In der Abwärts­spirale gefangen

Dieser Beitrag von mir erschien im April in der Print-Ausgabe von Cicero und fasst nochmals die Situation auf dem europäischen Finanzmarkt zusammen:

Spätestens nach dem jüngsten Entscheid der Europäischen Zentralbank (EZB), die Zinsen weiter unter null zu drücken und noch aggressiver Staats- und Unternehmensanleihen aufzukaufen, dürfte auch dem letzten Beobachter schwanen, dass etwas faul sein muss in Euroland. Wieso sonst sollte sich die EZB, eine Institution, die von nichts so sehr abhängt wie von unserem Vertrauen, auf ein solches Abenteuer einlassen? Es spricht die pure Verzweiflung aus den Maßnahmen, mit denen die EZB – und mit ihr alle führenden Notenbanken der Welt – gegen einen Abwärtsstrudel ankämpfen, den sie selber verursacht haben.

Angefangen hat die Misere in den 1980er-Jahren. Um die damalige Stagnation zu überwinden, wurde allenthalben auf eine Entfesselung der Finanzmärkte gesetzt. Das Bankwesen wurde dereguliert, die Kreditvergabe deutlich erleichtert. Es begann ein historisch einmaliger Anstieg der Verschuldung von privaten Haushalten, Unternehmen und Staaten. Relativ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) verdoppelte sich die Verschuldung der westlichen Industrieländer. Inflationsbereinigt hatten Unternehmen dreimal, Staaten viermal und private Haushalte sechsmal so viele Schulden im Jahre 2010 als dreißig Jahre zuvor.

Wann immer es an den Finanzmärkten oder in der Wirtschaft zu Turbulenzen kam, haben die Notenbanken schnell gehandelt: Tiefere Zinsen und mehr Liquidität wurde zur Verfügung gestellt. Börsencrash von 1987, Russlandkrise, Asienkrise, Dot-Com-Bubble, Finanzkrise. Immer war den Akteuren klar, dass die Notenbanken sie retten. Die Zinsen kannten nur eine Richtung über Jahrzehnte: immer tiefer.

Es wurde immer attraktiver, mit geliehenem Geld zu arbeiten. „Leverage“ – also der Kauf auf Pump – wurde zum Elixier der Märkte. Je höher „geleveraged“ das System ist, desto größer ist jedoch die Krisenanfälligkeit, umso bedrohlicher jede Krise. Deshalb mussten die Notenbanken immer heftiger intervenieren, was wiederum den Anreiz schaffte, noch mehr Schulden zu machen. So hat das Medikament, das die Notenbanken zur Überwindung von Krisen verabreicht haben, die Krankheit verstärkt.

Die neuen Schulden dienten vor allem dem Konsum und dem Kauf von Immobilien und anderen Vermögensgegenständen, die wir uns gegenseitig – von den Banken mit frisch geschaffenem Geld finanziert – zu immer höheren Preisen verkauften.

In Europa wurde dieser Trend durch die Einführung des Euro verstärkt. Die Zinsen sanken überall auf deutsches Niveau. Ein schuldengetriebener Bau- und Konsumboom in den heutigen Krisenländern war die Folge. Steigende Löhne vernichteten die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Ausland, vor allem Deutschland.

2009 wurde offensichtlich, dass das System an die Verschuldungsgrenze stieß. Wer immer sich verschulden konnte und wollte, hatte sich verschuldet. Unser Schuldenturm stand vor dem Zusammenbruch.

Wie ein Drogensüchtiger hatten wir die Wahl: kalter Entzug, also Abkehr vom Leben auf Pump, oder ein weiterer Schuss. Wenig verwunderlich, hat sich die Politik für die höhere Dosis entschieden. Manipulierte Bankbilanzen, nochmals tiefere Zinsen und der direkte Kauf von Wertpapieren (Quantitative Easing) sollten das Schuldenwachstum befeuern. Mit Erfolg. Überall liegt die Gesamtverschuldung von Staaten, Unternehmen und privaten Haushalten relativ zum BIP höher als vor der Krise: Die Industrieländer haben relativ zum BIP 36 Prozent mehr Schulden als 2007. Spitzenreiter sind Japan (77 Prozent mehr), Frankreich (72), Italien (53), Schweden (52) und Spanien (50).

Eine Krise, ausgelöst durch zu billiges Geld und zu viele Schulden, wurde bekämpft durch noch mehr billiges Geld und Schulden. Doch im Unterschied zu den Jahren davor gelang die Belebung der Realwirtschaft nur partiell, und zwar in jenen Ländern, die wie China von einem recht tiefen Schuldenniveau aus starteten. China verdanken wir, dass es in den letzten Jahren in der Weltwirtschaft etwas Wachstum gegeben hat und gerade Deutschland hat über Exporte davon erheblich profitiert. Im Rest der Welt herrscht hingegen Stagnation, vor allem in Europa. Jetzt, wo auch China mit einem Schuldenberg von 28 Billionen US-Dollar und den Folgen von Fehlinvestitionen von mehr als sechs Billionen US-Dollar kämpft, droht die Weltwirtschaft unter der Last der Schulden zu kollabieren.

