EZB-Schuldenannullierung als Auftakt für neue Austeritätspolitik?
Die Idee der Schuldenannullierung durch die EZB ist in der Welt und gewinnt vor allem bei “progressiven” Kräften Unterstützung.
Grund genug für Deutschland, sich darauf einzustellen:
→ Deutschland braucht Strategie: Dekade der Vermögensvernichtung
Obwohl es aus ökonomischer Sicht eigentlich nichts bringt:
→ Warum eine Schuldenannullierung der EZB nichts ändert
Aber auch “progressive” Kräfte haben aber Bedenken – und die sind interessant. Denn sie befürchten, es gäbe eine Rückkehr zur Solidität der Finanzen nach einem solchen Schritt. Da ist es nach dieser Sicht natürlich besser, weiterzumachen wie bisher: EZB-Finanzierung und höhere Staatsausgaben:
- “Vor fast einem Jahr forderte eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern und politischen Aktivistinnen in einer öffentlichkeitswirksamen Kampagne, die Europäische Zentralbank (EZB) solle die Staatsschulden aus ihrer Bilanz streichen. Im Februar 2021 veröffentlichte diese Gruppe nun einen offenen Brief mit prominenten Unterzeichnern wie dem französischen Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, dem früheren EU-Kommissar László Andor und dem Parteichef der belgischen Sozialisten, Paul Magnette. Dieser Brief bekam in der Medienberichterstattung und in der öffentlichen Diskussion so großes Gewicht, dass die EZB öffentlich Position dagegen beziehen musste.” – bto: Was soll sie auch anderes tun. Dies bedeutet übrigens nicht, dass sie sich in Wirklichkeit dagegen stellt. Offiziell ist anders als inoffiziell.
- “Auf den ersten Blick mag der vorgeschlagene Schuldenerlass verlockend erscheinen. Doch in Wahrheit nährt der Vorschlag eine gefährliche Illusion: die Illusion, dass ein handfestes politisches Problem sich mit einer kleinen technokratischen Lösung beheben ließe. Denn der Vorschlag verfestigt durch das Festhalten am Fetisch der Staatsschuldenquote die Vorstellung, Staatsschulden seien per se ein Problem, und übersieht außerdem, wie eng die Staatsschulden und das Zentralbankwesen mit der privaten Finanzwirtschaft verflochten sind.” – bto: Hier klingt MMT durch. Gern wird dabei die Verteilungswirkung zwischen den Staaten unterschlagen.
- “Die Befürworter eines Schuldenerlasses machen sich offenbar nicht bewusst, dass ihr Vorschlag auf die Zementierung des Status Quo hinausläuft. Wer von öffentlichen Institutionen gehaltene Schulden streicht, um private Investoren zu beruhigen, betreibt aus unserer Sicht das Gegenteil einer progressiven Agenda, die nämlich anstreben sollte, die Staatsfinanzen vom Diktat der privaten Investoren zu befreien.” – bto: Das ist doch cool. Wir haben kein Staatsschuldenproblem, sondern sollten viel mehr Schulden machen.
- “Die Machtverhältnisse, die diesen Steuerungsmechanismen eingeschrieben sind, bedeuten, dass ein Schuldenerlass kein buchhalterischer Vorgang ist, der niemandem wehtut. Private Investoren haben sich daher auch bereits gegen jede Art von Schuldenerlass ausgesprochen. Diese ablehnende Haltung könnte zu höheren Risikoaufschlägen für Staatsanleihen führen, die das, was mit einem Schuldenerlass zu gewinnen wäre, zu neutralisieren drohen. Ehe man daran denkt, die von einer öffentlichen Institution gehaltenen Verbindlichkeiten aus den Büchern zu streichen, sollten deshalb die Regierungen vor allem zuverlässig dafür sorgen, dass ihre Finanzministerien nicht von den Glaubenssätzen, dem Appetit und den politischen Wünschen privater Anleger abhängig sind.” – bto: Was soll das denn bedeuten? Nun, es soll nichts anderes sagen, als dass man die Staatsfinanzierung unabhängig von privaten Märkten gestalten will. Zinsen sollen also quasi staatlich definiert werden.
- “In diesem Zusammenhang verweisen die Verfechter eines Schuldenerlasses gern auf die Londoner Konferenz von 1953. Damals erließen die Alliierten Westdeutschland zwei Drittel seiner Auslandsschulden – aus ihrer Sicht ein Schlüsselmoment für den Wiederaufbau Europas nach dem Krieg. Es stimmt, dass das in London unterzeichnete Abkommen positive Auswirkungen für die deutsche Wirtschaft hatte, weil der Schuldendienst sich verringerte. Aber es war kein Gründungsmoment, der bei der politischen Klasse einen Sinneswandel im Hinblick auf die staatliche Verschuldung bewirkt hätte. Auch waren an dem Schritt damals keine Zentralbanken beteiligt.” – bto: Es ist was ganz anderes gewesen und es stellt sich die Frage, welche Art von “Sinneswandel” man sich denn gewünscht hätte.
