Wir brauchen eine Agenda 2030

Morgen (14. Mai 2023) spreche ich in meinem Podcast mit Thomas Mayer über die Notwendigkeit einer Agenda 2030, um Deutschland wieder voranzubringen. In diesem Zusammenhang dachte ich an einen Gastbeitrag von mir, der im letzten August bei Cicero erschienen ist und bisher nicht auf diesen Seiten zu lesen war. Er ist aber immer noch aktuell. Deshalb hier „Ende der Illusionen“ aus dem August 2022 mein Titel war übrigens: „Diesmal droht der K.O.“:

„Deutschlands Wirtschaft hat sich über Jahrzehnte hinweg als sehr widerstandsfähig erwiesen. Ölkrise, Wiedervereinigung, New Economy Blase – immer wieder gelang es Wirtschaft und Politik, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und den Wohlstand zu sichern. So auch Anfang der 2000er Jahre, als Deutschland in Folge der Einführung des Euro als ‘kranker Mann Europas’ galt und unter anderem durch die schmerzhaften Reformen der Agenda 2010 die Grundlage für einen erneuten Aufschwung legte. Heute stehen in Angesicht von Krieg, De-Globalisierung und Energiekrise, die Chancen deutlich schlechter. Es droht das K.O.

Erinnern wir uns an die Zeiten vor Corona und Krieg: 2019 stand die deutsche Wirtschaft fantastisch da. Zehn Jahre Aufschwung lagen hinter uns, nur kurzzeitig getrübt von der Eurokrise. Die Arbeitslosigkeit war auf ein Rekordtief gefallen, die Steuereinnahmen sprudelten. Die Politik prahlte mit der ‘schwarzen Null’ und in Großbritannien erschien angesichts unserer Erfolge ein Bestseller mit dem Titel ‘Why the Germans Do it Better’.

Getragen wurde dieser Aufschwung von Exporten. Regelmäßig waren wir Exportweltmeister und die Außenhandelsquote stieg von 53 Prozent (2002) auf über 70 Prozent an. Zweifellos ein Erfolg unserer Industrie, die produziert, was die Welt braucht. Auch Erfolg der Politik, die mit den Harz-Reformen das Lohnniveau gedrückt hat. Wichtigster Grund dürfte aber die Politik der EZB gewesen sein. Als Nebenwirkung der Euro-Rettungspolitik sanken die Zinsen deutlich, was unsere Kunden im Euroraum stabilisierte, die Binnennachfrage in Deutschland stärkte und den Euro deutlich schwächte. Kostete ein Euro 2009 noch fast 1,50 US-Dollar, sank der Kurs bis Ende 2019 auf 1,11 Dollar. Waren aus Deutschland wurden enorm konkurrenzfähig und wir waren Profiteure der bis heute ungelösten Eurokrise.

Gute Jahre nicht genutzt

‘Spare in der Zeit, so hast du in der Not’ lautet ein altes deutsches Sprichwort. Auf das Land übertragen bedeutet das, man soll in den guten Zeiten das Haus wetterfest machen für künftige Schocks und Herausforderungen und die Grundlage legen für eine erfolgreiche Wirtschaft morgen. Genau das haben wir leider nicht gemacht. Die Politik hat zwar behauptet, mit soliden Staatsfinanzen die Grundlage für künftigen Wohlstand zu sichern, doch dies war nur vordergründig der Fall. Allein auf Ebene des Bundes standen der Politik in den Jahren 2009 bis 2018 rund 460 Milliarden zusätzlich zur Verfügung, vor allem aus zusätzlichen Einnahmen und der Zinsersparnis auf den Schulden. Nur ein geringer Teil dieser Mittel floss in die Tilgung von Schulden. Der größte Teil diente der Finanzierung des trotz boomender Wirtschaft weiter expandierenden Sozialstaats.

Würde der Staat eine Bilanz erstellen, könnte man nicht nur sehen, wie die faktische Verschuldung durch immer mehr Sozialversprechen in diesen Jahren gestiegen und nicht gesunken ist, sondern auch, dass das Vermögen des Staates deutlich geschrumpft ist. Die Bundeswehr verlor die Einsatzfähigkeit, die öffentliche Infrastruktur verfiel, das Bildungswesen vergrößerte den Rückstand zur internationalen Spitzengruppe. Zukunftsthemen wie die Digitalisierung wurden verschlafen.

