Interview: „Euro- und Flüchtlingskrise sind ein explosiver Mix“
MONEY: Kaum haben wir die Euro-Krise halbwegs im Griff, da kommt mit der unkontrollierten Völkerwanderung eine neue gewaltige Herausforderung auf Europa zu. Was bedeutet das für unser gemeinsames Geld?
Stelter: Zunächst einmal: Der Euro ist eine Fehlkonstruktion. Eine komplette europäische Integration mit einer gemeinsamen Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ist ebenso wenig politisch gewollt wie ein geordnetes Konkursrecht für Krisenstaaten. Länder wie Griechenland und Frankreich hätten gern eine Transferunion, ohne ihre politische Selbstständigkeit aufgeben zu müssen. Damit würden die anderen EU-Länder – allen voran Deutschland – für deren Schulden einstehen. Deutschland hingegen spielt den Zuchtmeister und drängt alle zum Sparen. Jetzt, in der Flüchtlingskrise, dreht sich das um. Deutschland ist nicht mehr in der Position des Starken, wir werden zu Bittstellern. Eine massive Verschiebung der Machtverhältnisse.
MONEY: Das heißt, statt Griechenland ist Deutschland künftig der Bittsteller?
Stelter: So kann man das durchaus sehen. Bislang hatten wir das Geld und damit das Sagen. Jetzt sitzen die anderen Länder am längeren Hebel. Und deren Neigung, Deutschland in der Flüchtlingsfrage zu helfen, ist offensichtlich gering. Möglicherweise ist das auch eine Retourkutsche für die strengen Sparvorgaben aus Deutschland während der Euro-Krise. Wir sind darauf angewiesen, dass Italien und Griechenland ihre Außengrenzen sichern, und hoffen auf eine Verteilung der Flüchtlinge. Wenn die anderen das aber nicht machen, ist es nicht deren Problem. Die Flüchtlinge wollen ohnehin nach Deutschland, besonders nach den als Einladung verstandenen Äußerungen von Frau Merkel.
MONEY: Sind wir also erpressbar geworden?
Stelter: Ja, davon bin ich überzeugt. Deutschland ist erpressbar geworden. Griechenland wird einen Schuldenschnitt bekommen als Gegenleistung dafür, dass es seine Grenzen dichtmacht und Auffanglager einrichtet.
MONEY: Heißt das auch bald: Stabilitätspakt, ade?
Stelter: Die Regeln, die wir aufgestellt haben, werden wir lockern müssen, dazu ist Deutschland durch die Flüchtlingskrise jetzt zu sehr unter Druck. Das bedeutet: Der Stabilitätspakt wird definitiv aufgeweicht werden.
MONEY: Europa macht also künftig noch mehr Schulden. Kann das funktionieren?
Stelter: Wissen Sie, was das Groteske dabei ist? Kurzzeitig wird es uns in Europa damit sogar besser gehen. Es wird weniger gespart, die Konjunktur kommt in Schwung. Die Sozialisten in Europa werden jubeln und sagen: Haben wir doch alles richtig gemacht.
MONEY: Und langfristig?
Stelter: Langfristig wird das unsere Schuldenprobleme nur noch vergrößern. Hinzu kommt: Wir werden eine Bankenunion nicht mehr verhindern können. Das ist noch problematischer, denn in vielen Ländern wie Spanien, Portugal oder Irland sind private Haushalte und Unternehmen viel zu hoch verschuldet.
MONEY: Heißt das, der deutsche Sparer haftet am Ende für faule Kredite der Banken in Spanien und Portugal?
Stelter: Am Ende schon. Eine Bankenunion bedeutet die Vergemeinschaftung aller faulen Privatkredite. Wenn sich eine linke Agenda in Europa durchsetzt, droht uns zudem ein Euro-Zonen-Parlament mit eigener Budgethoheit, so wie es zum Beispiel der linke französische Ökonom Thomas Piketty oder der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis gefordert haben. Darin hätten die Krisenländer eine Mehrheit und könnten Ausgaben- und Konjunkturprogramme beschließen. Dann gäbe es nicht nur eine Sozialisierung der faulen bestehenden Schulden von Staaten und Privaten, sondern auch einen Blankoscheck für zukünftige Schulden. Am Ende steht dann die Monetarisierung der faulen Schulden über die Bilanz der EZB mit unabschätzbaren Folgen für den Geldwert.
MONEY: Wie realistisch ist ein solches Szenario?
