FOCUS-Interview: „Boykottieren wir russisches Öl und Gas, bekommen wir zweistellige Inflationsraten“
FOCUS: Herr Stelter, der Russland-Ukraine-Konflikt hat sich zu einem Krieg ausgeweitet. Was heißt das für die Weltwirtschaft?
Daniel Stelter: Die Lage hat sich deutlich verschlechtert. Wir befinden uns in einem längeren Konflikt und uns gehen auch wichtige Exportgüter aus der Ukraine aus wie Agrarrohstoffe, Halbleiter oder Neongas. Denn die Schwarzmeerhäfen steuert ja keiner mehr an.
FOCUS: Wie beurteilen Sie die Sanktionen gegen Russland?
Stelter: Die Maßnahmen sind stärker, als ich erwartet hatte. Die russischen Guthaben einzufrieren, war ein cleverer Schachzug. Trotzdem ändert sich nicht viel. Russland bleibt autonom und hat immer noch Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport. Im Endeffekt gibt es jetzt zwei Optionen, was passiert: eine schlechte und eine ganz schlechte.
FOCUS: Was wäre die schlechte Variante?
Stelter: Wir bekommen eine Stagflation, also steigende Preise bei stagnierender Wirtschaft. Der Inflationsschub ist jetzt schon sichtbar und wir bekommen ein massives Problem im Nahrungsmittelbereich. Russland und die Ukraine sind für etwa 25 Prozent der Weizenexporte verantwortlich, die Ukraine für rund 90 Prozent der Sonnenblumen. Auch Mais und Gerste kommen in signifikanten Mengen von dort.
FOCUS: Brot wird demnach deutlich teurer.
Stelter: Erinnern Sie sich noch an den Arabischen Frühling, der Ende 2010 begann? Damals wollten nicht alle frei sein, sondern die Aufstände begannen, weil die Brotpreise stark gestiegen sind. Wir müssen aufpassen, dass sich das nicht wiederholt. Denn eines ist doch klar: Ein Bauer in der Ukraine hat derzeit keine Zeit, sein Feld zu bestellen, wenn er gleichzeitig gegen Russland kämpfen muss.
FOCUS: Sie fürchten eine neue Flüchtlingswelle?
Stelter: Ausschließen würde ich es nicht. Der Nahe Osten gehört zu den Hauptimporteurländern. Wenn diese Länder wieder destabilisiert werden, wird die Flüchtlingswelle neu aufgelegt. Vielleicht sollten wir sogar Weizen teuer einkaufen und billiger an diese Länder weiterverkaufen, um dem entgegenzuwirken. China hat das clever gemacht, vielleicht wussten die auch mehr. Die haben Lager aufgebaut und sichern sich Rohstoffe, während wir kaum Reserven haben. Sie sehen: Gas, Kohle, Nahrungsmittel – die Preise werden deutlich steigen. Das bereitet mir Sorgen.
FOCUS: Und wie sieht das ganz schlechte Szenario aus?
Stelter: Wenn die Welt russisches Öl und Gas boykottiert, bekommen wir zweistellige Inflationsraten und unsere Wirtschaft bricht massiv ein. Sanktionen tun immer beiden Seiten weh – es ist letztlich die Frage, wer länger durchhält. Und Deutschland wäre stark betroffen, denn die Abhängigkeit von Russland ist überproportional hoch.
FOCUS: Bei dieser Variante rutschen wir in eine Rezession.
Stelter: mit Sicherheit. Wir haben demnach die Wahl zwischen einer Stagflation und einer stagflationären Rezession – die Wirtschaft schrumpft und zugleich steigt die Inflation. Und dazu besteht noch die Gefahr von Unruhen in Nordafrika.
FOCUS: Kann in dieser Gemengelage die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöhen?
Stelter: Gute Frage, aber nicht leicht zu beantworten. Denn wir sehen einen Anstieg einiger Preise, aber nicht allgemein. Wenn die EZB die Zinsen anhebt, sparen die Bürger mehr, die Nachfrage geht zurück. Das verstärkt die Rezession.
FOCUS: Demnach wäre es falsch, wenn die geldpolitische Bremse gezogen wird.
Stelter: Die Notenbanken haben zuletzt sehr viel Geld in die Märkte gepumpt. Wenn sie jetzt nichts macht, dann bleibt die Inflationsrate zwar länger oben, aber es wird mehr Geld ausgegeben. Dann herrscht der Gedanke vor: Wenn mein Geld morgen weniger wert ist, dann gönne ich mir heute noch etwas. Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes geht hoch, die Inflation bekommt einen neuen Schub.
FOCUS: Wie beurteilen Sie die geopolitische Situation? Bekommen wir mit USA/Europa und China/Russland zwei Lager?
Stelter: Die Nähe von China zu Russland ist offenkundig, bei Indien weiß man die Positionierung noch nicht genau. Aber es besteht eine große Gefahr, wenn mehr Technologie von China nach Russland geht und mehr Rohstoffe nach China. Ich denke, der größte Gewinner einer destabilisierten Welt wird China sein. Das ist tragisch, denn wir hätten alles tun sollen, um Russland und die Ukraine an Europa heranzuführen. Das geht nun nicht mehr.
FOCUS: Wie sollen sich Anleger verhalten? Zwischen Stagflation und einer Rezession mit steigender Inflation habe ich so oder so schlechte Aussichten.
Stelter: Ich glaube, die Kapitalmärkte haben die stagflationäre Rezession noch nicht eingepreist, vielleicht sogar die Risiken einer Stagflation noch nicht richtig. Anleger müssen aufpassen, was passiert, wenn die Rohstoffpreise noch einmal einen großen Schub bekommen.
FOCUS: Wie soll sich der Kleinanleger verhalten?
Stelter: Er soll ruhig bleiben. Wenn er breiter gestreut hat, Augen zu und durch. Es gibt wenige Tage, an denen es an den Börsen massiv steigt oder fällt. Allen Untersuchungen zufolge sind Privatinvestoren schlechter als der Index, weil sie versuchen, schlauer als der Markt zu sein.
FOCUS: Russische Aktien sind spekulativ, hatten sie in unserem letzten Gespräch gesagt. Das hat sich bewahrheitet, aber die Kurse haben sich durch den Krieg sicher schlechter entwickelt als von Ihnen erwartet. Wie beurteilen Sie das heute?
Stelter: Als normaler Investor würde ich hier nicht kaufen, selbst wenn es ginge. Die Family Offices kaufen allerdings auch in Russland. Aus deren Sicht aber nur mit einem ganz kleinen Teil des Vermögens. Sie haben halt sehr viel Zeit, aber auch hier besteht inzwischen das Risiko eines Totalverlusts.