Auch „Gier­flation“ läge in der Ver­antwortung der Noten­banken

Für EZB-Präsidentin Christine Lagarde ist die Lage klar. Die meisten Unternehmen hätten den Vorteil genutzt, die höheren Kosten komplett auf die Kunden abzuwälzen, und einige hätten die Preise über den bloßen Kostendruck hinaus erhöht, kritisierte sie kürzlich vor dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europaparlaments.

Die „Gierflation“ ist damit offiziell von der EZB anerkannt, meinen Ökonominnen und Ökonomen wie Isabella Weber, die sich zugutehält, als Erste auf diesen Aspekt hingewiesen zu haben. Unternehmen hätten demnach die Engpässe in den Lieferketten ausgenutzt, um ihre Gewinne überproportional zu erhöhen. Daraus folgt, dass nicht die Notenbank die Inflation bekämpfen solle, sondern die Preissetzung der Unternehmen direkt beeinflusst werden müsse.

Doch sind es wirklich „gierige“ Unternehmen, die für den Preisdruck verantwortlich sind? Daran sind Zweifel angebracht. Wir haben es auch mit einem Buchhaltungs-Phänomen zu tun. Bilanzieren Unternehmen nach dem First-in-First-out-Prinzip, also dass zuerst eingekaufte Vorprodukte auch zuerst verkauft bzw. verwendet werden, können in Zeiten der Inflation die Margen vorübergehend steigen. Gleiches gilt für länger laufende Lieferverträge, bei denen die Preise erst mit Verzug angepasst werden.

Zu erwarten, dass Unternehmen die eigenen Preise, erst nachdem sie die früher günstiger beschafften Vorprodukte verbraucht haben, erhöhen, ist wirklichkeitsfern. Stattdessen erhöhen die Unternehmen die Preise, weil sie den Preisdruck bei den Vorprodukten sehen und den eigenen Preisanstieg nicht zu sprunghaft vollziehen wollen, wie eine Studie der US-Notenbank Fed zeigt.

Würden Unternehmen die Verwirrung steigender Kosten ausnutzen, um ihre Margen zu steigern, dann müsste ein Zusammenhang zwischen Erzeugerpreisen und Aufschlägen bestehen – je stärker die Erzeugerpreise steigen, desto höher wäre dann die Erhöhung der Margen. Doch auch dies geben die Daten nicht her, wie eine weitere Studie von Wirtschaftswissenschaftlern aus den USA zeigt.

Von einer „Gierflation“ kann keine Rede sein

Für Deutschland rechnet das Ifo-Institut vor, dass von einer allgemeinen „Gierflation“ keine Rede sein kann. Lediglich in Land- und Bauwirtschaft – und deutlich weniger im Handel – lasse sich feststellen, dass die Überschüsse der Unternehmen überproportional gestiegen sind. Andere Branchen mussten hingegen stagnierende oder rückläufige Margen hinnehmen. Studien zeigen für Frankreich und Belgien ein ähnliches Ergebnis.

Lässt sich daraus ableiten, dass Landwirte und Handwerker „gierig“ waren? Abgesehen davon, dass es in der Marktwirtschaft üblich ist, einen möglichst hohen Gewinn anzustreben, entspricht der Gewinn hier oftmals dem Einkommen. Wie alle anderen Wirtschaftsteilnehmer auch versuchen Bauern und Handwerker, ihre Realeinkommen angesichts der Inflation zu halten.

Gibt es also eine breit angelegte „Gierflation“? Sicherlich nicht. Gibt es einzelne Unternehmen und Branchen, die die Margen überproportional gesteigert haben? Ganz bestimmt. „Gelegenheit macht Diebe” gilt auch hier.

Ohne die expansive Geldpolitik der EZB, ohne die massiven staatlichen Ausgaben- und Hilfsprogramme im Zuge der Coronapandemie hätte es gar nicht die Bereitschaft und Fähigkeit gegeben, höhere Preise zu bezahlen. „Gierflation“ wäre nur möglich dank einer zu großzügigen Ausstattung der Wirtschaft mit Geld.

Die Notenbanken haben die Geldmengen aus den Augen verloren, wie die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich vor Kurzem kritisierte. Die Folgen waren Inflation und eine verspätete Reaktion darauf. Nun laufen wir Gefahr, dass die Notenbanken den Fehler fortsetzen.

Das Geldmengenwachstum ist deutlich zurückgegangen, was dafür spricht, dass sich die Wirtschaft abschwächt. Dass dies der Fall ist, zeigen die Einkaufsmanager-Indizes in der Euro-Zone überdeutlich. Die EZB ist drauf und dran, die Rezession zu verschärfen, und dürfte schon bald gezwungen sein, die nächste Runde der expansiven Geldpolitik zu starten.

Statt über „Gierflation“ zu philosophieren, sollte die gesamte Geldpolitik der letzten Jahrzehnte auf dem Prüfstand stehen.