Sanierungs­fall Deutschland

Folgender Kommentar von mir erschien bei Die Deutsche Wirtschaft:

Erinnern wir uns an die Zeiten vor Corona und Krieg: 2019 stand die deutsche Wirtschaft fantastisch da. Zehn Jahre Aufschwung lagen hinter uns, nur kurzzeitig getrübt von der Eurokrise. Die Arbeitslosigkeit war auf ein Rekordtief gefallen, die Steuereinnahmen sprudelten. Die Politik prahlte mit der „schwarzen Null“ und in Großbritannien erschien angesichts unserer Erfolge ein Bestseller mit dem Titel „Why the Germans Do it Better“.

Getragen wurde dieser Aufschwung von Exporten. Regelmäßig waren wir Exportweltmeister und die Außenhandelsquote stieg von 53 Prozent (2002) auf über 70 Prozent an. Zweifellos ein Erfolg unserer Industrie, die produziert, was die Welt braucht. Auch Erfolg der Politik, die mit den Harz-Reformen das Lohnniveau gedrückt hat. Wichtigster Grund dürfte aber die Politik der EZB gewesen sein. Als Nebenwirkung der Euro-Rettungspolitik sanken die Zinsen deutlich, was unsere Kunden im Euroraum stabilisierte, die Binnennachfrage in Deutschland stärkte und den Euro deutlich schwächte. Kostete ein Euro 2009 noch fast 1,50 US-Dollar, sank der Kurs bis Ende 2019 auf 1,11 Dollar. Waren aus Deutschland wurden enorm konkurrenzfähig und wir waren Profiteure der bis heute ungelösten Eurokrise.

Gute Jahre nicht genutzt

„Spare in der Zeit, so hast du in der Not“ lautet ein altes deutsches Sprichwort. Auf das Land übertragen bedeutet das, man soll in den guten Zeiten das Haus wetterfest machen für künftige Schocks und Herausforderungen und die Grundlage legen für eine erfolgreiche Wirtschaft morgen. Genau das haben wir leider nicht gemacht. Die Politik hat zwar behauptet, mit soliden Staatsfinanzen die Grundlage für künftigen Wohlstand zu sichern, doch dies war nur vordergründig der Fall. Allein auf Ebene des Bundes standen der Politik in den Jahren 2009 bis 2018 rund 460 Milliarden zusätzlich zur Verfügung, vor allem aus zusätzlichen Einnahmen und der Zinsersparnis auf den Schulden. Nur ein geringer Teil dieser Mittel floss in die Tilgung von Schulden. Der größte Teil diente der Finanzierung des trotz boomender Wirtschaft weiter expandierenden Sozialstaats.

Würde der Staat eine Bilanz erstellen, könnte man nicht nur sehen, wie die faktische Verschuldung durch immer mehr Sozialversprechen in diesen Jahren gestiegen und nicht gesunken ist, sondern auch, dass das Vermögen des Staates deutlich geschrumpft ist. Die Bundeswehr verlor die Einsatzfähigkeit, die öffentliche Infrastruktur verfiel, das Bildungswesen vergrößerte den Rückstand zur internationalen Spitzengruppe. Zukunftsthemen wie die Digitalisierung wurden verschlafen.

Stattdessen konzentrierte sich die Politik auf andere Themen. Neben dem Ausbau des Sozialstaates ging es um eine großzügige, humanitäre Einwanderungspolitik, die Umsetzung der Energiewende, vom Wall Street Journal schon 2019 als „dümmste Energiepolitik der Welt“ gebrandmarkt und eine Klimapolitik, die sich vor allem gegen die eigene Industrie richtete. Die Politik agierte dabei zunehmend als Planer und Steuerer, der es besser weiß als die Unternehmen und der Markt.

Das Produktivitätswachstum, also die wirtschaftliche Leistung pro Erwerbstätigen betrug 2019 nur noch 0,1 Prozent, in den 1990er Jahren erreichten wir Werte von 2 Prozent pro Jahr.  Die Unternehmen investierten trotz der sehr guten Ertragslage deutlich weniger im Inland, was neben zunehmender Bürokratie auch die Folge relativ hoher Besteuerung und zunehmend teurer und unsicherer Energieversorgung war. Der Anteil der Industrie an der hiesigen Wertschöpfung sank von 2016 von 23 auf 21,5 Prozent Ende 2019. Der Kapitalstock des Landes alterte deutlich schneller als selbst in Italien und Frankreich und nähert sich dem schlechten Niveau Großbritanniens an.

