Gefähr­licher Trend­bruch

Die Welt blickt auf China: Blase am Immobilienmarkt, Einbruch bei den Auslandsinvestitionen, schwache Erholung nach der Aufhebung der Coronamaßnahmen, hohe Verschuldung, Deflation und eine Regierung, der man unterstellt, die falschen Prioritäten zu setzen. Die Gefahr, dass China in den kommenden Jahren als Lokomotive der Weltwirtschaft ausfällt, ist sehr real.

Viel besser sieht es hingegen in den USA, der größten Volkswirtschaft der Welt, aus. Getragen von staatlichen Investitionsprogrammen wie dem sogenannten „Inflation Reduction Act“ – den man ehrlicherweise „protektionistisches Subventionsprogramm zur Reindustrialisierung der USA“ nennen sollte –, wächst die Wirtschaft deutlich. Zugleich geht die Inflation stetig zurück, was Hoffnung darauf macht, dass es der US-Notenbank Fed gelingt, die Inflation unter Kontrolle zu bringen, ohne die Wirtschaft in die Rezession zu stürzen. Noch mag Notenbankpräsident Jerome Powell den Sieg über die Inflation nicht erklären, aber die Erwartung bleibt, dass schon im kommenden Jahr die Zinsen wieder sinken werden.

Ein Faktor fällt in diesem Zusammenhang jedoch auf: Die Zinsen für US-Staatsanleihen sind nicht, wie man angesichts der rückläufigen Inflationsrate erwarten durfte, gesunken, sondern weiter gestiegen. Und dies durchaus spürbar. Lag der Zins für die 10-jährige US-Staatsanleihe im April noch bei 3,30 Prozent, erreichte er vorletzte Woche mit 4,36 Prozent den höchsten Stand seit 2007. Die Inflation ist im gleichen Zeitraum von 4,9 auf 3,2 Prozent zurückgegangen.

Über die Ursachen dieser Entwicklung lässt sich spekulieren. Pessimisten könnten sagen, die Entwicklung deute darauf hin, dass die Inflation noch nicht besiegt ist und wir vor einem weiteren Schub stehen. Optimisten könnten argumentieren, dass der höhere Zins für das höhere Wachstumspotenzial der USA stehe – auch ausgelöst durch „Bidenomics“, also die massive staatliche Verschuldung zum Zweck der Industrieansiedlung.

Die Dimensionen sind durchaus beachtlich. So rechnet das überparteiliche Congressional Budget Office vor, dass das Defizit von 5,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2023 auf 6,1 Prozent des BIP in den Jahren 2024 und 2025 ansteigen wird. Für das Jahr 2033 werden gar 6,9 Prozent des BIP erwartet – ein Wert, der seit 1946 nur fünfmal überschritten wurde.

Durchaus möglich also, dass die Zinsen in den USA auch deshalb steigen, weil die Märkte davon ausgehen, dass die staatlichen Finanzen sich auf einem nicht-nachhaltigen Pfad befinden und es nur mit deutlicher Inflation gelingen wird, die Staatsschulden wieder auf ein langfristig tragfähiges Niveau zu bringen. Wer an dieser Stelle auf Japan und die dort deutlich höhere Verschuldung verweist, der sei daran erinnert, dass auch in Japan die Staatsschulden nur deshalb tragbar sind, weil die Zinsen auf einem Rekordtief verharren. Im Unterschied zu Japan weisen die USA jedoch seit Jahrzehnten Handelsdefizite auf und sind entsprechend hoch im Ausland verschuldet.

Was den Zinsanstieg der letzten Monate in den USA besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass die Staatsanleihen damit einen jahrzehntelangen Trend gebrochen haben. Seit dem Zinshoch von knapp 16 Prozent im Jahr 1982 sind die Zinsen kontinuierlich gesunken – bis zu einem Tief von unter 0,5 Prozent zum Höhepunkt der Coronaepidemie. Der Anstieg seither war nicht nur besonders schnell, sondern auch besonders stark. Kapitalmarktexperten erkennen in diesem Ausbruch aus dem jahrzehntelangen Trend eine Trendumkehr. Wir stünden demnach vor einer jahrzehntelangen Phase steigender Zinsen. Und dies – aufgrund der Bedeutung des US-Kapitalmarktes für die Welt – nicht nur in den USA, sondern wohl auch weltweit.

Stimmt diese Einschätzung, stehen uns turbulente Jahre bevor. Die sinkenden Zinsen der letzten Jahrzehnte haben nicht nur die Vermögenspreise getrieben und Geschäftsmodellen wie Private Equity zum Erfolg verholfen, sondern auch die Verschuldung weltweit auf historische Höchstwerte gehievt. Die Rückabwicklung dessen wird nicht leicht, denn sie bedeutet Bankrotte, Schuldenrestrukturierungen, finanzielle Repression durch Beschränkung der Freiheit der Kapitalmärkte und eben Inflation, die durchaus höher ausfallen kann.

→ handelsblatt.com: “Gefährlicher Trendbruch”, 3. September 2023