Best of bto 2020: Intelli­gente Wirtschafts­politik jetzt!

Folgender Kommentar von mir erschien im Juli 2020 bei manager magazin und FOCUS:

Nicht erst seit Corona wird immer deutlicher, dass vieles entschieden falsch läuft mit der Wirtschaftspolitik in Deutschland. Trotz eines fast zehnjährigen Aufschwungs und eines deutlichen Rückgangs der Arbeitslosigkeit nimmt die Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung zu. Ein „Weiter-so“ dürfte nicht nur politisch immer brisanter werden, es wäre grundlegend falsch. Wir brauchen eine massive Kehrtwende hin zu einer intelligenten Wirtschaftspolitik, denn nur so können wir die Zukunft sichern.

Eine Vielfalt von Problemen

Obwohl Deutschland sich deutlich besser als andere Länder von der Finanz- und Eurokrise erholt hat, lag das Wachstum auch bei uns bis Corona unter dem Vorkrisentrend von 2007.

  • Eine wichtige Ursache war dabei der deutliche Rückschritt der Produktivität. Auch dies keine Entwicklung, die allein auf Deutschland beschränkt ist. Dennoch ist ein Nullwachstum der Produktivität, wie zuletzt festgestellt, ein schlechtes Omen für ein Land, das vor einem erheblichen Rückgang der Erwerbsbevölkerung steht.
  • Zugleich sind wir immer abhängiger vom Export. Während die Binnennachfrage zurückblieb, wurden die Exporte zu einer immer entscheidenderen Stütze der Wirtschaft.
  • Wesentliche Ursache für die geringe Binnennachfrage sind die seit Jahren langsam steigenden Löhne, die immer höhere Abgaben- und Steuerlast und die unzureichenden Investitionen des Staates in Infrastruktur, Innovation und Digitalisierung.
  • Die Exportüberschüsse, die wir erzielen, führen zu zunehmender Unzufriedenheit bei unseren Handelspartnern – nicht nur in den USA eines Donald Trumps – und dienen als wesentliches Argument, wenn es darum geht, Zahlungen von uns zu fordern, wie zuletzt beim EU-Gipfel zu beobachten.
  • Leisten wir dann Transfers – in Brüssel nun vereinbart in Höhe von mindestens 80 Milliarden Euro – ist das ökonomisch so, als hätten wir unsere Autos verschenkt. Das kann man machen, nur muss man dann auch offen fragen, wer die Lasten dieser Geschenke zu tragen hat und wer davon profitiert. Konkret geht der Nutzen an die Eigentümer deutscher exportorientierter Firmen und die Kosten tragen alle Bürger.
  • Hinzu kommt, dass mit Exportüberschüssen entsprechende Kapitalexporte einhergehen. Studien zeigen nun, dass kein Land die Ersparnisse im Ausland so schlecht anlegt wie wir Deutschen. Wo immer es etwas zu verlieren gibt – zum Beispiel am US-Immobilienmarkt –, wir sind ganz vorne dabei. Mindestens 400 Milliarden gingen allein dort verloren.
  • Die Deutschen vollbringen das „Wunder“, gut zu verdienen, zugleich aber über deutlich weniger Vermögen zu verfügen, als die Nachbarn, vor allem die Bürger der Länder, denen wir mit unseren großzügigen Zahlungen helfen. Liegt das Privatvermögen in Deutschland bei dem 3,8-Fachen des BIP, freuen sich die Italiener über Privatvermögen vom 5,5-Fachen des BIP. Auch die Rentenansprüche sind in den meisten Nachbarländern deutlich höher als bei uns.
  • Hinzu kommt, dass die Vermögen bei uns besonders ungleich verteilt sind. Dies liegt aber nicht daran, dass unsere Reichen über mehr verfügen als die Reichen in Italien, Frankreich oder Spanien, sondern dass bei uns der Mittelstand kaum vermögend ist. Da tröstet es wenig, dass die Vermögensverteilung in Deutschland deutlich gleicher ist, wenn man Renten und Pensionsansprüche berücksichtigt, was man natürlich sollte.
  • Derweil gilt der deutsche Staat als „reich“, zumindest im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn, denen wir nun großzügig Geld schenken. Dies aber nur, weil wir die zweithöchste Abgabenlast der OECD-Staaten haben und zugleich die Zinspolitik der EZB erhebliche Mittel von den Sparern zum Staat umverteilt.

