Nur mit fremder Leute Geld
Anleihen mit einer Laufzeit von 100 Jahren erfreuen sich neuer Beliebtheit. Gekauft werden sie wohl nur von Spekulanten und Leuten, denen es nicht um die Interessen ihrer Kunden geht.
1891 hielt man ewige Staatsanleihen Englands mit einer Verzinsung von 2,5 Prozent für ein solides Investment, schließlich waren diese voll in Gold konvertierbar. Nur eine Generation später war der Goldstandard Geschichte und Wettläufe um Währungsabwertung die Regel. Was als sicheres Investment galt, führte zu einem Totalverlust der Investoren. Nicht viel besser erging es den Käufern der 1946 gegebenen ewigen Anleihe des englischen Staates. Ebenfalls mit 2,5 Prozent begeben, kollabierte der Kurs im Zuge der Inflation der 1970er-Jahre.
Die Geschichte ist voll von Beispielen der (fast) völligen Vermögensvernichtung beim Kauf von langlaufenden Anleihen. Eine Anleihe ist nichts anderes als das Versprechen, Geld zu bezahlen. Wenn aber die Regierung die Menge und Qualität des Geldes beliebig manipulieren kann, was ist dann der Wert dieses Versprechens? Null – sollte man zumindest angesichts der aktuellen Politik der Notenbanken meinen.
Aber noch scheint niemand diese Frage zu stellen. Wie sonst ist zu erklären, dass Investoren immer tiefere Zinsen auf Staatsanleihen akzeptieren? Und wie sonst erklärt sich die Renaissance einer Anleihengattung, von der man eigentlich annehmen sollte, dass sie niemand kaufen würde: die hundertjährigen Anleihen. Nur wenige Länder und Unternehmen haben bisher solche Anleihen ausgegeben, so Mexiko, die Philippinen und der brasilianische Ölkonzern Petrobras.
Mit Irland und Belgien sind in diesem Jahr erstmals wieder europäische Länder in den Markt eingestiegen und haben im Rahmen einer Privatplatzierung jeweils 100 Millionen Euro mit einer Laufzeit von 100 Jahren aufgenommen. Frankreich begnügt sich noch mit Laufzeiten von 50 Jahren. Auf Italiens 30-jährige Anleihe gab es einen regelrechten Run. Mehr als 25 Milliarden Euro wurden von Investoren angeboten. 2047 wird das Geld dann zurückgezahlt – hoffen die Gläubiger.
Als normaler Investor kann man sich angesichts der fundamentalen Aussichten dieser Länder nur an den Kopf fassen. Wer kauft Anleihen mit einer solch langen Laufzeit zu Minizinsen von Ländern und Staaten, deren Schulden bereits vor Jahren den „point of no return“ überschritten haben?
Der italienische Staat müsste das Defizit vor Zinszahlungen – den sogenannten Primärüberschuss – um rund 2 Prozentpunkte vom BIP verbessern, nur um den Schuldenstand auf dem heutigen Niveau zu stabilisieren. Frankreich bräuchte eine Verbesserung um 2,5 Prozent vom BIP. Beides ist politisch nicht durchsetzbar, und alleine der Versuch dürfte die Wirtschaft derart schwächen, dass die Schuldenquoten weitaus mehr steigen.
In Irland fehlt nicht mehr viel, um eine Stabilisierung der Schuldenquote des Staates zu erzielen. Das ändert jedoch nichts daran, dass das Land gesamthaft überschuldet ist: Die Schulden von Staat, privaten Haushalten und Unternehmen liegen bei rund 400 Prozent des BIP und damit auf japanischem Niveau. Ohne einen Schuldenschnitt wird auch der vermeintliche Musterschüler der Eurorettungspolitik nicht wieder auf die Beine kommen.
Die Financial Times berichtet, die 100-jährigen Anleihen von Irland und Belgien seien auf Initiative des Käufers zustande gekommen. Die Vermutung geht in die Richtung einer europäischen Versicherung. Diese seien, so die weitere Vermutung der Zeitung, aus regulatorischen Gründen an langlaufenden Anleihen interessiert, weil sie mit Anleihen guter Qualität sonst keine ausreichenden Renditen erzielen. Irland zahlt „immerhin“ 2,35 Prozent auf die 100-jährigen – aber immer noch weniger als die USA für 30-jährige Anleihen.