- “Relevanter für die aktuelle Diskussion wäre ein anderes Beispiel aus der Geschichte. Dafür müssen wir in das Jahr 1928 zurückblicken. Genau betrachtet war das, was in jenem Jahr in Frankreich geschah, anders als das Londoner Abkommen von 1953 tatsächlich ein historischer Präzedenzfall für den Erlass von Staatsschulden durch eine Zentralbank. Nach dem Ersten Weltkrieg hielt die Banque de France einen großen Teil der Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit, was als inflationär angesehen wurde. Der Wirtschaftsstabilisierungsplan von 1928 beinhaltete ein neues Währungsgesetz und eine Abwertung des Franc. Durch die Abwertung des Franc erhöhte sich der Gegenwert der Goldreserven der Zentralbank (in Francs). Diese Werterhöhung wurde verwendet, um einen Teil der von der Zentralbank gehaltenen Staatsschulden zu streichen. In den Aktiva der Zentralbank trat das neu bewertete Gold also an die Stelle der erlassenen staatlichen Schulden.” – bto: Heute könnten die Notenbanken in ihrer Bilanz einfach das Gold neu bewerten und mit dem Gewinn die Schulden tilgen.
- “Dieses Maßnahmenpaket (Abwertung, neues Währungsgesetz und Senkung der Staatsverschuldung) war tatsächlich ein transformativer und nicht bloß progressiver Moment. Frankreich kehrte zum Goldstandard zurück. Für wenige Jahre wirkte die 1928 erreichte Stabilisierung positiv auf die französische Wirtschaft, aber als 1930 die Weltwirtschaftskrise zuschlug, stürzten die Regeln des Goldstandards das Land in eine schwere und lang anhaltende Deflation.” – bto: Nun ist ein neuer Goldstandard nicht in Sicht.
- “Wenn sich nicht zunächst etwas daran ändert, wie Staatsschulden auf den Finanzmärkten gehandelt und von Staatsmanagern und der politischen Klasse wahrgenommen werden, dürfte ein Schuldenerlass durch die Zentralbank eher dazu führen, dass die neoliberale Fiskalorthodoxie sich noch mehr verfestigt. Dass ein solcher Schuldenerlass den Grundstein für eine neue makrofinanzielle Ordnung legt, ist weniger wahrscheinlich. (…) Bevor man die Schulden unschädlich macht, muss das gesamte Gefüge von Schuldenmanagement, Finanzregulierung, Staatsfinanzierung und Fiskalregeln verändert werden. Sonst bewirkt ein Schuldenerlass das Gegenteil von dem, was seine Befürworter ursprünglich erreichen wollten.” – bto: Und sie machen es spannend: Was genau soll sich denn ändern? Offensichtlich will man Unabhängigkeit von Märkten und Spielraum für höhere staatliche Ausgaben.
- “Wenn ein solcher Schuldenerlass durch die EZB nicht mit radikalen politischen Veränderungen der Schuldenregeln und Steuervorschriften einhergeht, besteht die Gefahr, dass er den Fiskalkonservativen in die Hände spielt. Die EZB würde aufhören, Staatsanleihen zu kaufen, und die Regierungen müssten wohl oder übel die finanzpolitischen Zügel straffen. Überdies würde der Schuldenerlass im kleinen Kreis von EZB, Europäischem Rat und EU-Kommission ausgehandelt, sodass jede Möglichkeit einer öffentlichen, demokratischen Diskussion über das makrofinanzielle Gesamtgefüge und die Rolle, die die Zentralbank in diesem Gefüge spielt, ausgeschlossen wäre.” – bto: Ja, es gäbe keine offizielle Form der MMT.
- “Ohne einen tiefgreifenden Wandel droht ein Schuldenerlass durch die EZB uns in die Situation vor 2008 zurückzubefördern, als es in Europa keine Vergemeinschaftung von Schulden gab – in ein Europa mit verschärften finanzpolitischen Regeln und Schuldenobergrenzen, in dem die EZB nicht als ‘lender of last resort’ auf dem Staatsanleihenmarkt fungierte. (…) Es ist höchste Zeit, die Energie, die bisher in den Strukturreformeifer gesteckt wurde, auf ein anderes Ziel zu lenken und umgekehrt die makrofinanzielle Architektur so umzubauen, dass sie mit wirtschaftlicher und politischer Demokratie vereinbar ist.” – bto: hm.
→ ipg-journal.de: „Vorsicht vor einfachen Lösungen“, 9. März 2021