Kurz gefasst sind wir ein Land mit enttäuschender realer Netto-Einkommensentwicklung, geringen Vermögen, die zudem auch noch ungleich verteilt sind und einem Staat, der den Bürgern viel Geld abnimmt, unzureichend investiert und dessen vermeintlicher Reichtum von unseren Politikern dahingehend interpretiert wird, dass wir uns alles Mögliche leisten können: von einer großzügigen Migrationspolitik über eine teure Vorreiterrolle in der Energiewende bis hin zur Rolle des europäischen Zahlmeisters.

Nicht leistbare Zusagen

Bis jetzt ging diese Politik noch einigermaßen gut. Das Wachstum vor Corona lief ausreichend, die sozialen Ausgabenprogramme der Regierung – Mütterrente, Rente mit 63 – stellten die Bürger zufrieden und die hohen Abgaben hat ja ohnehin nur eine Minderheit der Bevölkerung zu schultern, lebt doch schon mehr als die Hälfte von Transfers. Doch auch hier gilt der alte Spruch Margaret Thatchers, „dass es solange gut geht, wie einem das Geld anderer Leute nicht ausgeht“.

Doch genau vor diesem Punkt stehen wir: der völligen Überforderung. Verschiedene Faktoren kommen zusammen:

  • Entscheidende Schlüsselindustrien stehen vor einem existenzbedrohenden Umbruch.
  • Die Erwerbsbevölkerung beginnt in diesem Jahrzehnt zu schrumpfen, während die Zahl der Rentenempfänger stark steigt.
  • Die unzureichende Integration der Migranten in den Arbeitsmarkt – oft der unzureichenden Qualifikation geschuldet – wird zu einer zunehmenden Last in einer nicht mehr so stark wachsenden Wirtschaft.
  • Die unterlassenen Investitionen des Staates werden zu einem Problem. Bei der wichtigsten Infrastruktur des 21. Jahrhunderts – dem Internet und dem Mobilfunk – hinkt Deutschland – weit hinterher.
  • Der Einstieg in eine Transfer- und Schuldenunion, der diese Woche in Brüssel beschlossen wurde, bedeutet erhebliche Lasten für die hiesigen Steuerzahler. Die Regierungen von Paris, Rom, Madrid und den anderen Empfängerstaaten sehen nun ein neues Instrument, um Geld aus Deutschland zu erhalten, und es ist unzweifelhaft, dass die EU in Zukunft Kredite in Billionenhöhe aufnehmen wird, für deren Tilgung wir mindestens mit unserem Anteil am EU-Haushalt – ca. 30 Prozent – haften und dies nur unter der Annahme, dass nicht andere Staaten dem britischen Beispiel folgen. Ich denke, die Niederländer werden sich für ihre haushaltspolitische Vernunft nicht in alle Ewigkeit von Macron und anderen beschimpfen lassen.

Die Inflation wird in Folge der immer offeneren Finanzierung der Staaten und der EU durch die EZB zurückkehren.

Die Wirtschaftskraft erodiert, während die Lasten steigen. Das können wir uns auf Dauer nicht leisten. Wir brauchen eine komplette Neuorientierung in der Wirtschaftspolitik. Vor allem müssen wir uns Folgendes verdeutlichen: Der Druck in der EU resultiert aus der Exportabhängigkeit der Wirtschaft.  Diese ist auch ein Ergebnis der unzureichenden Binnennachfrage, verursacht durch unzureichende reale Nettoeinkommenszuwächsen und unterlassene Investitionen des Staates. Der relative Reichtum des Staates führt in Deutschland und in der EU zu Forderungen nach mehr „europäischer Solidarität“, ist aber eine wesentliche Ursache für die geringen privaten Vermögen in Deutschland.

