Strukturelles Staatsversagen
In der vergangenen Woche habe ich in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ im Zusammenhang mit der Corona-Krisenpolitik von Bundes- und Landesregierungen von „Staatsversagen“ gesprochen. Eine Wortwahl, die in und nach der Sendung für Kritik sorgte – und für eine wahre Flut an Sympathiebekundungen.
Je mehr ich darüber nachdenke, komme ich zum Schluss, dass es sich nicht nur um ein Scheitern einzelner Akteure handelt, sondern um ein strukturelles Versagen, dessen Ursache in den politischen Versäumnissen der letzten zwanzig Jahre liegt. Grund genug für mich, meine Gedanken nochmals zusammenzufassen.
Liste des Versagens
Die Fehlleistungen sind hinlänglich bekannt, es lohnt sich dennoch, sie nochmals zusammenzufassen. Deshalb zunächst ein kurzer Überblick im Zusammenhang mit der Corona-Krise:
1. Pandemie-Plan nicht umgesetzt
Die Corona-Pandemie kam überraschend. Natürlich könnte man den Verantwortlichen ihre Aussagen vom Februar 2020 vorhalten und die Tatsache, dass weiter fleißig Karneval gefeiert wurde. Aber das will ich gar nicht. Anzumerken bleibt jedoch, dass bereits im Jahr 2012 eine von der Bundesregierung beauftragte „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz“ erarbeitet und in diesem Zusammenhang ein Szenario zum Umgang mit einer „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ erstellt wurde. Die Behörden in Bund und Ländern hätten vorbereitet sein können, noch bevor das Coronavirus in Deutschland auftrat – oder spätestens beim ersten Fall. Das waren sie nicht und dies, obwohl wir bei Corona im Unterschied zum simulierten Szenario mehr Vorlauf hatten. Wir konnten in Italien beobachten, was passiert. Weder wurden aus der Studie von 2012 die richtigen Schlussfolgerungen gezogen – Beschaffen von Masken und Schutzausrüstung! – noch hielt man sich in der Anfangsphase an den eigenen Plan. Ergebnis: Hektik und Planlosigkeit statt Führung.
2. Panik in der ersten Welle
Als sich die erste Welle abzeichnete und die Politik erkannt hatte, dass sie nicht vorbereitet war, herrschte Panik. In der Folge wurde der Export von Sicherheitsausrüstung und Masken in Nachbarländer wie die Schweiz und Italien verboten. Von der viel gepriesenen europäischen Solidarität war plötzlich keine Rede mehr und der Schaden für das deutsche Ansehen – beispielsweise in Italien – dürfte nachhaltig sein und uns teuer zu stehen kommen. Es ist ein klassisches Beispiel für einen kurzfristigen politischen Nutzen – man demonstriert der Bevölkerung Handlungsfähigkeit und gibt vor, die Interessen der Bürger zu vertreten –, mit dem man vom eigenen Versagen ablenken will.
3. Funktionslose Corona-App (Datenschutz)
Experten forderten bereits sehr früh eine effiziente Nachverfolgung von Infektionsketten, um so die Verbreitung des Virus zu stoppen. Vorbilder für die Effektivität von Warn-Apps finden sich in Asien, beispielsweise in Südkorea, das bis heute die Pandemie deutlich besser unter Kontrolle hat. Die daraufhin für über 20 Millionen Euro entwickelte „Corona-Warn-App“ ist ein Rohrkrepierer. Nicht zuletzt wegen des Datenschutzes setzt sie viele manuelle Eingriffe und Zustimmungen voraus, die letztlich dazu führen, dass sie keinen praktischen Nutzen hat. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin ist nicht der Einzige, der die Frage aufgeworfen hat, ob es wirklich sinnvoll ist, den Datenschutz als Grundrecht höher zu werten als das Recht auf körperliche Unversehrtheit und freie Lebensentfaltung.