Stattdessen konzentrierte sich die Politik auf andere Themen. Neben dem erwähnten Ausbau des Sozialstaates ging es um eine großzügige, humanitäre Einwanderungspolitik, die Umsetzung der Energiewende, vom Wall Street Journal schon 2019 als ‘dümmste Energiepolitik der Welt’ gebrandmarkt und eine Klimapolitik, die sich vor allem gegen die eigene Industrie richtete. Die Politik agierte dabei zunehmend als Planer und Steuerer, der es besser weiß als die Unternehmen und der Markt.

Kurz gesagt, wir haben so gehandelt, als würde der Boom nie enden. Dabei hat sich Deutschland immer mehr in eine Situation manövriert, wo das Wohlergehen von anderen abhängt. Die Weltkonjunktur und vor allem die Nachfrage aus China wurde immer bedeutender für die hiesige Industrie. Der Zugang zu russischem Gas sorgte für tragbare Energiekosten, diente als Absicherung für die Unwägbarkeiten der Erneuerbaren Energien und sollte nach den Plänen der Ampel auch die Kohle ersetzen. Seltene Erden und andere Rohstoffe aus China und Russland sollten den Umbau zur klimaneutralen Wirtschaft ermöglichen. Und in der Eurozone sollten die anderen Länder dauerhaft deutsche Exportüberschüsse hinnehmen und die EZB die Währungsunion mit dauerhaft billigem Geld am Leben erhalten und nebenbei deutschen Exporten in alle Welt einen Wechselkursvorteil bescheren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese einmalige Sondersituation enden musste und die wahre Schwäche Deutschlands offenbart.

Hinter den Kulissen waren die Probleme schon 2019 offensichtlich. Das Produktivitätswachstum, also die wirtschaftliche Leistung pro Erwerbstätigen betrug 2019 nur noch 0,1 Prozent, in den 1990er Jahren erreichten wir Werte von 2 Prozent pro Jahr.  Die Unternehmen investierten trotz der sehr guten Ertragslage deutlich weniger im Inland, was neben zunehmender Bürokratie auch die Folge relativ hoher Besteuerung und zunehmend teurer und unsicherer Energieversorgung war. Der Anteil der Industrie an der hiesigen Wertschöpfung sank von 2016 von 23 auf 21,5 Prozent Ende 2019. So hat die deutsche Automobilindustrie ihre Produktion im Inland seit 2015 bis Ende 2019 um rund 10 Prozent reduziert und im europäischen Ausland erhöht. Dies ist kein Zufall, sondern ein Trend, der daraufhin deutet, dass der Standort Deutschland deutlich an Attraktivität verliert.

Wir haben in den 10 Jahren vor Corona eine Illusion von Wohlstand erlebt, quasi als letzte Party eines Landes, welches mit alten Industrien noch einmal die Vorzüge der Globalisierung in voller Blüte nutzen konnte. 

Ende der Illusion

Bereits die Corona-Pandemie offenbarte einen Staat, der entgegen des von der Politik zuvor vermittelten Bildes nicht in der Lage war und ist, seine Kernaufgaben wahrzunehmen. Es gab keine Vorsorge, obwohl diese bereits Jahre zuvor angemahnt wurde. Die technische und personelle Ausstattung der Bürokratie ist bis heute rückständig und überfordert. Die Beschaffung von Masken, Tests und Impfstoffen war gekennzeichnet von Schwerfälligkeit und Konzeptlosigkeit. Die Rettungsmaßnahmen für die Wirtschaft waren über-bürokratisiert und dennoch anfällig für Missbrauch. Noch zwei Jahre nach Pandemiebeginn fehlen jegliche Daten, um den Nutzen einzelner Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung beurteilen zu können. Eine Liste des Staatsversagens, die noch beliebig zu verlängern wäre. Im Ergebnis lag die reale deutsche Wirtschaftsleistung Anfang 2022 trotz Milliardenhilfen immer noch unter dem Vor-Corona-Niveau.