Damit wird auch die Lösung offensichtlich: Wir müssen uns von falschen Glaubenssätzen verabschieden, vor allem davon, „Exportweltmeister“, „schwarze Null“ und „viel Umverteilung“ (im Inland und in der EU) seien gut. Nein, sie sind es nicht.

Reiche Bürger statt reicher Staat

Wie hier schon vor Monaten erläutert, ist Italien ein sehr reiches Land. Den erheblichen Staatsschulden stehen noch eindrücklichere private Vermögen entgegen. Die privaten Schulden Italiens sind geringer als die bei uns. Auch die Vermögensverteilung in Italien ist ausgeglichener als bei uns. Das Problem in Deutschland besteht nicht darin, dass die Reichen zu reich sind, denn sie dürften nicht mehr haben als die reichen Italiener. Unser Problem ist, dass die breite Masse der Bürger über kein oder nur geringe Vermögen verfügt.

Statt die deutschen Steuerzahler zusätzlich zu belasten, um „europäische Solidarität“ zu finanzieren und Vermögenssteuern und -abgaben zu diskutieren, um „Gerechtigkeit“ herzustellen, in Wahrheit aber nur das Gesamtvermögen der Deutschen weiter zu senken, sollten wir intelligent handeln. So schwer wäre das gar nicht.

Konkret schlage ich vor, dass der Staat jedem Deutschen unter 65 Jahren 25.000 Euro schenkt. Bei überschlägig 55 Millionen Deutschen in dieser Alterskohorte entspricht dies 1375 Milliarden Euro, rund 40 Prozent des BIP. Konkret sollten wir Folgendes machen:

  • Die Bundesrepublik gründet einen Anlagefonds nach dem Vorbild anderer Staatsfonds wie jener von Norwegen und Singapur.
  • Dieser Fonds investiert unter professionellem Management ohne politische Einflussnahme das Geld global diversifiziert, mit dem Ziel eine nachhaltige Rendite zu erwirtschaften.
  • Die Bundesrepublik Deutschland macht Schulden, um den Fonds entsprechend auszustatten, alternativ (und eigentlich besser) bietet sich die Mobilisierung der TARGET2-Guthaben an, wie ausführlich hier erläutert.
  • Jeder Bürger unter 65 Jahren bekommt einen Anteil an dem Fonds im Wert von 25.000 Euro. Über das Geld kann der Bürger frei verfügen, sobald er das 65. Lebensjahr erreicht und mindestens zehn Jahre in den Fonds investiert hat.
  • Die Grenze der Begünstigung bei 65 Jahren ist darin zu sehen, dass ein Großteil des Vermögens in Deutschland ohnehin bei den über 65-Jährigen liegt und etwaige Guthaben hier nicht genutzt, sondern perspektivisch vererbt werden.
  • Der Staat würde den Bürgern die Ursprungseinzahlung von 25.000 Euro garantieren. Die Verzinsung käme dann hinzu.
  • Ergänzend sollte der Staat den Bürgern anbieten, zusätzlich in diesem Fonds zu sparen. Hier sollte neben der Einzahlung eine Mindestverzinsung – zum Beispiel ein Prozent pro Jahr – garantiert werden, um die Abneigung der Bürger gegen vermeintlich riskante Anlagen in Aktien und Immobilien zu überwinden.

