“Das Desaster der ‚schwarzen Null‘”
Dieser Kommentar von mir erschien bei Capital Online:
Deutschlands Infrastruktur ist marode. Aber anstatt Geld dafür auszugeben, schmiedet die Koalition lieber teure Rentenpläne und brüstet sich mit der „schwarzen Null“. Daniel Stelter über die große Täuschung mit dem Überschuss im Staatshaushalt.
„Ich habe vor einiger Zeit erlebt, dass es hieß, in Deutschland sind die Straßen so marode, dass die Brücken zusammenbrechen. Dann habe ich einmal gesagt: Na ja, ich traue mich immer noch wie viele andere meiner Landsleute, mit dem Auto unterwegs zu sein, und fahre dabei auch über Brücken. Wir sind ein Land mit einer guten Infrastruktur.“ So, Wolfgang Schäuble, von 2009 bis 2017 deutscher Finanzminister, im Interview mit dem Deutschlandfunk.
Deutschlands Infrastruktur ist marode
Ähnlich dürften italienische Politiker bis vor ein paar Wochen argumentiert haben. Dann stürzte die Brücke in Genua ein. Nun mag es bei uns in der Tat nicht so weit kommen, dass Brücken zusammenstürzen. Doch die Aussage, wonach Deutschland ein Land mit guter Infrastruktur sei, ist objektiv falsch. Laut Aussage der Bundesregierung fallen etwa 14 Prozent der Autobahnbrückenfläche in die Zustandskategorie „nicht ausreichend“ oder schlechter. Folge: Tempolimits oder Teilsperrungen. Prominentestes Beispiel ist die Leverkusener Brücke. Auf kommunaler Ebene gelten rund 10.000 Brücken als nicht mehr sanierungsfähig und müssen ersetzt werden.
Bei den Straßen sieht es nicht besser aus. 17,5 Prozent der Autobahnstrecken sind reparaturbedürftig, bei den Bundesstraßen sind es 33,9 Prozent. Mehr als zehn Prozent der Autobahnen und 19 Prozent der Bundesstraßen müssten sogar umgehend saniert werden. In NRW sind fast 50 Prozent der Landesstraßen in den kritischen Kategorien anzusiedeln. Prognosen gehen davon aus, dass besonders der Anteil der sehr schlechten Straßen bis 2028 drastisch steigen wird.
Wer da meint, dass das subjektive Gefühl der Bevölkerung täuscht, der leugnet die Fakten. Dabei ist es nicht nur die öffentliche Infrastruktur, die verfällt. Deutsche Schulen leiden nicht nur an undichten Dächern und kaputten Toiletten, sondern auch an Lehrermangel und unzureichender technischer Ausstattung. Die Bundeswehr ist eine Lachnummer ohne funktionsfähiges Material. Bei digitaler Infrastruktur belegt Deutschland einen der letzten Plätze unter den OECD-Ländern. Während in Deutschland rund zwei Prozent der Haushalte einen Glasfaseranschluss haben, liegt der Wert im vermeintlich ärmeren Spanien bei über 50 Prozent.
Von wegen „sparen“!
Dafür haben wir aber die „schwarze Null“ schallt es dann aus der Politik. Sie ist eine noch größere Täuschung, als die Behauptung wir wären ein Land mit guter Infrastruktur. Die Politik brüstet sich einer „Leistung“, die nun wahrlich keine Leistung ist. Hinter dem Überschuss im Staatshaushalt stehen nämlich folgende Faktoren:
- Die hohen Einkommen, die wir in den letzten Jahren erwirtschaftet haben. Sie sind nicht nachhaltig, sondern die Folge von Sonderfaktoren wie dem schwachen Euro und den tiefen Zinsen und der deutlichen Zunahme der weltweiten Verschuldung.
- Die sprudelnden Steuereinnahmen, die vor allem deshalb steigen, weil der Staat uns immer mehr von unserem Geld abnimmt. Stichwort: kalte Progression bei der Lohn- und Einkommenssteuer. Allein durch die normale Inflation steigt der Anteil, den sich der Staat von unseren Einkommen nimmt.
- Die sinkenden Zinsausgaben des Staates. Direkte Folge der Eurorettungspolitik, die alle Lasten der EZB aufbürdet. Aus der Zinsersparnis resultieren seit 2008 Einsparungen für den Staat von über 300 Milliarden Euro.
Die „Sparleistung“ von Wolfgang Schäuble lag also darin, die Ausgaben weniger stark wachsen zu lassen als die Einnahmen.
Schwarze Null fördert Kapitalexport
Die Nebenwirkungen der „schwarzen Null“ sind erheblich. Nicht nur verfällt die Infrastruktur und damit die Zukunftsfähigkeit des Landes. Das staatliche Sparen fördert zusätzlich den Ersparnisüberhang bei uns, der mit den Exportüberschüssen korrespondiert. 2017 haben die privaten Haushalte 5,1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) gespart, die Unternehmen 2,6 Prozent und der Staat 0,8 Prozent. In Summe betrug der Ersparnisüberhang Deutschlands 8,5 Prozent des BIP und damit auch der Außenüberschuss.