Der größte Fehler während der Corona-Krise war die Bereitschaft der hiesigen Politik einer Schulden- und Transferunion auf europäischer Ebene zuzustimmen. Die aus dem sogenannten ‘Wiederaufbaufonds’ erwachsene Last wird Deutschland überfordern und die Spannungen innerhalb von EU und Eurozone erhöhen, warnt deutlich der Bundesrechnungshof, den die Bundestagsabgeordneten ignorieren.

Spätestens mit dem russischen Angriff auf die Ukraine dämmert es der breiten Bevölkerung, dass wir uns in einer (Selbst-) Illusion befunden haben. Die Bundeswehr muss erst in die Lage versetzt werden, ihre eigentliche Aufgabe der Landesverteidigung wahrzunehmen. Allein 20 Milliarden Euro sind notwendig, um die Munition zu beschaffen, die man bräuchte, um das Land einige Wochen zu verteidigen.

Eng damit verbunden ist die Erkenntnis, dass die friedliche Welt der Kooperation und des Wandels durch Handel sich ebenfalls als Illusion erweist. Während der Westen sich für Geschlossenheit und Entschlossenheit lobt, folgt die Mehrheit der Staaten der Welt unserer Linie gegenüber Russland nicht. China und Indien halten an ihrer engen Bindung mit Moskau fest und es wird immer offensichtlicher, dass es nicht so leicht ist, die Rohstoff-Supermacht der Welt zu sanktionieren. Das Szenario einer Blockbildung und eines kalten ökonomischen Krieges ist nicht von der Hand zu weisen und wäre vor allem für Deutschland und Europa fatal. Nicht nur ist China ein großer und vor allem für die Automobilindustrie hoch profitabler Markt, sondern auch ein wichtiger Lieferant von Batterien, Solarmodulen und seltenen Erden.

Auch so müssen wir uns auf ein Ende der Globalisierung einstellen. Corona hat gezeigt, dass Lieferketten rund um den Globus anfällig sind. Die Politik setzt vermehrt auf lokale Produktion und unterstützt dies mit mehr oder weniger offensichtlichem Protektionismus. Gerne auch als ‘Klimaabgabe’ positioniert, sind derartige Eingriffe vor allem für ein so stark vom Export abhängiges Land wie Deutschland eine erhebliche Gefahr. Nicht so sehr für die Unternehmen, die bei uns bereits international aufgestellt sind. Diese verlagern – wie schon bisher – die Produktion immer mehr in die Absatzregionen. Unternehmen, die das nicht können, droht wie dem gesamten Standort die Schrumpfung. Insgesamt ist der Verlust überdurchschnittlich gut bezahlter Arbeitsplätze die zwangsläufige Folge.

Befeuert wird diese Entwicklung durch die offensichtlich gescheiterte Energiepolitik. Kein Land der Erde hat so viel Geld für den Umbau der Energieerzeugung in Richtung erneuerbare Energien ausgegeben. Trotzdem konnte man bereits vor dem Krieg erkennen, dass wir in jeder Hinsicht gescheitert sind: statt neue Industrien hierzulande zu schaffen, haben wir den Aufbau von Solar- und Windkraftunternehmen vor allem in China subventioniert. Statt vermeintlich günstige Energie zu erzeugen, war Strom in Deutschland so teuer wie in keinem anderen Industrieland. Statt den Klimaschutz zu befördern, geht die Energieerzeugung hierzulande mit einem deutlich höheren CO2-Ausstoß einher als in den Nachbarstaaten. Statt nach diesem offensichtlichen Scheitern von erfolgreichen Staaten wie Schweden zu lernen, verwarf Klima- und Wirtschaftsminister Robert Habeck dies bei Vorstellung seiner ‘Eröffnungsbilanz’ und setzte stattdessen frei nach dem Motto Mark Twains auf die Verdoppelung der Anstrengungen, nachdem das Ziel bereits aus den Augen verloren war. Statt die Versorgungssicherheit des Landes zu sichern, setzte man immer mehr auf russisches Gas als ‘Brückenenergie’ ohne zu wissen, wie lang diese Brücke eigentlich ist.

