Kampfbuch von Leichtgewichten
„Die Zahlentrickser“ ist der Titel eines neuen Buches von Gerd Bosbach (Hochschulprofessor für Mathematik und Statistik) und Jens Korff (freiberuflicher Historiker). Darin kritisieren die beiden die aktuelle „Demografie-Panikmache“ als „Gruselkabinett“ und widerlegen – ihrer Meinung nach – die negativen Prognosen. Im aktuellen Cicero erschien ein umfangreicher Nachdruck – leider nicht online verfügbar – den ich sehr interessant fand. Denn letztlich gehört ja auch bto zu den „Panikmachern“, die aufgrund der demografischen Entwicklung vor schwachem Wachstum und ungedeckten Verbindlichkeiten warnen. Ist das alles falsch? Sehen wir uns die Argumentation nun genauer an:
- „In dem Schreckensbild (…) steht eine Masse an immer älter werdenden Alten wenigen jungen Menschen gegenüber, auf deren Schultern die gesamte Last liegt (…).“ – bto: so zumindest alle Prognosen auch zur Entwicklung der öffentlichen Schuldenlast.
- „Aber selbst wenn die Vorhersagen über eine steigende Lebenserwartung, weniger Kinder und mehr Rentner, tatsächlich so eintreffen sollten, wie Demografen sie skizzieren – wäre das denn wirklich ein so riesiges soziales und wirtschaftliches Problem?“ – bto: Ich denke ja.
Daraufhin bringen die Autoren vier Einwände:
- Langfristprognosen seien unzuverlässig.
- Alterung war in der Vergangenheit kein Problem.
- Demografie sei nicht „für die gesellschaftliche Entwicklung verantwortlich“.
- Die „Angstmacher“ würden trickreich vorgehen.
Nichts wäre mir lieber, als wenn meine Besorgnis unbegründet wäre. Deshalb schauen wir uns die Einwände genauer an:
Zu den Prognosen: Hier machen die Autoren die wenig überraschende Aussage, dass viele Dinge wie Wiedervereinigung, Facebook und Irakkrieg vor 25 Jahren nicht vorhersehbar waren. Deshalb könne man keine Vorhersage für die kommenden 25 Jahre machen. Was sehr wohl voraussagbar war, wie viele Menschen 25 Jahre später 26 waren. Da kam vielleicht etwas mehr oder weniger Zuwanderung hinzu. Da es jedoch glücklicherweise keine Pandemie gegeben hat, sind die Zahlen sehr robust und stabil. Das gilt auch für die Vorhersage künftiger Bevölkerungszahlen und vor allem der Relationen zwischen den Alterskohorten. Damit sind die Prognosen auf der Mengenseite nicht so unsicher, wie die Autoren suggerieren.
Was man sagen könnte, ist, dass es überraschende Produktivitätsentwicklungen geben könnte, die eine entsprechende ökonomische Basis für die Finanzierung der alternden Gesellschaft legen. Das könnte der Fall sein, da sich in der Tat entsprechende Umbrüche andeuten. Bisher schlagen sie sich nicht in den Produktivitätszahlen nieder und Skeptiker wie Robert Gordon führen gute Argumente an, dass wir eben nicht auf einen Produktivitätsschub hoffen dürfen.
Fazit: Die Argumentation überzeugt nicht, weil es gerade bei Demografie relativ leicht ist, Langfristprognosen zu machen.
Zur Vergangenheit, in der Alterung kein Problem war (Vorbemerkung: Es ist ohnehin kein „Problem“, weil wir uns doch darüber freuen können, länger auf dieser schönen Welt zu sein.): „Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg von 1900 bis 2000 um mehr als 30 Jahre; der Anteil der unter 20-Jährigen halbierte sich von 44 auf 21 Prozent. (…) Nach der heutigen Logik der Demografen hätte diese „Katastrophe“ drastische Kürzungen der Renten und eine drastische Verlängerung der Arbeitszeit nötig machen müssen. Was geschah stattdessen? Der Sozialstaat wurde im vergangenen Jahrhundert massiv ausgebaut, die wirtschaftliche Entwicklung war immens. Und bei alledem wurden die Arbeitszeiten in einem heute nicht mehr vorstellbaren Maß reduziert. (…) Die Demografie-“Logik“ erweist sich also als Trugschluss, sobald wir sie rückwirkend auf das 20. Jahrhundert anwenden.“
Das ist doch spannend, vor allem, wie nonchalant hier verschiedene Dinge miteinander vermischt werden. Da ist:
- Zunächst der Zeitraum: Die Wirkung der Alterung setzte vor allem gegen Ende des Jahrhunderts ein, weil erst dann die Erwerbsbevölkerungen zu sinken begannen.