Wie bereit die Bürger sind, eigene Daten preiszugeben, sehen wir nicht nur tagtäglich am Nutzerverhalten beim Umgang mit Google, Facebook und Amazon, sondern auch an der Popularität der privat entwickelten Warn-App „Luca“. Nun lobt sich der Thüringer Ministerpräsident Ramelow, sein Land sei das erste, das diese App mit den Gesundheitsämtern verbindet; die anderen Bundesländer prüfen das noch. Das Kanzleramt findet derweil, es sei ohnehin nicht Sache des Staates, „alles anzubieten“. Dies allerdings erst seit Februar 2021!
4. Masken: spät – teuer – korrupt
Masken können einen wichtigen Beitrag zum Eindämmen der Pandemie leisten. Zunächst – als die Lager leer waren, siehe Punkt 1 – meinte die Regierung, diese seien ohnehin nutzlos, um dann, als die Lager gefüllt waren, das Gegenteil zu erzählen. Als man feststellte, dass die selbst genähten „Alltagsmasken“ doch nicht genügen, verteilte man FFP2-Masken per Gutschein an rund 34 Millionen Bürger. Abgesehen von den aberwitzigen Kosten des Druckens von fälschungssicheren Gutscheinen und deren Versands stieß der überaus großzügige Preis von sechs Euro pro Maske bitter auf – gab es sie doch im Handel für weniger als einen Euro. Allein die Kosten für diese Aktion übersteigen das Anfangsbudget der EU für die Beschaffung von Impfstoffen!
Als wäre das zum Thema „Masken“ nicht schon genug, häufen sich die Geschichten überteuerter Einkäufe und es gibt Hinweise auf persönliche Bereicherung.
5. Testen: spät – konzeptlos
Schon vor einem Jahr war offensichtlich, dass in umfangreichen Tests ein wesentlicher Schlüssel liegt, die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen. Das war ebenfalls in Asien gut zu beobachten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten sind einfache Tests seit spätestens Oktober breit verfügbar. Die Regierung hätte durch frühzeitige Beschaffung und Abnahmegarantien die Produktionskapazitäten für Schnelltests erhöhen können. Ökonomen rechnen vor, dass mit einer Teststrategie ein zweiter Lockdown nicht notwendig gewesen wäre und dies zu einem Bruchteil der Kosten.
Obwohl die Tests bereits seit Oktober verfügbar sind und Vorbilder wie Tübingen diese seither umfangreich einsetzen, dauerte es bis März, bis diese Tests eine bundesweite Zulassung bekamen. Wer dann glaubte, es ginge sofort los, wurde wiederum enttäuscht: Der Staat versagt bei der Beschaffung, setzt erst jetzt eine Beschaffungstaskforce ein und Politiker beschimpfen die privaten Anbieter, die Schnelltests anbieten.
6. Schutz der Risikogruppen
Corona wütet vor allem bei den Alten und hier besonders bei denen, die sich bereits in der Obhut öffentlicher Einrichtungen befinden, also in Alten- und Pflegeeinrichtungen. Statt den Sommer zur Vorbereitung auf eine zweite Welle zu nutzen, hat die Politik kein funktionsfähiges Konzept zum Schutz dieser Risikogruppen erarbeitet und durchgesetzt. Obwohl es funktionierende Vorbilder gab, setzte man keine konsequenten Maßnahmen um. So wäre es problemlos möglich gewesen, jeden, der ein Heim betritt, an jedem Tag zu testen. Die Tests waren verfügbar, man hätte sie nur kaufen müssen. Das dafür erforderliche Personal hätte man im Sommer beschaffen und ausbilden können. Neben der Bundeswehr sind dies auch die Mitarbeiter von besonders betroffenen Branchen, die ohnehin in Kurzarbeit sind oder ihre Arbeitsstelle verloren. Ich denke dabei zum Beispiel an Flugbegleiter. Hätten wir diesen Schutz umgesetzt, hätten wir auf einen zweiten Lockdown verzichten können.
