Deutsch­land braucht mehr früh­kind­liche Bildung – und weniger Diskus­sionen

Ein rohstoffarmes Land wie Deutschland muss auf den Fleiß und die Bildung seiner Bürger setzen, will es wohlhabend sein. Dies gilt erst recht, wenn man zeitgleich auch noch alles dafür tut, den weiteren wichtigen Erfolgsfaktor – die Energie – zu verknappen und zu verteuern.

Studien, wie etwa der INSM-Bildungsmonitor 2023, beziffern den Anteil des Wohlstands eines Landes, der auf der Bildung seiner Bevölkerung basiert, auf bis zu 75 Prozent. Kein anderer Faktor wirkt nachhaltig so positiv auf Wirtschaftswachstum und Pro-Kopf-Einkommen.

Kein anderer Faktor dürfte zudem mit so einer großen Verzögerung wirken. Verbesserungen im Leistungsniveau an Schulen wirken frühestens zehn bis zwanzig Jahre später auf die Produktivität, umgekehrt kann es sehr lange dauern, bis ein Rückgang des Leistungsniveaus sich dämpfend auf Produktivität und Innovationskraft eines Landes auswirkt. Die besser ausgebildeten Jahrgänge können jahrzehntelang den Niedergang eines Bildungssystems kompensieren.

Niedergang des Bildungssystems? Blickt man auf die Anzahl der Abiturienten und das Notenniveau könnte man zu dem Schluss kommen, dass heutige Jahrgänge sehr viel klüger, fleißiger und ambitionierter sind als die Generationen vor ihnen. Jeder Dritte hat heute die allgemeine Hochschulreife oder Fachhochschulreife erreicht, verglichen mit nur 11,5 Prozent im Jahr 1970. Und das mit immer besseren Noten.

Letzteres hat mit den gesenkten Standards im Zuge der Coronapandemie nur bedingt zu tun. Schon 2017 erreichte im Bundesdurchschnitt ein mehr als doppelt so hoher Anteil wie im Jahr 2006 den Abiturdurchschnitt 1,0, wie ein Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zeigt.

Vorschulische Bildung notwendig

Internationale Vergleichstests von Pisa bis Iglu, letztere Untersuchung misst die Leseleistungen der Viertklässler, zeigen hingegen, wie es in Wahrheit um die Leistungsfähigkeit der deutschen Schüler steht. Jedes vierte Kind hat demnach so rudimentäre Lesekompetenzen, dass schon heute ein künftiger Bildungserfolg fast ausgeschlossen ist.

Bei Mathematik sieht es nicht besser aus. Laut MINT Nachwuchsbarometer 2023 gelten 22 Prozent der Schüler im Fach Mathematik als „gefährdet“ und verfügen kaum über das nötige Grundverständnis für Zahlen und Rechenarten.

Eng damit verbunden ist eine fehlende Durchlässigkeit des Systems. Während Kinder aus Haushalten mit hohem Einkommen, in denen beide Elternteile ein Abitur besitzen mit über 80 Prozent Wahrscheinlichkeit ein Gymnasium besuchen, liegt der Wert bei Haushalten mit geringem Einkommen und Eltern ohne Abitur bei rund 20 Prozent.

Dabei macht es keinen Unterschied, ob diese Haushalte einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Eine überproportionale Zuwanderung bildungsferner Schichten sorgt allerdings naturgemäß zu einem absoluten Anstieg von Schülern aus diesem Milieu an deutschen Schulen.

All das ist bekannt. Ebenso bekannt ist, was den größten Effekt hätte: die frühkindliche Bildung. Doch Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder aus Familien mit einem geringen Bildungshintergrund oder armutsgefährdete Kinder besuchen seltener eine Kindertageseinrichtung. Dabei würden gerade sie in besonderem Maße von vorschulischer Bildung profitieren, wie der INSM-Bildungsmonitor zeigt. Statt hier anzusetzen, beschränkt sich die Politik lieber auf die Erhöhung von Transfers, wie zuletzt bei der Kindergrundsicherung.

Seit Jahren reden Politiker aller Parteien von Bildungschancen und Armutsbekämpfung. Besser wäre es, sie würden wirksam handeln.

 

→ handelsblatt.com: „Deutschland braucht mehr frühkindliche Bildung – und weniger Diskussionen“, 10. September 2023