- Davor gab es eine erhebliche Belebung durch den Fakt, dass der Anteil der abhängigen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung massiv zurückgegangen ist. Es gab viel weniger Kinder, während die Babyboomer noch gearbeitet haben. Diese Relation ist viel wichtiger als die reine Betrachtung der Rentner relativ zu den Erwerbstätigen. So machen das auch seriöse Analysten wie beispielsweise die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich.
- Hinzu kommt eine Phase sehr hohen wirtschaftlichen Wachstums, ausgelöst neben der positiven demografischen Entwicklung durch Globalisierung und vor allem deutliche Produktivitätsfortschritte.
Für die Zukunft ist gerade hier eine Umkehr der Entwicklung absehbar bzw. schon eingetreten. Produktivität hatten wir bereits, hinzu kommt der deutliche Anstieg der abhängigen Bevölkerung, der einen langjährigen Trend beendet. Nicht wenige Volkswirte erwarten alleine deshalb mehr Inflation, höhere Zinsen und nachhaltig tieferes Wachstum.
Fazit: Hier werden historische Daten extrapoliert (was die Autoren bei den „Langfristprognosen“ – siehe oben – doch so kritisieren). Ein Blick in die Geschichte ist immer lohnend, er darf aber nicht so oberflächlich bleiben wie hier.
Was uns zum Punkt führt, dass “Demografie (…) nicht verantwortlich für die gesellschaftliche Entwicklung” sei. Da fragt man sich, wer denn so etwas behauptet. Natürlich liegt es nahe, ein bestimmtes Wahlverhalten der abhängigen Bevölkerungsteile zu erwarten, was die Politik schon heute zu offensichtlichen Wahlgeschenken verleitet. Dann kommen aber die Beispiele der Autoren, die leider, wie schon der Blick in die Geschichte, über die Qualität von „anecdotical evidence“ nicht hinauskommen:
- „Wenn die Kinderzahl pro Frau so wichtig wäre, (…) müsste es Frankreich ökonomisch deutlich besser gehen als Deutschland. Immerhin bekommt in Frankreich jede Frau etwa zwei Kinder, in Deutschland im Durchschnitt nur 1,5.“ – bto: Das ist interessant. Denn es dürfte Frankreich in der Tat in den kommenden Jahren besser gehen. Wir haben in den letzten 15 Jahren Lohndumping betrieben und von einem schwachen Euro (und nun tiefen Zinsen) profitiert. In Frankreich stiegen die Löhne im Gleichklang mit der Produktivitätsentwicklung, die Wirtschaft hat eine andere Struktur, die nicht im gleichen Maße von der Globalisierung profitiert. Es gibt eine hohe Jugendarbeitslosigkeit unter anderem wegen eines starren Arbeitsmarktes. Es ist also unzulässig, einfach so zu vergleichen und es nur auf die Demografie zu schieben.
- „Wie geht es den Staaten dieser Welt mit jungen Bevölkerungen? Das sind zum Beispiel Bolivien, Bangladesch oder die Philippinen. Sie sind arm. Wer dagegen sind die reichen Staaten? Deutschland, Japan, die Schweiz, Australien – also die mit einer „alten“ Bevölkerung.“ – bto: Oh Mann, wann begann China, „reich“ zu werden? Als es das Bevölkerungswachstum begrenzt hat. Das ist entscheidend, um mehr Ressourcen in Investitionen und Bildung zu stecken. Das ist genau der Effekt, den wir auch durchlaufen haben. Nun kommt aber eine neue Phase, der man mit derartigen Pauschalurteilen nicht begegnen sollte. Das ist erschreckend geringes Analyseniveau.
- „Seit Jahren wird bei uns über einen demografisch bedingten Ärztemangel geklagt. Wie kann das sein? An zu wenig jungen Leuten hat es also nicht gelegen. Den Regierungen war und ist seit Jahrzehnten die Ausbildung neuer Ärzte zu teuer.“ – bto: Inhaltlich ist es richtig, hat aber nichts mit der Demografie zu tun.
Fazit: eine Fortsetzung der Argumentation mit hinkenden Beispielen und Vergleichen. Erschreckend.
Was zum Einwand Nummer vier führt, wonach “die Angstmacher ihre Zukunftsprognosen sehr trickreich präsentieren”. Da ist man versucht zu sagen, trickreicher als die Autoren dieses Buches, die an der Oberfläche herumturnen.
Zunächst zum Rückgang der Erwerbsbevölkerung, die nach Zahlen des Statistischen Bundesamts, die die Autoren zitieren, zwischen 2013 und 2060 von 49 Millionen auf 34 Millionen zurückgeht. Hierzu merken Bosbach und Korff an:
- „Der Rückgang um 30 Prozent ist keine Herausforderung für morgen, sondern eine, für deren Bewältigung wir 47 Jahre Zeit haben. Aufs Jahr betrachtet, liegt der Rückgang bei unter 0,8 Prozent.“ – bto: Leider ist die Entwicklung, wie hier suggeriert, nicht linear, sondern gerade mit den Babyboomern geht in den kommenden 15 Jahren ein großer Teil dieser Gruppe in Rente. Das müsste auch den Autoren klar sein, die hier bewusst in die Irre führen.