7. Kein Lernen von Best-Practice
Womit wir bei einem grundlegenden Problem sind: die Unwilligkeit, von guten Beispielen zu lernen. Die Politik sonnte sich in dem relativ guten Verlauf der ersten Welle, in der wir vor allem Glück hatten – und lernte nicht von erfolgreichen Vorbildern: Taiwan und Korea wurden als „Inseln“ abgetan, deren „Kultur auch eine andere sei“. Den Bürgermeister von Rostock kritisierte man stattdessen wegen seiner (letztlich sehr erfolgreichen!) Teststrategie. Boris Palmer, dem ebenfalls erfolgreichen Bürgermeister von Tübingen, wurde Zynismus vorgeworfen, weil er sich traute, auf die erheblichen Kosten der „mittelalterlichen“ Lockdown-Maßnahmen hinzuweisen.
Ein Muster, was sich weiter durchzieht: Großbritannien analysiert pro Tag so viele Viren auf Mutationen wie wir in einem Monat. Wir legen Maßnahmen fest wie Schließungen von Restaurants etc., ohne überhaupt die Daten zu haben, wo sich wer wie ansteckt. Manche Entscheidungen, die getroffen werden, entbehren jeder statistisch belastbaren Grundlage. Dabei haben wir ein Jahr Zeit gehabt, genau diese Zahlen zu sammeln.
8. Versagen beim Einkauf von Impfstoff
Viel wurde geschrieben zum Versagen beim Einkauf von Impfstoffen, auch von mir. Die knappe Aussage ist: Es hätte sich gelohnt, bei allen Anbietern für alle Bürger der EU zu kaufen. Die Kosten hätten bei maximal 40 Milliarden Euro gelegen, was dem ökonomischen Schaden des Lockdowns in Europa von etwa zwei Wochen entspricht. Ein Taschenrechner hätte genügt, um dies zu erkennen. Stattdessen hat eine völlig überforderte EU-Kommission auf Einkaufspreise und regionale Balance der Lieferanten geachtet. Und dies unter der Aufsicht der deutschen Ratspräsidentschaft.
9. Kein Kapazitätsaufbau der Produktion
In die gleiche Kategorie fällt das Versagen beim Schaffen ausreichender Produktionskapazitäten. Bill Gates wies bereits im April 2020 auf die einfache Tatsache hin, dass wir sofort anfangen sollten, Produktionskapazitäten für Impfstoffe zu schaffen. Während andere Länder wie Großbritannien sich frühzeitig darum bemühten, hielt es das deutsche Wirtschaftsministerium für nicht erforderlich, sich darum zu kümmern. Dies ist unerklärlich angesichts der gigantischen Mengen, die weltweit benötigt werden, um zu impfen und ein klassischer Bereich, in dem der Privatsektor angesichts der erheblichen Risiken nicht allein die Kapazitäten aufbauen kann.
10. Fax statt Internet
Die Inzidenzzahl begleitet uns seit Monaten, wenn es darum geht, Dauer und Ausmaß von Lockdown-Maßnahmen zu bestimmen. Dabei ist der Inzidenz-Ziel-Wert (35/50/100) nicht medizinischen Gründen geschuldet, sondern der fehlenden Fähigkeit der Gesundheitsämter, Infektionsketten nachzuverfolgen. Neben der nicht funktionsfähigen App liegt dies an der steinzeitlichen Ausstattung der Gesundheitsämter, die in vielen Fällen immer noch per Fax kommunizieren. Statt wie versprochen eine einheitliche Software zu nutzen, herrscht ein Wildwuchs. Übersetzt: Restaurants und Einzelhandel müssen schließen, weil die Politik es in einem Jahr nicht schafft, die Effizienz und Effektivität der Gesundheitsämter zu erhöhen. In die gleiche Richtung gehen unzureichende Nachverfolgung von Einreisen aus Risikogebieten oder die Durchsetzung von Quarantänemaßnahmen. Klassische Aufgaben des Staates, die nicht wahrgenommen werden.
