Gregor Gysi in der Analyse stark – in den Schlussfolgerungen schwammig
Ich muss gestehen, dass ich trotz grundlegend anderer politischer Einstellung Gregor Gysi immer wieder für den schärfsten und klarsten Denker in der deutschen Politik halte. Wäre es doch schön, wir könnten seine analytische Fähigkeit (oder die Offenheit, entsprechenden Experten zuzuhören?) mit einem liberalen Ansatz verknüpfen, der die richtigen Lösungen umsetzt. Doch wo ist der Politiker?
Egal. Am letzten Mittwoch habe ich ein Interview mit Gregor Gysi im Deutschlandfunk gehört und finde, es lohnt sich, mit der Analyse als Montagsbeitrag in die Woche zu starten. Die Highlights:
- Zunächst freut sich Gysi über die belgische Blockade von CETA, das er als Vorläufer von TTIP sieht und begründet dies so: “Da sind jetzt zwar bessere Erklärungen drin, aber zum Beispiel Frau Däubler-Gmelin und ihr Mann haben ja festgestellt, dass die rechtlich überhaupt nicht verbindlich sind. Das heißt, dass die Garantien, die meint, Herr Gabriel jetzt erreicht zu haben, juristisch überhaupt nicht standfest sind. (…) TTIP und auch CETA wird doch über die Köpfe der Leute hinweg verhandelt. Die Information war völlig unzureichend.” – bto: Ich selbst sehe die Freihandelsabkommen eigentlich grundsätzlich positiv, obwohl auch mir die eine oder andere Regelung Bauschmerzen bereiten. Gerade die fehlende Transparenz passt nicht mehr in die heutige Zeit. Doch ist das CETA-Thema nicht der Grund, weshalb ich Gysi verlinke.
- Dann geht es um die EU: “Wir haben doch eine Situation in Europa, dass viele Mehrheiten der Bevölkerung heute die EU gar nicht mehr wollen. Ich kritisiere die EU auch scharf, sage, sie ist unsozial, undemokratisch, ökologisch nicht nachhaltig, bürokratisch, und vor allen Dingen auch intransparent.” – bto: Da kann man sich überwiegend anschließen.
- “Als der Entwurf der Verfassung abgelehnt wurde von der Mehrheit der Bevölkerung in Frankreich und in Holland, hätte man sich ja überlegen können, wie man den Entwurf so ändert, dass die Mehrheit der Bevölkerung sie akzeptiert. Hat man nicht. Man hat getrickst. (…) Das merken sich die Leute!” – bto: und ob.
- “Was glauben Sie, wie die Stimmung in Spanien und vor allen Dingen in Portugal ist? Ich kenne den Vorsitzenden einer Partei, der war immer pro-europäisch, und der sagt mir jetzt, er kann es nicht mehr sein. Die Leute wollen es nicht mehr!”
- “Wir brauchen einen Neustart und wir müssen endlich die Bevölkerung mitnehmen.” – bto: Und jetzt wird es spannend, denn wie soll denn der Neustart aussehen?
- “(…) schon bei der Einführung des Euro ist es falsch gelaufen. Aber nicht, dass ich sage, jetzt raus, aber damals habe ich gesagt, nicht rein, erst eine politische Union. Es hätte Steuerstandards geben müssen, Sozialstandards, also Mindeststandards geben müssen auf allen Ebenen. Du kannst doch nicht einen Binnenmarkt eröffnen mit einer Binnenwährung und sagen, jeder soll machen, was er will.” – bto: richtig. Allerdings hätten wir vor allem den Schuldenboom in den Ländern, angefeuert von tiefen Zinsen und einem Scheinboom, verhindern müssen. Ein Punkt den Gysi völlig übersieht.
- “Und unsere Vorstellung, dass wir nur den Nutzen aus dem Euro ziehen, aber nicht dafür haften, das geht doch auch nicht. Es funktioniert doch einfach nicht.” – bto: Hier wäre es schön gewesen, wenn er – was man von einem Linkenpolitiker hätte erwarten können – klargemacht hätte, dass eben nicht wir alle vom Euro profitieren, sondern nur die Exportunternehmen, deren Eigentümer und zum Teil deren Mitarbeiter. Es gibt keinen gesamtwirtschaftlichen Nutzen für alle, wie ich an anderer Stelle erläutert habe. Hier nochmals der Link: → „Zehn Gründe, warum wir die Verlierer des Euro sind“
- “Ich bin auch für einen Schuldenschnitt, aber nicht nur für Griechenland, sondern wir brauchen eine Konferenz wie 1952 in London – da sind uns übrigens die Schulden erlassen worden –, wo wir sagen, was können wir bezahlen, was nicht. Ich weiß, da sind auch Schulden an ausländische Banken, alles gar nicht so einfach, muss man vorbereiten. Aber das muss dann auch für Deutschland gelten, auch für andere Länder, dass wir sagen, bestimmte Schulden werden gestrichen. Deshalb spreche ich immer von einem Neustart.” – bto: Bekanntlich bin ich für eine gesamteuropäische Schuldenrestrukturierung. Dies umfasst aber private und öffentliche Schulden, gerne auch mit Unterstützung der EZB. Was Gysi also fordert, finde ich die beste Lösung. ABER Gysi sagt nicht, wie er den Schaden verteilen will und er sagt nicht, wie groß der Schaden ist! Nehmen wir meine Schätzung von drei bis fünf Billionen Euro an zu vielen Schulden in der Eurozone, kann man das nicht schmerzfrei gestalten. Also richtige Analyse und auch Forderung, aber bewusst schwammig, damit die Zuhörer nicht ahnen, dass es auch sie treffen wird. Meine Lösung habe ich an vielen Stellen beschrieben, so hier in der Süddeutschen Zeitung: → Kommentar in der SZ: „Ohne Verluste geht es nicht“
- Daraufhin der Journalist: “Sie sagen, Schulden streichen. Das hört sich ja ganz gut an. (…) Hört sich gut an, wie bei Monopoly könnte man das dann einfach wieder neu starten, annullieren und so weiter. Aber sagen Sie das auch den deutschen Steuerzahlern, den deutschen Wählern, dann müsst ihr dafür aufkommen?” – bto: gute Frage. Er hätte auch nach den Dimensionen fragen sollen!