Das Ergebnis wäre sehr interessant und vorteilhaft:

  • Die Deutschen hätten ein höheres Privatvermögen von überschlägig dem 4,2-Fachen des BIP, was zwar immer noch deutlich hinter Franzosen, Spaniern und vor allem Italienern liegt, aber bei entsprechender Anlage in den kommenden Jahrzehnten deutlich anwachsen sollte.
  • Die Ungleichheit der Vermögensverteilung würde deutlich sinken.
  • Der deutsche Staat wäre mit einer Verschuldung von rund 110 Prozent des BIP trotz Corona und „Programm zur Wohlstandsmehrung der Bürger“ nur so hoch verschuldet wie der Durchschnitt der Eurozone und immer noch deutlich geringer als Frankreich, Spanien und Italien.
  • Das Argument, der „reiche deutsche Staat“ könne und solle für alles eintreten, verlöre an Gewicht.
  • Zugleich hätte der deutsche Staat genug Schulden, um an der aus meiner Sicht unausweichlichen großen Lösung für die europäischen Staatsschulden teilzunehmen und so wie die anderen großen Staaten davon zu profitieren.

Binnenwirtschaft, statt Exporte, die wir selbst bezahlen

Damit nicht genug. Zwar hilft es, die Vermögen der Deutschen zu erhöhen, wir müssen aber zugleich die Binnenwirtschaft stärken. Gerade mit Blick auf die Entwicklung der Erwerbsbevölkerung ist es dringend geboten, Arbeit so attraktiv wie möglich zu machen. Nur, wenn wir die Binnennachfrage stärken, reduzieren wir unsere Exportabhängigkeit und damit auch die Erpressungsmöglichkeit in nächtlichen Sitzungen in Brüssel. Folgende Faktoren beeinflussen ein Erhöhen der Binnennachfrage:

  • Abschied von der Politik der “schwarzen Null”. Diese ist aus ökonomischer Sicht ohnehin nicht begründbar und bei genauerer Betrachtung ohnehin eine Mogelpackung. Die Schulden des deutschen Staates sollten im Einklang mit der Wirtschaftsleistung wieder wachsen, auf jeden Fall nicht schneller als im Schnitt der anderen Staaten des Euroraumes.
  • Sobald der Staat Schulden macht, führt dies zu einer Stärkung der Binnennachfrage und einer Reduktion des Exportüberschusses.
  • Dies würde umgekehrt auch bedeuten, dass unsere Ersparnisse im Inland statt im Ausland investiert würden, was angesichts des verheerenden Ergebnisses der bisherigen Geldanlage ein großer Fortschritt wäre.
  • Den finanziellen Spielraum sollte der Staat zum einen dazu nutzen, den Investitionsstau von geschätzt 450 Milliarden Euro abzuarbeiten.
  • Zum anderen gilt es, die Massenkaufkraft zu stärken, durch eine breite Erhöhung der verfügbaren Einkommen. Durch einen Umbau des Steuer- und Abgabensystems wird der Faktor Arbeit entlastet. Jedem Bürger muss von jedem zusätzlich verdienten Euro mindestens 51 Prozent bleiben. Heute liegt die Grenzbelastung gerade bei gering bezahlten Tätigkeiten bei bis zu 80 Prozent.
  • Im Gegenzug kann über eine höhere Belastung von Vermögen nachgedacht werden, weniger mit dem Ziel der Reduktion von Ungleichheit als mit dem Ziel, den Anreiz zu erhöhen, die Vermögen produktiv einzusetzen.

    Der Exportweltmeister wäre damit Geschichte, was entgegen der allgemeinen Wahrnehmung nicht zu einer Wohlstandsreduktion, sondern zu einer Wohlstandssteigerung hierzulande beitragen würde.

    Ökonomisches Verständnis fehlt

    Eine Vielzahl weiterer Maßnahmen wären notwendig, um Deutschland für die Zukunft fit zu machen. Die dargelegten Punkte wären aber zentral, um das Land vom bisherigen Kurs der Wohlstandsreduktion abzubringen.

    Ich bin für das Gründen einer Task Force „Programm zur Wohlstandsmehrung der Bürger und des Staates“, um ein gut durchdurchdachtes, effizientes und realisierbares strategisches Konzept zur Beratung von Staat und Wirtschaft zu erarbeiten. Dies sollte schnell geschehen, damit es innerhalb der kommenden fünf Jahre umgesetzt werden kann. Wer macht mit?

    manager-magazin.de: “Intelligente Wirtschaftspolitik jetzt!”, 25. Juli 2020