- „Eine deutlich kleinere Bevölkerung braucht zu ihrer Versorgung aber auch weniger Erwerbstätige. Es kommt also nicht auf die absolute Zahl an, sondern auf den Anteil der Erwerbspersonen an der Gesamtbevölkerung.“ – bto: Da ist zuzustimmen. Da aber der Anteil überproportional schrumpft, ist es sehr wohl ein Problem.
- „Sowohl für 2013 wie für 2060 wurde ein Renteneintrittsalter von 65 Jahren unterstellt. Und das, obwohl die Lebenserwartung nach derselben Prognose um 6,5 Jahre steigen soll. Und obwohl die Rente ab 67 schon für 2029 beschlossen ist! Warum sollten wir gut sechs Jahre länger leben, unter Arbeitskräftemangel leiden und dennoch keinen Tag länger arbeiten?“ – bto: Das ist das erste nützliche Argument und auch nicht sonderlich innovativ. Für die Betroffenen stellt es jedoch eine Zusagenkürzung dar (nicht populär) und damit genau dass, was die Warner vor den Folgen der Alterung anstoßen wollen. Einen Wandel in der Politik. Genügen würde es nicht, weil auch die Belastung durch Umverteilung steigen wird. Die SPD verspricht doch gerade, dass es eben keine Erhöhung auf 70 Jahre geben wird. Und die Autoren selber fordern ganz andere Themen, was das eigentliche Ziel des Buches ist (siehe unten).
Fazit: Es ist deshalb kein „Problem“, weil die Autoren die Lösung des Problems erwarten – was faktisch richtig ist, natürlich wird es „gelöst“ werden – allerdings zu erheblichen Kosten und Verteilungskonflikten.
Nach der bei nüchterner Betrachtung recht harmlosen und in weiten Teilen unfundierten Kritik an den Diskussionen zum Thema „Demografie“ kommen die Autoren dann zum „eigentlichen Problem“:
- „Ein Wirtschaftswachstum, selbst ein langsames, führt dann, wenn die Bevölkerungszahl abnimmt, dazu, dass alle mehr Waren und Dienstleistungen bekommen können und nicht weniger. Einen Abbau von Renten und Sozialleistungen kann man mit der angeblich schrumpfenden Bevölkerung also nicht sinnvoll begründen (…).“ – bto: was aber voraussetzt, dass es das Wachstum gibt. Im Unterschied zu den Vorstellungen der Autoren ist dies aber keine exogene Größe, sondern direkte Folge von Erwerbsbevölkerung und deren Produktivität.
- „Alle könnten also mehr bekommen, auch Rentnerinnen, Arbeitslose und alleinerziehende Mütter – wenn es nicht eine kleine Gruppe gäbe, die schon vorher ein immer größeres Stück aus dem Kuchen herausschneidet. Das ist ein Problem der gesellschaftlichen Umverteilung und nicht eines der Demografie.“ – bto: womit wir beim Kern des Buches wären. Es wird mit schwachen Fakten eine Grundlage dafür gelegt, im abzusehenden Verteilungskampf die passenden Argumente zu haben. Nicht mehr und nicht weniger.
Danach benennen die Autoren, die vermeintlichen „einflussreichen Gewinner der Demografie-Angst“: die Versicherungsbranche (neues Geschäft), die Arbeitgeber (zahlen nicht für Riester mit), die Medien und die Politiker (Sündenbock). „Bei der sehr gut finanzierten und koordinierten Kampagne zum Thema Demografie ging es also nicht um Wahrheit, sondern um den Nutzen von Interessengruppen und viel Geld.“
Danach identifizieren die Autoren die „Hauptprobleme der Gesellschaft“: Arbeitslosigkeit abbauen, Jugend qualifizieren, den großen Reichtum in unserer Gesellschaft wieder stärker für die Finanzierung von Sozialleistungen und Infrastruktur nutzen und Migranten gut integrieren.
Ob das wirklich die Probleme unsere Gesellschaft sind, kann und sollte man diskutieren. Doch den Eindruck zu erwecken, die demografischen Herausforderungen wären gar keine, sie wären nur ein „politisches Kampfmittel“ zur Ausbeutung der Arbeitnehmer, ist schon ein starkes Stück. Das Buch erinnert ein wenig an das Werk von Thomas Piketty, bei dem man ebenfalls den Eindruck haben kann, dass es von den gewünschten Schlussfolgerungen abgeleitet wurde. Doch im Unterschied zu Piketty ist die Faktenlage in diesem Fall schwach und die Argumentation in weiten Teilen hanebüchen.