Die Notenbanken haben durch ihr radikales Eingreifen zwar in der akuten Finanzkrise einen Kollaps – vorerst – verhindert. Die Grundproblematik der zu hohen Schulden wurde jedoch noch größer. Jetzt versuchen sie – ähnlich wie Goethes Zauberlehrling – die Geister, die sie riefen, unter Kontrolle zu bringen und den Schuldenturm vor dem Einsturz zu bewahren.

Laut Theorie nach müsste das viele Geld eigentlich zu Inflation führen und so die Schulden allmählich entwerten. Der Schuldendruck wirkt aber deflationär, führt also zu fallenden Preisen. Dies liegt an den im Zuge des Schuldenbooms getätigten Fehlinvestitionen. Normalerweise werden Überkapazitäten und Fehlinvestitionen in Rezessionen bereinigt. Die entsprechenden Unternehmen gehen Konkurs. Durch das billige Geld wird diese Anpassung verhindert. So bleiben Unternehmen und auch Banken am Markt, die eigentlich nicht überlebensfähig sind. Weil für sie Liquidität wichtiger ist als Profitabilität, drücken sie das Preisniveau. Zugleich ist die Nachfrage tiefer, weil trotz niedriger Zinsen viele Schuldner schon am Ende ihrer Tragfähigkeit angelangt sind. Sie wollen schlicht nicht mehr konsumieren und investieren.

Käme es zu einer Deflation, also einer Phase fallender Preise, könnten die Schuldner nicht mehr die Illusion der Bedienung ihrer Schulden aufrecht halten. Der Schuldenturm würde unkontrolliert zusammenbrechen. Deshalb kämpfen die Notenbanken immer verzweifelter dagegen an.

Es ist kein Zufall, dass weltweit die Diskussion über die Einschränkung der Nutzung von Bargeld zugenommen hat. Es geht nur vordergründig um die Bekämpfung von Terrorismus, Kriminalität und Steuerhinterziehung, sondern in Wirklichkeit darum, eine Flucht aus dem Bankensystem zu verhindern, sobald die Negativzinsen in breiter Front greifen. Denn negative Zinsen auch auf Bankeinlagen sind der zwangsläufige nächste Schritt.

Gäbe es eine Alternative zur beschriebenen Abwärtsspirale? Ja, wir müssten uns eingestehen, dass die Schulden zu einem guten Teil nicht mehr werthaltig sind. Das Spiegelbild der Schulden sind die Vermögen; schrumpfen die Schulden, so schrumpfen in gleichem Maße die Vermögen. Angesichts eines Überhangs an faulen Schulden in der Eurozone von mindestens drei, eher fünf Billionen Euro keine angenehme Nachricht. Entweder verlieren die direkten Gläubiger, also Banken und Versicherungen und deren Kunden. Oder es bedarf einer staatlich organisierten Schuldenrestrukturierung, die mit Steuermitteln finanziert wird. Beides nicht populär. Dies gilt vor allem für Deutschland, das als Gläubigernation überproportional vom Schuldenschnitt getroffen wäre. Schlagartig würde deutlich, dass der Exportweltmeister seine Autos genauso gut hätte verschenken können, weil die Kunden ihre Kredite nicht bedienen. Der Euro würde dann als das erkannt, was er ist: ein zu enges wirtschaftliches Korsett, welches Ungleichgewichte zwischen den Ländern verschärft und übermäßige Verschuldung befeuert. Diese schmerzhafte Wahrheit zu verkünden, scheuen unsere Politiker.

So bleibt die EZB die einzige Kraft, die den Schuldenturm vor dem Einstürzen bewahren und den Euro eine Runde weiter bringen kann. Am Horizont zeichnet sich schon die nächste Stufe der Geldpolitik ab: „Helikoptergeld“, die direkte Finanzierung der Staaten und die Abschreibung der faulen Schulden über die Notenbankbilanzen. Wie bei den anderen „innovativen“ geldpolitischen Instrumenten dürfte die EZB aus Rücksicht auf Deutschland erst verspätet auf diesen Zug aufspringen, wenn ein starker Euro und zunehmende Spannungen im Euroraum sie dazu zwingen. Dann sollte es auch gelingen, Inflation zu erzeugen, um die Schulden zu entwerten. Die Inflation zu begrenzen, dürfte der EZB allerdings schwerfallen. Es droht das Szenario der „Ketchup-Inflation“: Ist erst einmal das Vertrauen in eine Währung dahin, fällt ihre Kaufkraft schnell auf den intrinsischen Wert eines Geldscheins – also null.

So oder so – am Ende werden Schulden und Vermögen entwertet sein. Die Abwärtsspirale, in die sich die Notenbanken begeben haben, kann sich gut und gerne noch eine Weile weiterdrehen. Mit jeder Drehung machen sie alles nur noch schlimmer.