11. Wasserpistole statt Bazooka
Neben dem Fiasko, die Corona-Krise mit intelligenten Maßnahmen und konsequentem Handeln unter Kontrolle zu bringen, gibt es das eklatante Versagen bei den wirtschaftlichen Rettungsmaßnahmen. Kann man Olaf Scholz und Peter Altmaier den holprigen Start im letzten Frühjahr noch verzeihen, so sind die Probleme mit den Hilfsmaßnahmen seit November eindeutig eine Folge unzureichender Vorbereitung seither. Die Klagen weiter Teile der Wirtschaft über ungenügende und überbürokratische Hilfe sind berechtigt. Dass nun selbst diese Hilfe wegen umfangreichen Betrugs eingestellt wurde, ist ein weiterer Skandal. Es wäre nämlich problemlos möglich gewesen, die Hilfen über das Finanzamt zu organisieren. Keine Behörde arbeitet so effizient und effektiv und kennt vor allem die Steuerzahler. Wie das organisiert werden könnte, habe ich bereits vor einem Jahr gezeigt. Es ist eine Blamage, dass die vollmundige „Bazooka“ sich als Wasserpistole entpuppt, der man nun auch noch das letzte Wasser abdreht.
12. Falsche EU-Rettungspolitik
Weitaus großzügiger als mit Selbstständigen und kleinen Unternehmen ist die Regierung dafür bei der Umverteilung von Mitteln innerhalb der EU. Nicht zuletzt im Versuch, den selbst verschuldeten Imageschaden (siehe Punkt 2) zu begrenzen, warf die Bundesregierung bisherige Grundsätze über Bord und trat in eine unbegrenzte Schulden- und Transferunion ein. Doch im Gegensatz zur Auffassung von Olaf Scholz handelt es sich nicht um einen „Hamilton-Moment“ für die Eurozone. Im Gegenteil, die Transfermilliarden – auf Deutschland allein entfallen rund 180 Milliarden Euro – werden die Spaltung weiter vertiefen. Ganz abgesehen davon, dass es sich um eine Verteilung von relativ ärmeren Deutschen zu relativ reicheren Italienern, Franzosen und Spaniern handelt, kann man nur konstatieren, dass die Interessen der deutschen Steuerzahler offensichtlich keine Rolle gespielt haben.
„Vieles ist gut in der Krise gelaufen“
Das Staatsversagen ist mit diesen 12 Punkten nicht vollständig erfasst. Das hindert die Verantwortlichen in der Politik nicht daran, die Verwendung des Wortes „Versagen“ völlig zu untersagen, so wie der CDU-Fraktionsvorsitzende Ralf Brinkhaus in einer anderen Folge der Markus-Lanz-Show. Er meinte doch glatt: „Vieles ist gut in der Krise gelaufen.“ Mir fällt jetzt nichts ein, was vonseiten des Staates gut gelaufen wäre.
Was die Politik gemacht hat, ist mit einem mittelalterlichen Vorgehen – Lockdown – von eigenem Versagen abzulenken. Zum Preis von Milliardenschäden – zwei bis vier Milliarden Euro pro Woche –, vernichteten Existenzen, einer verlorenen Schülergeneration und einem Verlust an Mut und Risikobereitschaft.
Was jetzt passiert, ist ein Angriff auf das Unternehmertum in Deutschland, kleine Betriebe und Soloselbstständige. Damit ist es ein Angriff auf unseren künftigen Wohlstand, der in Deutschland ausschließlich an der Bildung der künftigen Generation, der Qualität der Infrastruktur (bekanntlich seit 15 Jahren unzureichende Investitionen!) und den Investitionen der Unternehmen hängt. Letztere werden massiv geschwächt.
Mag es aus Sicht des Vertreters der größten Regierungspartei mit Blick auf die anstehenden Wahlen eine probate Strategie sein, dass Offensichtliche zu leugnen, so ist das für die Gesellschaft sehr gefährlich. Je mehr es Politik und Medien gelingt, die Schuld für das Versagen bei anderen zu verorten, desto größer die Gefahr, dass wir als nächsten Schritt nicht einen besseren, sondern einen noch schlechteren Staat bekommen.
Es lag nicht am Geld!
