Die Noten­banken in der Falle

Henrik Müller brachte es kürzlich gut auf den Punkt: „Wir sind alle Teil eines historischen Experiments“, Ausgang höchst ungewiss:

  • „Dass die Notenbanken alles andere als unfehlbar sind, haben sie in den vergangenen zwei Jahren der Weltöffentlichkeit vorgeführt. Den derzeit immer noch andauernden Inflationsschub haben sie jedenfalls nicht kommen sehen. Als 2021 bei abflauender Pandemie die Preise zu steigen begannen, blieben sie zunächst passiv beschwichtigend. Alles ‚vorübergehend‘ (‚transitory‘), alles unter Kontrolle – bis dann Anfang 2022 unübersehbar wurde, wie sehr sie mit dieser Einschätzung danebengelegen hatten. Dennoch brauchte die EZB bis zum Sommer vorigen Jahres, bis sie endlich damit anfing, die Zinsen nach oben zu schleusen. Da hatte die Fed schon ein paar Zinsschritte hinter sich.“ – bto: Die EZB war sehr spät dran mit der Zinserhöhung.
  • „Nach langem Abwarten haben Fed, EZB und viele andere die Geldversorgung rapide gestrafft. EZB-Präsidentin Christine Lagarde kam in einer Pressekonferenz vorigen Herbst sogar fast an den Punkt, sich öffentlich für die verspätete Reaktion zu entschuldigen.“ – bto: Das ist sehr ungewöhnlich, halten die Notenbanken sich doch sonst für unfehlbar. 
  • „Doch es stellt sich eine fundamentalere Frage – ob nämlich die Notenbanken womöglich mit ihrer gesamten Geldpolitik seit der Finanzkrise von 2008/09 falsch lagen. Es geht vor allem um die Wertpapierkäufe, deren Nebenwirkungen nun offenkundig werden. Wir stehen am Ende einer beispiellosen Entwicklung: Seit der Finanzkrise haben die Notenbanken für Billionen Euro, Dollar, Pfund oder Yen Papiere aufgekauft, vor allem Staatsanleihen.“ – bto: Es ist eine sehr berechtigte Frage. Wir haben die Finanz- und Eurokrise durch Geldpolitik verdeckt.
  • „Die OECD, der Klub der westlich orientierten Marktdemokratien, hat gerade in ihrem aktuellen Wirtschaftsausblick vorgerechnet, wie riesig die Notenbankbilanzen inzwischen sind. Stand Ende Mai 2023 betrug der Wert der Papiere, die die EZB in ihren Büchern hat, 56 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Eurozone. Die Vergleichswerte für die USA (32 Prozent) und Großbritannien (40 Prozent) sind niedriger, aber auch dort haben sie schwer fassbare Größenordnungen angenommen. Japan liegt mit 132 Prozent am äußersten Ende der Vergleichswertung.“ – bto: Vor allem kann man nicht aussteigen, denn es führt zu einem so deutlichen Zinsanstieg, dass die Staaten in Schwierigkeiten kommen.
  • „Auf ‚Quantitative Easing‘ folgt ‚Quantitative Tightening‘ – Anspannung statt Lockerung. Das bedeutet finanziellen Stress. Und es ist längst nicht klar, wie dieses neuerliche Experiment ausgeht. Denn die Straffung steht noch ganz am Anfang. Die Zinsen dürften weiter steigen, gerade die langfristigen. Weil niedrig verzinste Kredite und Anleihen erst nach und nach auslaufen und durch neue, teurere ersetzt werden müssen, kann sich der Prozess lange hinziehen. Das kann halbwegs glimpflich verlaufen – muss es aber nicht.“ – bto: Wie sollen die Staaten die Lücke schließen?
  • „Erste Tiefausläufer zeigten sich bereits im vorigen Herbst, als in Großbritannien plötzlich eine Minifinanzkrise ausbrach, nachdem die damalige Regierung ungedeckte Steuersenkungen – und höhere Defizite – angekündigt hatte. Es kam zu rapiden Kursverlusten britischer Staatsanleihen, wodurch wiederum Pensionskassen in Schwierigkeiten gerieten. Die Bank of England musste ihren Kurs der Inflationsbekämpfung eine Zeit lang zurückstellen, um die Märkte zu stabilisieren.“ – bto: Wir wissen aber, dass es eine Folge der Suche nach Rendite war.
  • „In den USA schwelt seit einigen Monaten eine Krise mittelgroßer Banken. Kunden räumen ihre Konten ab und schichten ihre Guthaben in Geldmarktfonds und andere, höher verzinsliche Anlageformen um. Wenn Banken sich in der Folge gezwungen sehen, ihre Bestände an niedrig verzinsten Staatsanleihen abzustoßen, die sie in der Phase des ‚Quantitative Easing‘ gekauft haben, müssen sie erhebliche Wertberichtigungen vornehmen, weil diese Papiere inzwischen zu niedrigeren Kursen gehandelt werden.“ – bto: Das haben wir auch diskutiert.