Damit stehen wir vor einem unangenehmen Szenario: Unsere Exporte kommen unter Druck aufgrund von De-Globalisierung und internationalen Konflikten. Unsere Industrie verliert an Wettbewerbsfähigkeit aufgrund stark steigender Preise für ohnehin schon teurer Energie und dem politisch verordneten Technologiewandel. Unsere Belastung im Rahmen der europäischen ‘Solidarität’ steigt deutlich und zwar offen über Transfers und verdeckt über die Inflationspolitik der EZB. Zugleich müssen wir Investitionen in allen Bereichen von Infrastruktur über Digitalisierung und Bildung bis zur Verteidigung nachholen, die in den guten Jahren unterlassen wurden und unseren Staat grundlegend modernisieren.

Zeitenwende

Wir erleben eine ‘Zeitenwende’. Die Tatsache, dass diese uns so stark trifft und überrascht, ist allerdings hausgemacht. Auch ohne russischen Angriff hätte unsere Wohlstandsillusion bitter geendet. Der Politik liefert der Krieg in der Ukraine das ideale Argument, um von der eigenen Misswirtschaft abzulenken und die erforderlichen drastischen Maßnahmen zur Sicherung unseres Wohlstands einzuleiten. Doch leider sieht es nicht danach aus, als ob die Regierung diese Chance ergreifen würde.

Im Gegenteil sprechen alle Anzeichen dafür, dass die bisherigen Fehler nicht nur nicht korrigiert werden, sondern eine weitere Verschlechterung eintritt. Ein paar Beispiele:

  • Der Bundeswehr wurde ein einmaliges ‘Sondervermögen’ von 100 Milliarden Euro verschafft, um die größten Lücken zu schließen. In der Finanzplanung bis 2026 werden hingegen fallende Verteidigungsausgaben kalkuliert. Dabei müssen wir das Zwei-Prozentziel der NATO einhalten, wollen wir dauerhaft eine funktionsfähige Armee besitzen.
  • Ungeachtet der Bedeutung der globalen Märkte für unser exportorientiertes Geschäftsmodell stellt die Bundesregierung diese in Frage. So verweigerte das Bundeswirtschaftsministerium dem Volkswagenkonzern sonst übliche Investitionsgarantien in China ‘aus menschenrechtlichen Gründen’, ohne zu prüfen ob diese Investitionen nicht in Wahrheit zu einer Verbesserung der Lage führen oder sich daran zu stören, dass der nun angestrebte Bezug von Flüssiggas aus Katar ein Land unterstützt, welches nicht sonderlich für die Achtung der Menschenrechte bekannt ist.
  • Der Sozialstaat bleibt derweil trotz eines bereits 2019 erreichten absoluten und relativen Rekordes an Sozialausgaben tabu. Wenn überhaupt werden höhere Sozialbeiträge und Bundeszuschüsse gefordert, während das Ausgabenniveau weiter steigt. Jüngstes Beispiel sind die deutlich steigenden Beiträge zur Krankenversicherung. Bei der Rentenversicherung, die angesichts des demografischen Wandels dringend saniert werden muss, bleibt die Bundesregierung beim Kurs des ‘Augen zu und durch’.
  • Mit Blick auf Europa bleibt die Regierung bei dem im Koalitionsvertrag formulierten Primat der EU. Grüne und SPD plädieren deutlich für einen weiteren Ausbau der Schulden- und Transferunion und damit eine erhebliche Belastung der hiesigen Wirtschaft und Steuerzahler.
  • In der Energiepolitik wird die Wahrheit in der Kommunikation auf den Kopf gestellt. Nicht der überstürzte Ausstieg aus der Kernenergie und der später beschlossene Ausstieg aus der Kohlekraft verbunden mit der entsprechenden Signalwirkung für Investoren ist demnach daran schuld, dass wir uns in die Abhängigkeit von russischem Gas begeben haben. Die Ursache soll vielmehr im unzureichenden Ausbau der Erneuerbaren Energien liegen. Verdrängt wird hierbei, dass selbst bei einem deutlich höheren Anteil der Erneuerbaren die Problematik nicht vorhandener Speicher zwangsweise dazu führt, dass konventionelle Kraftwerke als Reserve vorgehalten werden müssen. Dies ist nicht nur sehr teuer, sondern am leichtesten mit Gaskraftwerken zu erreichen. Die Atomkraft hingegen, die als grundlastfähige Energie in Kombination mit Erneuerbaren nach Einschätzung der Internationalen Energie Agentur zu einem idealen – weil stabilen, kostengünstigen und klimaschonenden – Energiesystem gehört, soll trotz akutem Energiemangel planmäßig zum Jahresende abgeschaltet werden.