Ende der Illusion

Bereits die Corona-Pandemie offenbarte einen Staat, der entgegen des von der Politik zuvor vermittelten Bildes nicht in der Lage war und ist, seine Kernaufgaben wahrzunehmen. Spätestens mit dem russischen Angriff auf die Ukraine dämmert es der breiten Bevölkerung, dass wir uns in einer (Selbst-) Illusion befunden haben. Während der Westen sich für Geschlossenheit und Entschlossenheit lobt, folgt die Mehrheit der Staaten der Welt unserer Linie gegenüber Russland nicht. China und Indien halten an ihrer engen Bindung mit Moskau fest und es wird immer offensichtlicher, dass es nicht so leicht ist, die Rohstoff-Supermacht der Welt zu sanktionieren. Das Szenario einer Blockbildung und eines kalten ökonomischen Krieges ist nicht von der Hand zu weisen und wäre vor allem für Deutschland und Europa fatal.

Die Politik setzt vermehrt auf lokale Produktion und unterstützt dies mit mehr oder weniger offensichtlichem Protektionismus. Gerne auch als „Klimaabgabe“ positioniert, sind derartige Eingriffe vor allem für ein so stark vom Export abhängiges Land wie Deutschland eine erhebliche Gefahr. Nicht so sehr für die Unternehmen, die bei uns bereits international aufgestellt sind. Diese verlagern – wie schon bisher – die Produktion immer mehr in die Absatzregionen. Unternehmen, die das nicht können, droht wie dem gesamten Standort die Schrumpfung. Insgesamt ist der Verlust überdurchschnittlich gut bezahlter Arbeitsplätze die zwangsläufige Folge.

Befeuert wird diese Entwicklung durch die offensichtlich gescheiterte Energiepolitik. Kein Land der Erde hat so viel Geld für den Umbau der Energieerzeugung in Richtung erneuerbare Energien ausgegeben. Trotzdem konnte man bereits vor dem Krieg erkennen, dass wir in jeder Hinsicht gescheitert sind: statt neue Industrien hierzulande zu schaffen, haben wir den Aufbau von Solar- und Windkraftunternehmen vor allem in China subventioniert. Statt vermeintlich günstige Energie zu erzeugen, war Strom in Deutschland so teuer wie in keinem anderen Industrieland. Statt den Klimaschutz zu befördern, geht die Energieerzeugung hierzulande mit einem deutlich höheren CO2-Ausstoß einher als in den Nachbarstaaten. Statt nach diesem offensichtlichen Scheitern von erfolgreichen Staaten wie Schweden zu lernen, setzt die Bundesregierung frei nach dem Motto Mark Twains auf die Verdoppelung der Anstrengungen, nachdem das Ziel bereits aus den Augen verloren war.

Damit stehen wir vor einem unangenehmen Szenario: unsere Exporte kommen unter Druck aufgrund von De-Globalisierung und internationalen Konflikten. Unsere Industrie verliert an Wettbewerbsfähigkeit aufgrund stark steigender Preise für ohnehin schon teurer Energie und dem politisch verordneten Technologiewandel. Unsere Belastung im Rahmen der europäischen „Solidarität“ steigt deutlich und zwar offen über Transfers und verdeckt über die Inflationspolitik der EZB. Zugleich müssen wir Investitionen in allen Bereichen von Infrastruktur über Digitalisierung und Bildung bis zur Verteidigung nachholen, die in den guten Jahren unterlassen wurden und unseren Staat grundlegend modernisieren.

Der Krieg wäre eine gute Ausrede

Auch ohne russischen Angriff wäre unsere Wohlstandsillusion bitter geendet. Der Krieg hat der Politik das ideale Argument geliefert, um von der eigenen Misswirtschaft abzulenken und die erforderlichen drastischen Maßnahmen zur Sicherung unseres Wohlstands zu begründen. Doch leider nimmt die Regierung diese Chance nicht wahr. Im Gegenteil werden die bisherigen Fehler nicht nur nicht korrigiert, sondern weitere Verschlechterungen beschlossen. Ein paar Beispiele:

  • Der Bundeswehr wurde ein einmaliges „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro verschafft, um die größten Lücken zu schließen. Das Zwei-Prozent-Ziel der NATO wird dennoch nicht erreicht.
  • Ungeachtet der Bedeutung globaler Märkte für unser exportorientiertes Geschäftsmodell fehlt die Bundesregierung diese in Frage. In deutlicher Überschätzung der eigenen Stärke gefällt man sich darin, moralischer Exportweltmeister zu sein, während andere Staaten ihre ökonomischen Interessen vertreten.
  • Der Sozialstaat bleibt derweil trotz eines bereits 2019 erreichten absoluten und relativen Rekordes an Sozialausgaben tabu. Wenn überhaupt, werden höhere Sozialbeiträge und Bundeszuschüsse beschlossen, während das Ausgabenniveau weiter steigt.
  • Mit Blick auf Europa bleibt die Regierung bei dem im Koalitionsvertrag formulierten Primat der EU. Grüne und SPD plädieren deutlich für einen weiteren Ausbau der Schulden- und Transferunion und damit eine erhebliche Belastung der hiesigen Wirtschaft und Steuerzahler.
  • In der Energiepolitik wird die Wahrheit in der Kommunikation auf den Kopf gestellt. Nicht der überstürzte Ausstieg aus der Kernenergie und der später beschlossene Ausstieg aus der Kohlekraft ist demnach daran schuld, dass wir uns in die Abhängigkeit von russischem Gas begeben haben. Die Ursache soll vielmehr im unzureichenden Ausbau der Erneuerbaren Energien liegen. Verdrängt wird hierbei, dass die Problematik nicht vorhandener Speicher zwangsweise dazu führt, dass konventionelle Kraftwerke als Reserve vorgehalten werden müssen. Dies ist nicht nur sehr teuer, sondern am leichtesten mit Gaskraftwerken zu erreichen. Die Atomkraft hingegen, die als grundlastfähige Energie in Kombination mit Erneuerbaren nach Einschätzung der Internationalen Energie Agentur zu einem idealen – weil stabilen, kostengünstigen und klimaschonenden – Energiesystem gehört, wurde trotz akuter Krise abgestellt.

Die Bereitschaft zu Reformen, vor allem zu einem Umsteuern der Energiepolitik, fehlt im Unterschied zu früheren Krisensituationen völlig. Schulterzuckend verkündet der zuständige Wirtschaftsminister, dass „wir alle ärmer werden“ um dann, statt etwas dagegen zu unternehmen, die sich daraus zwangsläufig ergebenden Reformerfordernisse zu ignorieren. Praktischerweise hat sich diese Regierung bereits vor dem Ukraine-Krieg von dem Ziel der Mehrung von Wohlstand verabschiedet und stattdessen immerhin 33 Ziele in den Jahreswirtschaftsbericht geschrieben. Dahinter steht die tiefsitzende Wachstumsskepsis der führenden Akteure, die glauben, nur mit weniger Wirtschaftsleistung und sinkendem Konsum sei das Klima zu retten.

Zeitfenster schließt sich

„Es ist noch immer gut gegangen“, denken nicht wenige Bürger. Ein schwerer Irrtum. Die Rahmenbedingungen haben sich gegenüber früheren Krisen deutlich verschlechtert.

Anders als früher können wir nicht darauf hoffen, dass das Ausland uns durch mehr Nachfrage nach unseren Waren einen Aufschwung beschert. Die Exportquote ist bereits auf einem ungesund hohen Niveau und dürfte eher sinken als weiter ansteigen. Die De-Globalisierung bewirkt eine Verlagerung von Produktion aus Deutschland heraus. Eine zunehmend protektionistischere Welt wird weniger bereit sein, deutsche Produkte abzunehmen. Die überproportional gestiegenen Energiekosten führen zu einem Verlust der kostenmäßigen Konkurrenzfähigkeit. Die Belastung mit Steuern- und Abgaben bleibt hoch und dürfte weiter steigen. Die bröckelnde Infrastruktur erweist sich immer mehr als Hemmschuh für hier agierende Unternehmen.

Der entscheidende Unterschied zu früheren Krisen liegt in der Demografie. Vor zwanzig aber auch noch vor zehn Jahren war Deutschland am Höhepunkt der demografischen Entwicklung. Beginnend mit diesem Jahrzehnt beginnt die Generation der Babyboomer in Rente zu gehen und der Fachkräftemangel wird eklatant. Über Zuwanderung lässt sich dieses Problem nicht lösen, vor allem wenn man nicht auf die Qualifikation der Migranten achtet. Erforderlich wären Reformen des Rentensystems mit dem Ziel der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, mehr Anreize zur Arbeitsaufnahme über geringere Steuer- und Abgabenlast und eine Qualifikationsoffensive vor allem mit Blick auf die Zuwanderer und deren Kinder. Dies ist nicht in Sicht, weshalb sich die Verteilungskonflikte in den kommenden Jahren massiv verschärfen werden. Noch mehr Unternehmen dürften vor diesem Hintergrund ihre Produktion ins Ausland verlagern oder wegen Nachfolgeproblemen ganz aufgeben.

