von derartigen Impfkosten sind wir jedoch weit entfernt! Selbst die teuerste Impfung – jene von Biontech/Pfizer kostet pro Dose weniger als 15 Euro – macht bei zwei erforderlichen Impfungen 30 Euro. Rechnet man noch die Kosten der Impfung selbst hinzu, liegen wir weit unter 100 Euro pro Kopf, macht 2,5 Milliarden Euro für die 25 Millionen besonders Gefährdeten.
Ganz offensichtlich ist Impfen eine Investition mit einer enormen Rendite. Wenn wir alle Bürgerinnen und Bürger impften, entsprächen nach dieser Rechnung die Kosten dem wirtschaftlichen Schaden von zwei Wochen. Diese Berechnung gilt analog für die ganze EU. Einfach die Zahlen mal 5,5 nehmen (448 Millionen Einwohner versus 82 Millionen in Deutschland).
Alle kaufen
Und die Rechnung geht noch weiter. Man muss als Einkäufer der Impfstoffe nicht einmal wissen, welcher dieser Impfstoffe wann zur Verfügung steht. Es spielt angesichts der Preise, die zwischen 1,78 Euro (AstraZeneca) und 14,70 Euro (Biontech/Pfizer) liegen, keine Rolle. Man kann einfach bei allen Anbietern so viel kaufen, dass es für jeden Bürger reicht. Es rechnet sich angesichts der enormen wirtschaftlichen Kosten immer.
Die EU hätte beim Preis verhandeln sollen, aber eben nicht mit den Mengen taktieren. Als wüssten Bürokraten in Brüssel besser, welcher Anbieter wann mit einem wie gut wirkenden Impfstoff auf den Markt kommt. Sanofi ist das beste Beispiel. Ein unstrittig gutes Unternehmen hatte wohl einfach Pech. Passiert in der Forschung nun mal. Beim nächsten Mal klappt es besser.
Was man als Einkäufer hingegen in einem solchen Fall macht, ist, eine Versicherung abzugeben für die Kosten der Produktionskapazitäten aufzukommen: in Form einer Garantie den vereinbarten Umsatz abzüglich eines Abschlags, je nachdem zu welchem Zeitpunkt das Projekt scheitert, auf jeden Fall zu bezahlen. Denn die Produktionskapazität ist entscheidend für den Zeitpunkt, ab dem der Impfstoff auch verfügbar ist. So brüstet sich die EU heute, mehr Biontech-Impfstoff pro Kopf als Großbritannien bestellt zu haben, verschweigt aber, dass die Briten ihre Bestellung viel früher bekommen und schon fleißig impfen.
Intelligenter Einkauf bedeutet im Fall der Impfstoffe angesichts der enormen Rendite also: bei allen Anbietern für jeden Bürger kaufen und eine Kostengarantie für die Produktionskapazitäten zu geben. Die Kosten lägen immer noch bei unter 100 Euro pro Bürger, im Falle Deutschlands bei rund 8 Milliarden, in der EU bei 40 Milliarden. So hoch die Beträge scheinen mögen, so lächerlich sind sie angesichts der 750 Milliarden, die allein für den sogenannten „Wiederaufbaufonds“ angedacht sind. Es wäre für Deutschland übrigens billiger gewesen, der EU die 40 Milliarden für eine ordentliche Impfstrategie zu schenken, als in eine unbegrenzte Schulden- und Transferunion einzusteigen. Aber das ist ein anderes Thema.
Wäre das „unsolidarisch“?
Kritiker dieser Sicht wenden ein, dass eine solche Vorgehensweise unsolidarisch wäre und die EU damit „ärmeren Ländern“ Impfstoffe vorenthalten würde. Ein Blick auf die Länder, die vor uns liegen bei den Impfungen – Bahrain, Israel, USA, Großbritannien … – genügt, um festzustellen, dass dem nicht so ist. Viel entscheidender ist etwas anderes: Mit einer intelligenten Einkaufsstrategie hätte die EU so viel sichere Nachfrage geschaffen, dass die Produktionskapazitäten schneller ausgeweitet worden wären. Denn bekanntlich führt hohe Nachfrage auch zu höherem Angebot. Wir hätten also nicht nur uns geholfen, sondern auch der Welt.
Ebenso wenden Kritiker ein, was denn passiert, wenn mehr als ein Impfstoff wirkt und die EU doch nur einen braucht. In diesem erfreulichen Fall könnte die EU nicht benötigte Chargen (mit Gewinn!) reichen Länder verkaufen oder aber an nicht so reiche Länder verschenken. Mehr Solidarität kann man sich schwer vorstellen.
Israel kann rechnen
Wir müssen also feststellen, dass die EU in Sachen Impfstrategie mehr als schlecht dasteht. Mit Blick auf Israel wenden sodann Verteidiger der EU ein, dass Israel ja auch viel mehr für den Impfstoff bezahlen würde. Nach dem Motto, „die sind so dumm und zahlen 30 Dollar pro Dose, wir nur 18“. Angesichts der Tatsache, dass Israel schon im Februar eine Rückkehr zur wirtschaftlichen Normalität anstrebt, kann man über diesen Mangel an grundlegender Mathematik nur den Kopf schütteln. Es ist auch bei 30 Dollar noch ein gigantisches Geschäft und Israel dürfte nicht nur im Tourismus massiv profitieren.
Die EU hingegen knausert und maßt sich an, Gewinner im Rennen, um den Impfstoff auszuwählen, was in diesem dynamischen Umfeld nicht möglich ist. Folge ist, dass wir wohl noch in einem Jahr mit dem Virus zu tun haben.
Corona ist Peanuts, verglichen mit dem Klima
Bei der Bekämpfung von Corona geht es um eine unmittelbare Gefahr für Gesundheit und Wirtschaft. Wir wissen, wie groß der Schaden ist und wir wissen, dass sich Impfen zum Beenden der Pandemie in jedem Fall rechnet.
Bei der anderen großen Herausforderung, dem Kampf gegen den Klimawandel, ist die Problemlage anders. Der wirtschaftliche Schaden aufgrund des Klimawandels ist zweifellos groß, aber unbestimmt. Vor allem fällt er erst in Jahren und Jahrzehnten an, trifft die einzelnen Staaten und Regionen unterschiedlich. Der wirtschaftliche Nutzen durch Verlangsamen des Klimawandels ist demzufolge unsicher. Wir wissen auch noch nicht, welche Technologien wir benötigen, um den Klimawandel zu bremsen und vor allem nicht, welche Technologie den größten Nutzen zum geringsten Preis bringt.
Die politische Antwort auf diese beiden sehr unterschiedlichen Problemlagen liegt deshalb auf der Hand:
- Im Umfeld hoher Sicherheit über Kosten und Nutzen von Maßnahmen handelt man direkt. Konkret: Man kauft Impfstoffe.
- Im Umfeld hoher Unsicherheit über Kosten und Nutzen von Maßnahmen handelt man indirekt. Konkret: Man gibt keine Einzelmaßnahmen und Ziele vor (Verbot Verbrennungsmotoren etc.), sondern schafft einen regulatorischen Rahmen wie einen Preis für CO2 und hält sich sonst aus dem Thema raus.
Die EU hingegen macht es genau umgekehrt. Beim einfachen Thema schaut man aufs Geld. Beim großen Thema tut man so, als würde Geld keine Rolle spielen. Und beide Male glaubt man in Brüssel, besser zu wissen, welche Technologie funktioniert. Es kann nur in einem noch größeren Desaster enden.
→ manager-magazin.de: “EU-Impfstrategie als schlechtes Omen für die Klimapolitik”, 5. Januar 2021