Von der ‘Zeitenwende’ zu reden, genügt nicht. Man muss auch entsprechend handeln. Die anhaltende Realitätsverweigerung der Politik wird den Absturz noch beschleunigen.

Gas-Schock

Als wäre dies nicht schon alles höchst unerfreulich, droht nun auch noch der Gas-Schock. Bereits vor vier Jahren gab es eine Studie des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, die schildert, was im Fall einer ‘Gasmangellage in Süddeutschland’ zu tun wäre und wie man sich darauf vorbereiten sollte. Wie bei Corona wurden die Warnungen ignoriert. Statt sich dann, unmittelbar nach Beginn des Krieges auf eine Gasmangellage einzustellen, beschränkte sich die Politik auf den Versuch neue Lieferanten zu erschließen und Terminals für Flüssiggas zu errichten, die naturgemäß für den bevorstehenden Winter keine nennenswerte Entlastung bringen können. Gas-Einsparung hingegen war kein Thema, so wurde im Mai 2022 so viel Gas zur Erzeugung von Strom verwendet, wie noch nie in einem Monat Mai. Zeitgleich wurde wahrheitswidrig behauptet eine Laufzeitverlängerung für die Kernkraftwerke wäre unmöglich und damit wertvolle Zeit verloren, um die Beschaffung neuer Brennstäbe zu organisieren.

Nun droht Russland wenig überraschend die Lieferungen einzustellen. Die Folgen wären erheblich und würden wichtige Sektoren der Wirtschaft hart treffen: in der Lebensmittelproduktion deckt Erdgas rund 50 Prozent des Energiebedarfs. In einzelnen Branchen wie Molkereien, Ölmühlen und Zuckerfabriken liegt der Gasanteil deutlich darüber. Ohne Erdgas können keine Düngemittel hergestellt werden. Die Glasindustrie würde eine Gasmangellage wohl nicht überleben.  Die chemische Industrie benötigt wie viele andere Gas nicht nur als Energieträger, sondern auch als Rohstoff. Bekommt diese Probleme, strahlt das auf die gesamte Wirtschaft aus. Gleiches gilt für die Metallverarbeitung und die Automobilindustrie. Eine Gas-Krise fräße sich durch die deutsche Wirtschaft und würde erheblichen Schaden anrichten.

Zwar gibt es Ökonomen, die dies für einen verkraftbaren Schock halten. Das Problem dabei: sie unterschätzen, wie wenig attraktiv der Standort Deutschland bereits geworden ist. In Folge der Versäumnisse der letzten Jahre und bedingt durch die auch ohne Gas-Schock hohen Energiepreise. Müssen Unternehmen angesichts eines Energiemangels schließen, ist es keineswegs sicher, dass sie wieder aufmachen. Eine grundlegend andere Situation als bei Corona.

Diesmal anders

Deutschlands Wirtschaft hat sich in vergangenen Krisen als sehr widerstandsfähig erwiesen. Diesmal hingegen droht ein dauerhafter Verlust an Wohlstand. Anders als früher können wir nicht darauf hoffen, dass das Ausland uns durch mehr Nachfrage nach unseren Waren einen Aufschwung beschert. Die Exportquote ist bereits auf einem ungesund hohen Niveau und dürfte eher sinken als weiter ansteigen. Die De-Globalisierung bewirkt eine Verlagerung von Produktion aus Deutschland heraus. Eine zunehmend protektionistischere Welt wird weniger bereit sein, deutsche Produkte abzunehmen. Die überproportional gestiegenen Energiekosten führen zu einem Verlust der kostenmäßigen Konkurrenzfähigkeit. Die Belastung mit Steuern- und Abgaben bleibt hoch und dürfte weiter steigen. Die bröckelnde Infrastruktur erweist sich immer mehr als Hemmschuh für hier agierende Unternehmen.

