Nach der Europawahl geht es nun um Macht und Einfluss. Allianzen werden geschlossen, Preise für politische Gegenleistungen eingefordert. Obwohl das Parteienbündnis Europäische Volkspartei (EVP) stärkste Fraktion im Europaparlament geblieben ist und mit Sozialdemokraten und Liberalen eine Mehrheit hat, dürfte die Basis nicht breit genug sein, um eine Wiederwahl Ursula von der Leyens (CDU) als Präsidentin der EU-Kommission zu sichern.
Der Fokus der Aufmerksamkeit liegt deshalb auf der Frage, ob diese Mehrheit gemeinsam mit den Grünen verbreitert wird oder mithilfe der Parteien aus dem rechten Spektrum.
Wichtiger dürfte aber die Haltung der Staats- und Regierungschefs zu einer zweiten Amtszeit von der Leyens sein. Damit wächst der Einfluss der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die im Unterschied zu ihren Kollegen in Frankreich und Deutschland gestärkt aus der EU-Wahl hervorgeht. Schon vor der Wahl hat von der Leyen sich um einen guten Kontakt zu Meloni bemüht, um sich deren Unterstützung zu sichern.
Nach der Europawahl: Wie steht Giorgia Meloni zur Finanzpolitik der EU?
Aber welchen Preis fordert die Italienerin für ihre Unterstützung? Allgemein wird erwartet, dass sie auf eine striktere Migrationspolitik drängt. Aus deutscher Sicht viel wichtiger wird jedoch ihre Haltung mit Blick auf die Finanzpolitik der EU sein.
In der Coronakrise lehnte Melonis Vorgänger, Giuseppe Conte, die eigentlich für Krisenfälle geschaffenen Hilfsmittel aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ab und setzte gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron den sogenannten Wiederaufbaufonds durch. Dieser ist nicht nur deutlich umfangreicher, sondern besteht auch zu einem guten Teil aus nicht rückzahlbaren Transfers. Er unterliegt zudem deutlich geringeren Auflagen.
Obwohl Italien 191,5 Milliarden Euro der überwiegend von Deutschland bereitgestellten oder garantierten Mittel erhält, wird das Geld nichts an den strukturell schlechten Wachstumsaussichten und damit den Staatsschuldenproblemen Italiens ändern.
Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben gezeigt, dass es Italien nicht gelingt, durch Sparen oder durch Wachstum die Schuldenlast des Landes zu senken. Für die kommenden Jahre rechnet die italienische Regierung mit anhaltend hohen Defiziten und dies bei ohnehin sehr optimistischen Wachstumsannahmen. In der Realität dürften die Defizite also noch höher ausfallen, wie der IWF kürzlich warnte.
Italiener haben große Vermögen
Dabei ist es mitnichten so, dass der italienische Staat keine Möglichkeiten hätte, sein Schuldenproblem zu lösen. Unglaubliche 1100 Milliarden Euro – mehr als 50 Prozent der Wirtschaftsleistung – sind italienische Steuerzahler der Regierung noch schuldig. Die Verschuldung von privaten Haushalten und Unternehmen ist in Italien eine der geringsten der Euro-Zone und die Privatvermögen liegen deutlich über denen der Deutschen.
Es wäre folglich problemlos möglich, das Staatsschuldenproblem zum Beispiel durch eine Vermögensbesteuerung zu lösen – oder durch eine Anhebung der Erbschaftsteuer, die gegenwärtig weitaus geringer ist als beispielsweise in Deutschland.
„Warum sollten wir das tun, solange die Provinzen bezahlen?“, erklärte mir einmal ein italienischer Topmanager in Anspielung auf die Tributzahlungen aus dem römischen Reich an das antike Rom. Dieselbe Frage wird sich die italienische Politik stellen. Populär wären diese Maßnahmen nicht. Kein Wunder also, dass man lieber auf gemeinsame EU-Schuldentöpfe und Transfers setzt.
Von der Leyen ließ schon in den Monaten vor der Wahl durchblicken, dass sie der Idee von mehr europäischen Schulden und Transfers offen gegenübersteht. Allerdings: Aus deutscher Sicht wäre es ein äußerst hoher Preis, den wir für eine deutsche Kommissionspräsidentin zahlen müssten, die schon in der Vergangenheit bewiesen hat, dass deutsche Interessen für sie nicht immer vorrangig sind.
→ handelsblatt.com: „Preis für Unterstützung von der Leyens darf nicht zu hoch sein“, 16. Juni 2024