  • „Parallel dazu bleibt die Kreditaufnahme der Staaten hoch. Im laufenden Jahr haben die OECD-Mitgliedstaaten einen Finanzbedarf von umgerechnet 13 Billionen US-Dollar. Davon brauchen sie 10,6 Billionen, um alte Schulden, die sie vor sich herschieben, durch neue, nun teurere Kredite abzulösen. Auch dieser zusätzliche Finanzbedarf dürfte die langfristigen Zinsen weiter nach oben treiben. Wie lange hoch verschuldete Staaten unter den absehbar immer engeren Bedingungen noch als solvent gelten oder wann sie von einem Vertrauensverlust heimgesucht werden, ist eine offene Frage.“ – bto: Hier springt dann die EZB doch wieder ein.
  • „Grob gesagt bestand das Ziel der quantitativen Lockerung darin, die Wirtschaft vor einer ausgedehnten Depression wie in den Dreißigerjahren zu bewahren. (…) Nach der Finanzkrise von 2008 waren die Schulden hoch, das Wachstum blutarm, während die Inflation immer weiter zurückging. Damals ging die Angst um, dass es zu einer Deflation, also einem sinkenden Preisniveau, kommen könnte. Unter diesen Bedingungen hätten die Schulden noch drückender auf der Wirtschaft gelastet. Auf die Destabilisierung des Finanzsektors wäre womöglich eine Destabilisierung der Demokratie gefolgt – wie eben in den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts. Die Notenbanken, so das Kalkül, müssten die Bedingungen schaffen, dass es nicht so weit komme.“ – bto: Eine akkurate Beschreibung, aber das bedeutet nicht, dass die Politik der Notenbanken erfolgreich war.
  • „Befürchtungen, die Anleihekäufe würden bald zu gravierender Inflation führen, erwiesen sich als unbegründet. Bis zum Ende der Pandemie blieben die Preissteigerungsraten niedrig. Solange die Globalisierung, eine günstige Demografie und billige Energie ein schier unerschöpfliches Angebot sicherstellten, konnten die Notenbanken nach Belieben Geld in die Märkte kippen, ohne dass die Preise auf breiter Front reagiert hätten.“ – bto: Auch deshalb hat man gedacht, die Geldmenge spiele keine Rolle.
  • „Bei der Rückabwicklung der quantitativen Lockerungsübungen zeigt sich, wie massiv die Eingriffe waren. Da die Notenbanken den Marktpreis für Kapital – die langfristigen Zinsen – erheblich nach unten gedrückt haben, sind die Bewertungen aller möglichen Vermögenswerte grob verzerrt: Anleihen, Aktien, Immobilien, Unternehmensbeteiligungen, Kunst, edle Weine… Solange die Notenbanken kauften, ging es im breiten Trend immer weiter aufwärts.“ – bto: Das bringt es auf den Punkt.
  • „Der Wert des globalen Vermögens hat sich binnen 20 Jahren vervierfacht, hat das McKinsey Global Institute (MGI) kürzlich ausgerechnet. Ohne die große Geldvermehrung wäre dies nicht möglich gewesen. Parallel dazu stiegen die Schulden in Relation zur Wirtschaftsleistung immer weiter an.“ ­– bto: So ist es – Spiegelbild und Leverage.
  • „Noch fundamentaler: Der eigentlich erhoffte realwirtschaftliche Investitionsschub fiel schwach aus. Statt die günstigen Kreditbedingungen zu nutzen, um die Produktivität und damit das Wohlstandsniveau nachhaltig zu steigern, flossen die üppig vorhandenen Mittel zuvorderst in bestehende Assets. Denn die fortgesetzte Geldvermehrung hatte eine Verzerrung der Anreizstrukturen geschaffen: Solange man an Kapitalmärkten ziemlich sicher Geld mit steigenden Bewertungen verdienen konnte, weil die Notenbanken ja eine Absicherung gegen etwaige Verluste versprachen, war es eher unattraktiv, das unternehmerische Wagnis echter Wertschöpfung einzugehen. Finanzmärkte und Realwirtschaft entkoppelten sich zusehends, soziale Spannungen und Verteilungsschieflagen inklusive.“ – bto: Und das war alles so zu erwarten, ja, es war vermutlich sogar das Ziel.
  • „Die Wirtschaft über Jahre mit Liquidität zu überschütten und damit die Wirtschaftsstrukturen zu verzerren, schafft jedenfalls selbst gravierende Probleme. Wir erleben es gerade.“ – bto: Nein, wir werden es in den kommenden Jahren erleben.

spiegel.de: “Wir sind alle Teil eines historischen Experiments”, 11. Juni 2023