Regelmäßige Leser meiner Kolumnen wissen, dass ich die Politik der letzten Jahre sehr kritisch sehe. Die Politik hat konsequent Konsum vor Investitionen gestellt und damit den Staat so geschwächt, dass er nicht mehr handlungsfähig war. Sie hat uns „Das Märchen vom reichen Land“ erzählt, das sich alles leisten kann und von Bildung über Digitalisierung bis zur öffentlichen Infrastruktur und Verwaltung alles verrotten lässt. (Dies mag für Leser, die in den noch einigermaßen gut regierten Gegenden des Landes wohnen, hart klingen, ist aus Sicht eines Berliners aber zurückhaltend formuliert). Den Rückstand Deutschlands zeigen alle relevanten internationalen Vergleiche.
Deshalb ist es berechtigt, von strukturellem Staatsversagen zu sprechen. Die Strukturen sind von der Politik über Jahrzehnte abgewirtschaftet worden und das akute Politikversagen der letzten zwölf Monate führt uns dies nur umso deutlicher vor Augen.
Gern wird an dieser Stelle eingewandt, es läge an der „schwarzen Null“ oder wäre ein Beweis für das Versagen des Kapitalismus, weshalb die Antwort in höheren Steuern, Staatsausgaben und mehr Staat läge. Nichts könnte falscher sein.
Zum einen ist die „schwarze Null“ eine Lüge. Der Staat hat nämlich nicht „gespart“, sondern nur weniger schnell mehr ausgegeben. Allein der Bund hatte von 2009 bis 2018 dank Steuermehreinnahmen, Zinsersparnis und geringeren Ausgaben für Arbeitslosigkeit rund 460 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung. Nur rund 70 Milliarden flossen in die Schuldentilgung. Der Rest ging für höhere Sozialausgaben drauf. (LINK: https://think-beyondtheobvious.com/die-schwarze-null-ist-keine-leistung-eine-luege-und-eine-grosse-dummheit/ ) Der Staat hätte also die Mittel gehabt, in die Zukunft zu investieren. Die Politik hat sich entschieden, das nicht zu tun.
Auch die Kritik an unserer Wirtschaftsordnung ist in diesem Zusammenhang völlig unangebracht. Vermeintliches „Marktversagen“ erweist sich bei genauerem Hinsehen als das Gegenteil, nämlich als die Folge völlig verfehlter politischer Eingriffe. Es ist schon hanebüchen, wie die Befürworter größerer staatlicher Einflussnahme, dass offensichtliche Versagen des Staates zu einem Versagen der „Wirtschaft“ und des „Marktes“ ummünzen, um noch mehr staatlichen Einfluss zu begründen.
Wo ist die Opposition?
Ganz vorn bei der Forderung nach noch mehr Staat sind die Grünen, die als Lehre aus der Bekämpfung der Corona-Krise schließen, wir sollten mit ähnlichen Maßnahmen bei der Bekämpfung des Klimawandels vorgehen. Unvergessen der Vorschlag von Robert Habeck in der ersten Corona-Welle, die Hoteliers sollten den Lockdown doch nutzen, um ihre Heizung zu modernisieren. Besser kann man nicht auf den Punkt bringen, welches Verständnis Spitzenpolitiker für Wirtschaft aufbringen.
Dabei brauchen wir genau das nicht: einen Staat, der sich in noch mehr Bereiche einmischt und dies ähnlich inkompetent und ineffizient wie bei Corona, aber auch wie bei den bisherigen Maßnahmen für den Klimaschutz. Was wir brauchen, ist ein Staat, der funktioniert. Der Staat muss also nicht größer werden, nur besser. Deutschland ist ein Sanierungsfall – noch ein Wort, das die Politik sicherlich untersagen will. Darum wiederhole ich es: Wir sind, nachdem wir 20 Jahre nicht in die Zukunftsfähigkeit investiert haben, ein Sanierungsfall. Wir hätten es nicht sein müssen, denn es lag nicht am Geld. Das Geld wurde nur falsch ausgegeben.
