Deutschland braucht eine Agenda 2030

Deutschlands Wohlstand basiert auf drei Säulen: dem Zugang zu günstiger Energie, der Innovationskraft von Wissenschaft und Unternehmen und dem Fleiß der Bürgerinnen und Bürger – so Volkswirt Thomas Mayer vom Flossbach von Storch Research Institute. Folgt man dieser These, so ist offensichtlich, dass es um unseren künftigen Wohlstand nicht gut bestellt ist.

Billige Energie gehört nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine der Vergangenheit an. Seit Beginn der Energiewende ist Strom in Deutschland einer Studie im Auftrag der RWE Power zufolge immer teurer geworden. Schon 2018 zahlten deutsche Unternehmen etwa 25 Prozent mehr je Kilowattstunde als die Unternehmen in allen anderen 27 EU-Ländern und fast dreimal so viel wie in den USA.

Seither hat sich der Kostennachteil nicht zuletzt durch politische Entscheidungen weiter verschärft und führt neuerdings zu Überlegungen, mit Subventionen gegenzuhalten. Denn die Zeiten günstigen Gases – aus Russland oder anderswoher – dürften so bald nicht zurückkehren.

Noch sieht es bei der Innovationskraft vordergründig besser aus. So liegen die deutschen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung laut Innovations-Ländervergleich der Vereinten Nationen (UN) über dem EU-Schnitt. Blickt man genauer hin, muss man allerdings feststellen, dass die verstärkten Anstrengungen der deutschen Automobilindustrie verlorenen Boden bei Elektromobilität und autonomem Fahren gutzumachen, die Ausgaben treiben.

Schaut man dagegen auf den Anteil, den wir bei Hochtechnologie-Unternehmen in der Welt haben, und auf die fehlende Kommerzialisierung vergangener Erfindungen – der Computer wurde in Berlin erfunden, das Musikformat MP3 in Erlangen –, so sind Zweifel angebracht.

Schlechter ausgebildeter Nachwuchs

Mindestens ebenso große Sorge muss die Tatsache machen, dass wir den Nachwuchs immer schlechter ausbilden, was internationale Leistungsvergleiche ebenso zeigen. Außerdem haben laut Berufsbildungsbericht 2023 2,64 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 35 keine Berufsausbildung.

Laut OECD lag die jährliche Arbeitszeit in Deutschland 2018 bei 1363 Stunden. Damit waren wir das Land mit der geringsten Arbeitszeit. In den USA (1786), Italien (1723), Spanien (1701) und selbst in Frankreich (1520) wird pro Jahr deutlich mehr gearbeitet.

Wollten wir den zu erwartenden Rückgang der Erwerbsbevölkerung bis 2040 durch Mehrarbeit auffangen, müsste nach meinen Berechnungen die jährliche Arbeitszeit bis dahin wieder auf das Niveau von 1993 steigen, als laut Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft (iwd) noch 1541 Stunden im Jahr gearbeitet wurden. Die Politik – in diesem Fall die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken – unterstützt derweil Forderungen nach einer Viertagewoche.

Die Grundlagen unseres Wohlstands wanken, während die Herausforderungen immer zahlreicher werden. Nach Jahrzehnten der Friedensdividende werden wir dauerhaft mehr für die Verteidigung ausgeben müssen. Infrastruktur, Digitalisierung, öffentliche Verwaltung, Bildungssystem – ein Sanierungsfall reiht sich an den anderen.

Wir erleben eine existenzielle Krise unseres bisherigen Geschäftsmodells, welches uns erheblichen Wohlstand beschert und der Politik die Mittel gegeben hat, ihre mal mehr, mal weniger sinnvollen Projekte zu verfolgen.

Deutschland braucht eine „Agenda 2030“, ein grundlegendes Sanierungsprogramm, das deutlich weitergehender ist als der Vorgänger „Agenda 2010“. Dabei ist keineswegs sicher, ob wir angesichts der demografischen Entwicklung noch die Kraft haben werden, uns zu sanieren.

Diesmal fehlt es an Erkenntnis, Bereitschaft und den Voraussetzungen für einen erfolgreichen Neustart. Wenn die Erkenntnis kommt, wird es wohl zu spät sein.

→ handelsblatt.com: “Deutschland braucht eine „Agenda 2030“”, 14. Mai 2023