Die Bereitschaft zu Reformen, vor allem zu einem Umsteuern der Energiepolitik, fehlt hingegen im Unterschied zu früheren Krisensituationen völlig. Schulterzuckend verkündet der zuständige Wirtschaftsminister, dass ‘wir alle ärmer werden’, um dann, statt etwas dagegen zu unternehmen, die sich daraus zwangsläufig ergebenden Reformerfordernisse zu ignorieren. Praktischerweise hat sich diese Regierung bereits vor dem Ukraine-Krieg von dem Ziel der Mehrung von Wohlstand verabschiedet und stattdessen immerhin 33 Ziele in den Jahreswirtschaftsbericht geschrieben. Dahinter steht die tiefsitzende Wachstumsskepsis der führenden Akteure, die glauben, nur mit weniger Wirtschaftsleistung und sinkendem Konsum sei das Klima zu retten. Wer so denkt, der sieht den Verlust an Industrie und Arbeitsplätzen positiv. So bleibt es bei einer Agenda, die rückwärtsgerichtet Themen bearbeitet, die bestenfalls keine Auswirkung auf die Attraktivität des Standorts haben.

Hinzu kommt eine immer ausgeprägtere Neigung, trotz der offensichtlichen Fehler der Vergangenheit, steuernd in die Wirtschaft einzugreifen. Es genügt der Politik nicht, die Kosten der CO2-Emissionen über Steuern und Emissionshandel zu erhöhen. Sie muss zugleich die Kreditvergabe steuern und auch noch die Technologie vorgeben, mit der die Klimaziele erreicht werden sollen, garniert mit allerlei Subventionen und Verboten. Das kann nur zu unnötigen Kosten und Ineffizienzen führen.

Die Bürger scheinen das alles achselzuckend hinzunehmen. Während die Politik sich immer mehr selbst inszeniert, sei es mit aufwändigen Hochzeiten, Reisen im Privatflugzeug, lustigen Tanzvideos aus dem Bundestag, Helikopterflügen für privilegierte Söhne oder der skrupellosen Aufblähung des Beamtenapparates zur Versorgung der Gefolgsleute, flüchten sich jene, die es noch können, in das Private. Die Sorge um den nächsten Flug in den Urlaub ist drängender als die um den kalten Winter und den gefährdeten Wohlstand. Vermutlich eine Kombination aus gleichgültiger Resignation und der unbegründeten Hoffnung, dass es doch irgendwie gut gehen wird.

Dabei liegt der entscheidende Unterschied zu früheren Krisen in der Demografie. Vor zwanzig, aber auch noch vor zehn Jahren war Deutschland am Höhepunkt der demografischen Entwicklung. Beginnend mit diesem Jahrzehnt beginnt die Generation der Babyboomer in Rente zu gehen und der Fachkräftemangel wird eklatant. Über Zuwanderung lässt sich dieses Problem nicht lösen, vor allem wenn man nicht auf die Qualifikation der Migranten achtet. Erforderlich wären Reformen des Rentensystems mit dem Ziel der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, mehr Anreize zur Arbeitsaufnahme über geringere Steuer- und Abgabenlast und eine Qualifikationsoffensive vor allem mit Blick auf die Zuwanderer und deren Kinder. Dies ist nicht in Sicht, weshalb sich die Verteilungskonflikte in den kommenden Jahren massiv verschärfen werden. Noch mehr Unternehmen dürften vor diesem Hintergrund ihre Produktion ins Ausland verlagern oder wegen Nachfolgeproblemen ganz aufgeben.

Wir erleben eine existenzielle Krise unseres bisherigen Geschäftsmodells, welches uns erheblichen Wohlstand beschert und der Politik die Mittel gegeben hat, mehr oder weniger sinnvolle Projekte zu verfolgen. Früher konnten wir uns sanieren. Diesmal fehlt es an Erkenntnis, Bereitschaft, Kraft und den Voraussetzungen für einen erfolgreichen Neustart. Wenn die Erkenntnis kommt, wird es wohl zu spät sein. Diesmal droht der K.O.“

cicero.de: “Ende der Illusionen”, 10. August 2022