- Gysi weicht aus: “Wir müssen ja auch bei uns Schulden streichen. Es muss schon ausgeglichen sein. Deshalb bin ich ja für eine Schuldenkonferenz. (…). Da müssen sich Fachleute zusammensetzen, die wirklich was davon verstehen und das auch wollen, und dann sagen: Folgende Schulden können wir streichen für die gesamte Eurozone.” – bto: alles richtig. Doch um wieviel geht es und wer bezahlt am Ende? Denn einer muss bezahlen.
- Nachfrage: “Warum ist das denn in Ordnung, dass wir bezahlen für die Fehler anderer?”
- Gysi: “Wir sind Exportweltmeister. Wir brauchen als Exportweltmeister Defizitländer, Länder, die weniger herstellen und deshalb bei uns einkaufen müssen. Dazu gehört auch Griechenland. Und dann werfen wir ihnen Schulden vor.” – bto: Das stimmt bekanntlich, allerdings ist es zu einfach. Wir müssten unser Geschäftsmodell ändern (fordert Gysi nicht) und wir haben durchaus eine Verteilungsfrage zu klären, die Gysi ausblendet. Hier nochmals, weshalb unsere Exportfixierung fatal ist: → „Deutschland wirtschaftet wie die Eichhörnchen“
- “Außerdem dürfen wir eins nicht vergessen: Wir haben die Banken mit dereguliert. Die Banken haben weltweit spekuliert. Ich finde den Begriff Staatsschuldenkrise völlig falsch, denn diese Krise kam ja nur zustande, weil die Staaten die Banken gerettet haben.” – bto: naja. Also, wir haben es mit einer Privatschuldenkrise zu tun, einer daraus resultierenden Bankenkrise und bei einigen Staaten (Italien, Griechenland) mit einer Staatsschuldenkrise, die nichts mit den anderen Krisen zu tun hat. Richtig ist, dass die Politik mit der Deregulierung bewusst Kredite fördern wollte, um die Wirtschaft zu stimulieren. Deshalb ist es auch kein Versagen der Marktwirtschaft, sondern der Regulierung. Könnten Banken normal Pleite machen und wäre das Risiko immer klar gewesen, wäre es gar nicht so weit gekommen.
- “(…) der Auftrag für Draghi ist zu eng. Er hat ja nur den Auftrag Geldwertstabilität. Warum nicht auch Wachstum, warum nicht auch Beschäftigung, warum nicht auch sozialer Ausgleich und nicht Ausgleich zwischen den Staaten?” – bto: Das bedeutet im Klartext die Finanzierung der Politik dauerhaft über die Notenpresse, was auch Varoufakis fordert. Das ist die linke Agenda für Europa: → „Varoufakis und Piketty ‒ die linke Lösung für Europa“
- “Dann muss sie (die EZB) natürlich auch demokratisch kontrolliert werden. Anders geht es natürlich nicht. Im Augenblick ist sie ja unabhängig und die Aufsichtsbehörde sitzt auch bei ihr. Das ist nun ganz grotesk, das geht überhaupt gar nicht. Eine Aufsichtsbehörde muss wiederum völlig unabhängig davon sein und auch ganz woanders sitzen.” – bto: Mit der demokratischen Kontrolle meint Gysi Zugriff auf die Notenpresse, was erfahrungsgemäß in der völligen Zerrüttung der Währung endet. Mit der Aufsicht hat er recht.
- “(…) es ist auch falsch, dass wir den privaten Banken Geld geben, damit die es dann wieder teurer an die Staaten weiterreichen, sodass sie wieder mehr bezahlen müssen. Aber wir haben ja verboten, dass die Europäische Zentralbank direkt den Staaten Geld gibt. Das wäre viel sinnvoller in diesem Falle, weil man dann zum Beispiel eine Zinseinsparung hätte für die Staaten.” – bto: Er fordert aber kein Ende des Geldsystems, wie zum Beispiel Vollgeld. Er will bei dem bestehenden System bleiben und nur den Zugriff. Auch hier sagt er nicht, wie die Kosten verteilt werden.
- “Und wissen Sie, was das eigentlich Schlimme ist? Du kannst eine vernünftige Oppositionspolitik machen gegen eine aus Deiner Sicht falsche Regierungspolitik. Wenn eine Regierung aber überfordert wirkt, wie macht man Opposition gegen Überforderung? Da könnte man sich nur hinstellen und sagen, ich wäre es nicht, und das glaubt Dir keiner.” – bto: Brauche ich wohl nicht zu kommentieren.
→ Deutschlandfunk.de: “Viele wollen Europa nicht mehr”, 26. Oktober 2016