Wollen wir gegensteuern, so haben wir nur wenige Jahre Zeit. In den kommenden Jahren geht die Generation der Babyboomer in Rente. Realistisch sind Reformen nur vor dem Jahr 2030 überhaupt noch politisch durchsetzbar, was es so bitter macht, dass die Politik die Dramatik der Herausforderung leugnet.

Agenda 2030

Die Agenda 2010 war das letzte Reformprojekt in diesem Land. Wenngleich viele Faktoren zur guten wirtschaftlichen Entwicklung beigetragen haben, sind die Wirkungen einer Begrenzung des Sozialstaats und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nicht zu unterschätzen. Die Agenda 2030 müsste deutlich weiter gehen.

  • Es ist zwingend, einen Neustart der Klima- und Energiepolitik zu vollziehen. Die Grundsätze von Effizienz und Effektivität müssen den bisherigen Ansatz des „Koste es, was es wolle“ ersetzen. Dies bedeutet eine Internalisierung der Umweltkosten über CO2-Steuern und Zertifikate und eine Beschränkung staatlicher Eingriffe auf die Unterstützung ergebnisoffener Forschung.
  • Die Alterung der Gesellschaft und die ungedeckten Versprechen des Staates zur Versorgung der Alten erfordern deutliche Eingriffe: längere Lebensarbeitszeit, höhere Jahresarbeitszeit, mehr Anreize für Bürger auch im höheren Alter zu arbeiten (zum Beispiel durch Abgabenentlastung) sind nur einige Punkte.
  • Neuausrichtung der Bildungspolitik durch Anhebung der Leistungsstandards, Fokussierung auf MINT-Fächer und deutliche Reduktion des Anteils an Studenten. Wenn mehr als 50 Prozent eines Jahrgangs studiert, statt eine Ausbildung zu machen, verschärft dies den Fachkräftemangel und erhöht den Anteil jener, die mit ihrer Ausbildung nur hoffen können, im öffentlichen Sektor zu arbeiten. Ein weiterer Fokus muss auf die rund 2,6 Millionen Menschen unter 35 Jahren gelegt werden, die über keine Berufsausbildung verfügen.
  • Investitionsoffensive in Infrastruktur, Digitalisierung und Automatisierung. Letzteres ist gerade für eine alternde Gesellschaft keine Bedrohung, sondern eine Chance.
  • Umbau des Steuer- und Abgabensystems mit einem Fokus auf die Belohnung von Arbeit und Investitionen.

Eine Liste, die sich beliebig ergänzen ließe. Wohin man auch blickt: Unser Land ist ein Sanierungsfall.

Wenig Hoffnung

Es fehlt an Erkenntnis, Bereitschaft, Kraft und den Voraussetzungen für einen erfolgreichen Neustart. Die anhaltende Realitätsverweigerung der Politik wird den Absturz beschleunigen. Wenn die Erkenntnis kommt, wird es wohl zu spät sein.

Während die Politik sich immer mehr selbst inszeniert, sei es mit aufwändigen Hochzeiten, Reisen im Privatflugzeug, lustigen Tanzvideos aus dem Bundestag, Helikopterflügen für privilegierte Söhne oder der skrupellosen Aufblähung des Beamtenapparates zur Versorgung der Gefolgsleute, flüchten jene, die es noch können. Unternehmen verlagern die Produktion, Unternehmer verkaufen ihr Lebenswerk. Die De-Industrialisierung erfolgt leise, nur wenige machen Schlagzeilen, noch weniger Vertreter der Wirtschaft äußern sich in der Öffentlichkeit.  Schluss damit! Als Bürger dieses Landes müssen gerade die Unternehmer und Manager laut werden. Denn nur dann werden die Themen diskutiert, die wirklich wichtig sind für unsere Zukunft.

 die-deutsche-wirtschaft.de: “Sanierungsfall Deutschland: Wir brauchen eine Agenda 2030”, 17. Juni 2023