Bei Anleihen, die 100 Jahre laufen, liegt das Versprechen der Rückzahlung in ferner Zukunft. Zu Zeiten „normaler“ Zinsen ist die Rückzahlung auch nicht die entscheidende Komponente; abgezinst auf heute spielen in einem solchen Umfeld die laufenden Erträge die viel größere Rolle. In einem Umfeld von Negativzinsen ist das anders. Der laufende Ertrag und die Rückzahlung des Kapitals sind gleichermaßen wichtig für den Erfolg der Anlage.
Welche Annahmen muss ein Investor also treffen, um davon auszugehen, dass es ein lohnendes Investment ist, sich eine hundertjährige Anleihe ins Depot zu legen? Man muss ernsthaft davon überzeugt sein, dass die wirtschaftliche Eiszeit, in der wir uns befinden, noch einhundert Jahre andauert: schwaches Wachstum, tiefe Zinsen und geringe Inflation. Doch das ist mehr als unwahrscheinlich. Zwar lassen Demografie und Produktivitätszuwächse in der Tat nur geringes Wachstum erwarten. Es ist aber ein politisch undenkbares Szenario. Die Japaner mögen eine Dauerstagnation nun schon fast dreißig Jahre ertragen haben, doch selbst dort sind weitere siebzig Jahre undenkbar. In Europa dürfte es noch viel unwahrscheinlicher sein. Vorher kommt es zu politischer Radikalisierung und Eurozonen-Zerfall. Dann mag der Gläubiger eine andere Währung zurückbekommen, als er gedacht hat, wenn der Schuldner überhaupt in der Lage ist zu bezahlen. Darauf muss man sich als Investor einstellen.
Man kann natürlich auch darauf setzen, dass die Eurozone sich doch zu einer vollständigen Vergemeinschaftung der Schulden durchringt. Damit wäre die Rückzahlung aber nur theoretisch besser gesichert. Es ist ein Märchen der Peripherie-Politiker, alle Probleme seien gelöst, sobald der deutsche Steuerzahler für alles haftet. Es dürfte nicht mal für die Deckung der Kosten der alternden Gesellschaft bei uns, ganz zu schweigen den Kosten der Migration langen. Wenn, dann kauft die Vergemeinschaftung nur ein paar Jahre.
Viel wahrscheinlicher als dauerhafte Deflation oder ein wundersamer Bail-Out gefallener Staaten ist das bewährte Mittel der Inflationierung. Wie immer wieder erläutert, ist die bewusste Geldentwertung zur Bewältigung der Überschuldung das eigentliche Ziel der immer aggressiveren Notenbankpolitik, die bisher den deflationären Druck der Schuldenlast nicht überkompensieren konnte. Auf Dauer dürfte es den Notenbanken jedoch gelingen, das Vertrauen in unser Geldwesen zu zerrütten und damit die Ketchup-Inflation loszutreten.
Der Käufer der 100-jährigen Anleihe muss also davon ausgehen, dass der Schuldner alternativ seine Zahlungen nicht erbringt, in einer anderen Währung als dem Euro zurückzahlt und dass er sich von den 100 Millionen nichts mehr wird kaufen können.
Wer also kauft so etwas? Zunächst könnten es Spekulanten sein, die von einer zumindest temporären Fortsetzung der Eiszeit mit immer tieferen Zinsen ausgehen und darauf setzen, die Anleihe mit Kursgewinn (an die EZB?) weiterzureichen. Oder es sind Investmentmanager, die all dies wissen, die Anleihen aber kaufen, damit sie die formalen Ansprüche ihrer Kunden erfüllen können. Hauptsache die Versicherung selbst hat kein Risiko.
Letzteres ist in diesem Beispiel wohl der Fall. Egal welche Versicherung es ist, alle stehen vor der gleichen Herausforderung sich auf ein Szenario von Eiszeit und Hyperinflation einzustellen, ohne dabei unterzugehen. Die Kunden, also die Besitzer von Lebensversicherungen und anderen zukünftigen Ansprüchen, werden die Zeche zahlen.
→ WiWo.de: Das wertlose Versprechen 100-jähriger Anleihen, 12. Mai 2016