Im Herbst sind Bundestagswahlen und wir stehen vor einem Problem: Wo ist die Opposition gegen „mehr“ und für den „besseren“ Staat? Wir bekommen sie nur, wenn wir Bürger die Politik danach fragen. Wenn wir den Weckruf des Corona-Versagen dazu nutzen, die richtigen Forderungen an die Politiker zu stellen. (Formuliert in „Ein Traum von einem Land – Deutschland 2040“.) Versäumen wir diese Chance, dürfte das Staatsversagen sich breitmachen.
→ manager-magazin.de: “Deutschlands strukturelles Staatsversagen”, 12. März 2021
Nach dem überstürzten Entscheid der Bundesregierung, die Verimpfung von AstraZeneca auszusetzen, habe ich folgenden Kommentar nachgeschoben:
Letzte Woche habe ich zusammengefasst, weshalb ich der Auffassung bin, dass es Folge eines strukturellen Staatsversagens ist, wie schlecht Deutschland die Corona-Krise bewältigt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es die deutsche Politik schafft, ihre Fehlleistungen noch zu steigern. Seit gestern weiß ich es besser.
Aufgrund von vereinzelten Komplikationen mit dem Impfstoff von AstraZeneca wurde dessen Verwendung mit sofortiger Wirkung gestoppt. Konkret handelt es sich um sieben Betroffene, von denen mittlerweile drei verstorben sind. Das für die Zulassung zuständige Paul-Ehrlich-Institut begründete dies mit der Notwendigkeit, die Fälle genauer zu untersuchen. Der Präsident des Instituts erläuterte im Interview bei ARD-Tagesthemen, dass bei dieser Entscheidung ausschließlich auf die Risiken des Impfstoffes geblickt würde.
Aus Sicht des für die Zulassung von Impfstoffen zuständigen Instituts mag es genügen, einseitig auf die Risiken der Impfung zu blicken. Aus Sicht der zuständigen Politik, die letztlich den Entscheid über den Impfstopp getroffen hat, ist es ein weiteres Mal ein Beweis dafür, dass den Verantwortlichen jedes Verständnis für die außergewöhnliche Lage, in der wir uns befinden, fehlt. Denn es genügt erneut – wie schon bei der Beschaffung von Impfstoffen – ein Taschenrechner, um zu erkennen, dass es nur eine Antwort gegeben hätte: weiter impfen!
Simple Mathematik
Machen wir die überschlägige Rechnung:
- Bei 1,6 Millionen mit dem Impfstoff von AstraZeneca geimpften Personen gab es sieben Fälle von Komplikationen, von denen mittlerweile drei Personen verstorben sind.
- Würden wir alle Bundesbürger mit AstraZeneca impfen (rund 80 Millionen), wäre damit bei gleicher Risikoquote mit 350 Fällen von Komplikationen und rund 175 Toten in Folge der Nebenwirkungen zu rechnen (80/1,6*7).
- Verzichten wir auf die Impfung, müssen wir damit rechnen, dass mehr Menschen an Corona sterben. Bekanntlich hängt das Risiko vom Alter des Patienten ab. Überschlägig kann man davon ausgehen, dass das Risiko, an Corona zu sterben, in Deutschland bei einem Prozent liegt. Nimmt man an, alle Bürger würden an Corona erkranken, wären das also 800.000 Menschen. Dieser erste Vergleich zeigt: Auf eine Komplikation in Folge der Impfung kommen 2286 Menschen, die nicht an Corona sterben. Auf einen Toten in Folge der Nebenwirkungen wären es 4570 Menschen, die nicht an Corona sterben. Eine – wie ich finde – sehr gute Relation.
- Das Aussetzen der Impfung mit AstraZeneca verzögert die Impfkampagne erheblich. Nehmen wir vereinfacht und überoptimistisch an nur um eine Woche, entspricht dies einem wirtschaftlichen Schaden von vier Milliarden Euro. Wir könnten also den Betroffenen von Impfkomplikationen oder deren Hinterbliebenen pro Kopf rund 11,5 Millionen Euro Entschädigung bezahlen und es würde sich aus wirtschaftlicher Hinsicht lohnen.