Stelter: Sehr realistisch. Wenn der ehemalige Bürgermeister aus Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, Recht hat, dann kommen bis 2020 ungefähr zehn Millionen Menschen zu uns. Die werden im realen Leben sichtbar sein und eine Menge Geld kosten. Zugeständnisse an die europäischen Partner hingegen in puncto Ausgaben und Schulden sind etwas Abstraktes. Die Auswirkungen zeigen sich nicht unmittelbar. Deshalb wird die deutsche Politik in Europa große Zugeständnisse machen. Mittel- und langfristig hat das natürlich katastrophale Folgen.
MONEY: Aber wir könnten das Flüchtlingsproblem doch auch über höhere Steuern auf nationaler Ebene oder einen europäischen Flüchtlings-Soli finanzieren.
Stelter: In Deutschland vielleicht. Dass das in anderen Ländern funktioniert, wage ich auszuschließen. Die werden ihre ohnehin schwächelnde Wirtschaft nicht noch weiter belasten.
MONEY: Insbesondere die osteuropäischen Länder sperren sich gegen eine verbindliche, permanente Quotenregelung. Scheint nicht so weit her zu sein mit der europäischen Solidarität, oder?
Stelter: So kann man es sehen. Aber: Man kann den anderen Ländern nicht vorwerfen, dass sie restriktiver sein wollen als Deutschland. Nur weil Deutschland einen Sonderweg geht und unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen möchte, können wir das nicht auch von den anderen verlangen.
MONEY: Aber die Zuwanderung löst doch unser Demografie-Problem.
Stelter: Bei uns wird viel zu oft Flüchtlingspolitik mit Zuwanderungspolitik vermischt. Das Erste ist etwas Humanitäres und in der Regel etwas Temporäres. Das Zweite ist qualifizierte Zuwanderung, um der demografischen Entwicklung entgegenzuwirken. Die Flüchtlingsströme, die wir momentan erleben, werden schon aus Gründen der tendenziell schlechteren Qualifikation der Zuwanderer unsere Demografie-Probleme nicht lösen.
MONEY: Was schlagen Sie in puncto Flüchtlingspolitik vor?
Stelter: Es wäre um ein Vielfaches günstiger und effizienter, Flüchtlinge möglichst nah an ihrem Herkunftsort zu versorgen. Wenn wir wie die Engländer direkt in die Flüchtlingslager zum Beispiel im Libanon investieren und direkt von dort Zuwanderung organisieren würden, hätten wir ein geordnetes Verfahren.
MONEY: Und das wäre besser?
Stelter: Hart ausgedrückt sieht unser Auswahlmechanismus doch momentan so aus: Wer einen Schlepper bezahlen kann, nicht im Mittelmeer ertrinkt und obendrein die Route quer durch Europa bewerkstelligt, den nehmen wir auf. Diese Art der humanitären Hilfe ist ausgesprochen grausam, finde ich. Wir müssen in erster Linie die Krisenregionen wie Syrien befrieden und dann Wirtschafts- und Aufbauhilfe leisten. Die Lösung kann nicht sein, auf Dauer unbegrenzt Menschen aufzunehmen.
MONEY: Vizekanzler Sigmar Gabriel hat in einem Interview gesagt, Europa drohe angesichts der Krise „vor die Hunde zu gehen“. Zerbrechen der Euro und Europa an der Flüchtlingskrise?
Stelter: Sowohl die Euro- als auch die Flüchtlingskrise bergen für sich allein bereits enormes Sprengpotenzial. Zusammen kann das zu einem richtig explosiven Mix werden.
MONEY: Was kann passieren?
Stelter: Lassen Sie es mich so sagen: Glaube ich, dass der Euro in seiner jetzigen Form Bestand hat? Nein. Die Flüchtlingskrise kann der Fehlkonstruktion womöglich noch ein wenig Zeit kaufen. Perspektivisch überwiegen die negativen Folgen des Euro. Die Flüchtlingskrise stellt Europa zusätzlich auf eine harte Bewährungsprobe. Mangelnde Kontrolle der Zuwanderung und fehlende Bereitschaft zur Verteilung der Flüchtlinge werden Europa enorm belasten. Die Streitlinien bei Euro und Flüchtlingen laufen dabei quer durch Europa und sind nicht identisch. Darin liegt eine enorme Sprengkraft.
VITA: Dr. Daniel Stelter Geboren am 29. Mai 1964 in Berlin. Von 1990 bis 2013 Unternehmensberater bei der Boston Consulting Group (BCG), zuletzt Mitglied des BCG Executive Committee. Aktuell arbeitet Stelter als Strategieberater und ist Autor zahlreicher Sachbücher.
→ FOCUS-MONEY: „Euro- und Flüchtlingskrise sind ein explosiver Mix“, 28. Oktober 2015