Dieser Überschuss führt nicht nur zu zunehmender Kritik im Ausland, sondern erhöht auch die Gefahr protektionistischer Eingriffe, wie die Rhetorik nicht nur des US-Präsidenten unterstreicht. Viel schwerer wiegt, dass wir unsere Ersparnisse im Ausland traditionell schlecht anlegen. Erinnert sei an die Finanzkrise, in der wir zwischen 400 und 600 Mrd. Euro mit schlechten Investments verloren haben. Heute sind es unter anderem die Target2-Forderungen der Bundesbank, die einem zins- und tilgungsfreien Kredit an das Ausland entsprechen. Ohnehin ist es keine gute Idee, in einer zunehmend überschuldeten Welt der Gläubiger zu sein.
Nun ist nicht nur der Staat nicht für diesen Überschuss verantwortlich, er leistet aber einen erheblichen Beitrag. Ein normales Haushaltsdefizit von rund drei Prozent des BIP – also entsprechend dem, was im Vertrag von Maastricht als Höchstwert ausgegeben wurde – würde den Ersparnisüberhang in Deutschland und damit den Handelsüberschuss um 3,8 Prozentpunkte senken. 4,7 Prozent Überschuss wäre zwar immer noch erheblich, der Abbau des Überschusses wäre jedoch ein wichtiges Signal an das Ausland und würde die Gefahr von Protektionismus deutlich senken. Und wir würden unser Geld besser anlegen. Lieber in Deutschland eine gute Infrastruktur als eine Forderung an das Ausland, die nicht bedient wird.
In Wirklichkeit steigen die Staatsschulden
Korrekt gerechnet hat Italien weniger Schulden als Deutschland und diese Schulden sind perspektivisch weitaus tragfähiger. Das hat damit zu tun, dass Staaten nicht wie Unternehmen bilanzieren. Die offiziellen Zahlen zur Verschuldung sind die ausstehenden Kredite und Schuldverschreibungen der Staaten, nicht hingegen die Zusagen für künftige Leistungen. Unternehmen müssen beispielsweise für künftige Pensionsleistungen entsprechende Rückstellungen und Rücklagen bilden und laufend Geld für diese Verpflichtungen zurücklegen.
Staaten machen das nicht. Die Stiftung Marktwirtschaft rechnet vor, dass Deutschland sauber gerechnet Staatsschulden von über 160 Prozent des BIP und nicht wie offiziell ausgewiesen rund 60 Prozent aufweist. Im Jahr 2016 ist die Nachhaltigkeitslücke um zwölf Prozentpunkte gegenüber dem Jahr 2015 gewachsen. Während die Schlagzeilen von Politik und Medien die „schwarze Null“ feierten, wuchs in Wahrheit die deutsche Staatsschuld um zwölf Prozentpunkte allein in einem Jahr! Direkte Folge der Zusagen für höhere und frühere Renten der großen Koalition zu der Zeit. Die jüngsten Beschlüsse der Regierung zum Rentenniveau haben die Schulden weiter ansteigen lassen.
Merkwürdige Politik
Wir verfolgen eine merkwürdige Politik. Alles wird darangesetzt, die explizite Staatsschuld zu senken, während gleichzeitig die implizite Staatsschuld immer mehr aus dem Ruder läuft. Dabei sollten wir genau das Umgekehrte machen. Wir müssen die implizite Staatsschuld senken und die explizite erhöhen. Das würde auch unsere Exportabhängigkeit reduzieren.
Da die privaten Haushalte mit Blick auf die Altersvorsorge in der Tat sparen sollen, bleibt nur eine Reduktion der Ersparnisse der Unternehmen durch entsprechende Investitionsanreize oder eine höhere Besteuerung und ein Defizit des Staates. Eine zusätzliche Belastung der privaten Haushalte verbietet sich von selbst, weshalb die ganze Steuererhöhungsdiskussion grundfalsch ist. Wir brauchen keine höhere Steuer für „Reiche“, wir brauchen keine Abschaffung der Abgeltungsteuer, keine höhere Erbschaftsteuer und auch keine Vermögensteuer. Wir brauchen Unternehmen, die mehr investieren – oder eben, wenn sie es nicht tun, mehr Steuern zahlen –, und einen Staat, der mehr ausgibt. Das Geld dafür ist da und es ist allemal besser, es im Inland auszugeben, als es im Ausland zu verlieren.
Damit würden wir das nachhaltige Wachstumspotenzial Deutschlands stärken und auch die implizite Staatsschuld reduzieren und besser tragbar machen. Genügen würde es allerdings nicht. Die Politiker müssten sich an eine echte Reform machen, um die verdeckten Staatsschulden in Form von unfinanzierbaren Versprechen für Renten, Pensionen und Gesundheitsversorgung zu reduzieren. Deutlich höhere Renteneintrittsalter, geringere Rentenniveaus, mehr Eigenbeteiligung bei der Vorsorge sind die Stichworte.
Unpopulär, aber unabdingbar sind diese Eingriffe. Entlastet der Staat die Bürger heute und legt zugleich die Grundlagen für künftigen Wohlstand, indem er investiert, wäre die Chance gegeben, diese Reformen auch politisch durchzusetzen. Heute kasteien wir uns mit den laufenden Ausgaben und laden uns untragbare Lasten für die Zukunft auf. In der Zukunft sollten wir das Gegenteil machen.