- In Wirklichkeit ist die Rechnung der Impfung noch viel positiver: Zum einen sind bereits viele Menschen geimpft oder haben eine Coronainfektion überstanden. Wir müssen also nicht mehr die ganze Bevölkerung impfen. Zum anderen gibt es weitere Impfstoffe. Letztlich führt die Verzögerung der Impfung zu deutlich höheren Schäden als den genannten vier Milliarden, da angesichts der drohenden dritten Welle mit einer Fortsetzung und erneuten Verschärfung der Lockdown-Maßnahmen zu rechnen ist. Übersetzt bedeutet dies: Wir können noch mehr Geld bereitstellen, um die Opfer von Nebenwirkungen finanziell zu entschädigen.
Es ist offensichtlich, dass es sich lohnt, das Risiko von Komplikationen und auch Toten im Zusammenhang mit der Impfkampagne aus gesundheitlicher und wirtschaftlicher Sicht einzugehen. Die Politik hätte diese Rechnung den Bürgern vermitteln sollen, statt in Panik die ohnehin schlecht laufende Impfkampagne endgültig vor die Wand zu fahren.
Enormer Schaden
Kommt – wie angesichts der hier dargelegten Dreisatz-Mathematik mit Sicherheit zu erwarten – in wenigen Tagen der Entscheid, doch mit dem Verimpfen von AstraZeneca fortzufahren, ist der Schaden nicht mehr zu bereinigen. Noch weniger Bürger werden bereit sein, sich mit dem nun massiv in seinem Image geschädigten Impfstoff versorgen zu lassen, noch länger bleiben wir im gesundheitlichen und wirtschaftlichen Lockdown.
Was ist zu tun? Der neue Gesundheitsminister – und für mich steht fest, dass wir den noch diese Woche benötigen – sollte Folgendes tun:
- sich selbst sofort mit dem Impfstoff von AstraZeneca impfen lassen
- dafür sorgen, dass es auch die anderen Mitglieder der Bundesregierung und die Ministerpräsidenten tun
- den Impfstoff sofort für alle Bürger, die damit geimpft werden wollen, freigeben
- bei einer Übernachfrage nach dem Impfstoff diesen im Losverfahren verteilen. Die Steuer-ID, die jeder in Deutschland lebende Bürger vom Kind bis zum Greis hat, dient als Losnummer
- für etwaige Impfschäden großzügige Entschädigungen zusagen: für jeden, der eine der seltenen Hirnvenenthrombosen erleidet, zehn Millionen Euro; für die Hinterbliebenen von jenen, die daran sterben, 20 Millionen Euro. Zusätzlich wird ein Fonds aufgelegt, der weitere Opfer anderer, bis jetzt nicht bekannter Nebenwirkungen aller Corona-Impfstoffe, entschädigt.
Tempo
Was unsere Politiker nicht verstehen: In der Pandemie geht es vor allem um Geschwindigkeit. Wir müssen sehr schnell handeln, um die Erkrankungen, aber auch die wirtschaftlichen Folgen unter Kontrolle zu bringen. Der Unterschied zur normalen Grippe liegt neben der erhöhten Sterblichkeit vor allem daran, dass wir bei einer Grippe nicht in den Lockdown gehen. Millionen von Existenzen stehen auf dem Spiel, eine ganze Generation von Schülern wird noch lange unter den Folgen des schlechten Krisenmanagements der Politik zu leiden haben.
Israel, die USA und Großbritannien beweisen, dass es geht. Die überstürzte und von Panik gezeichnete Entscheidung, die Impfungen zu stoppen, beweist, die aktuelle politische Führung in Deutschland kann es nicht.
P. S.: Ich selbst würde mich noch heute mit dem Wirkstoff von AstraZeneca impfen lassen.
→ manager-magazin.de: “Deutschlands strukturelles Staatsversagen”, 12. März 2021
→ manager-magazin.de: “Ich würde mich mit dem Wirkstoff von AstraZeneca impfen lassen”, 16. März 2021