Frankreich steckt in der Schuldenfalle
Die Freude im französischen Finanzministerium dürfte groß gewesen sein, als am 26. April bekannt wurde, dass die Ratingagenturen Fitch und Moody’s keine Herabstufung der Kreditwürdigkeit des Landes vornehmen. Es bleibt abzuwarten, ob die Ratingagentur S&P sich Ende Mai zu einer ähnlich großzügigen Einschätzung durchringt.
Denn alle Indikatoren sprechen dafür, dass die Schuldenentwicklung der zweitgrößten Volkswirtschaft in der Euro-Zone außer Kontrolle zu geraten droht.
Noch 2008 waren Frankreich und Deutschland bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit 69 und 66 Prozent ähnlich hoch verschuldet. Seither läuft die Entwicklung auseinander. Während die Verschuldung Deutschlands relativ zur Wirtschaftsleistung unverändert blieb, stieg sie in Frankreich deutlich auf 112 Prozent, wie der IWF vorrechnet.
Aussicht auf Besserung gibt es kaum. Das Defizit belief sich im vergangenen Jahr auf 5,5 Prozent des BIP. Es dürfte sich als unmöglich erweisen, die vom französischen Rechnungshof auf 50 Milliarden Euro bezifferte Lücke zum Maastrichter Drei-Prozent-Ziel bis 2027 zu schließen.
Wesentliche Ursache für die immer größeren Finanzierungsprobleme des Staates sind, neben der schwachen Konjunktur und entsprechend geringeren Steuereinnahmen, die Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank (EZB). Pierre Moscovici, der Präsident des französischen Rechnungshofs warnt, dass die Zinsausgaben des Staates bis 2027 auf 87 Milliarden Euro steigen könnten, dreimal so viel wie 2021 und mehr, als der Staat für Bildung oder für Verteidigung ausgibt.
Steigen die Zinsen, wächst das Defizit. Mit steigendem Defizit wächst wiederum die Gefahr für Herabstufungen der Bonität, was höhere Zinsen und damit wiederum höhere Defizite zur Folge hat. Ein Teufelskreislauf, der im Falle Frankreichs mehr als nur theoretische Bedeutung hat.
Hätte Frankreich noch den Franc, wäre es schon lange mit der Unabhängigkeit der Notenbank vorbei. Ökonomen sprechen hier von „fiskalischer Dominanz“. Gemäß der Theorie kann sich die Notenbank nur so lange voll auf die Stabilität des Geldwerts konzentrieren, wie die Solvenz des Staates nicht gefährdet ist, weil die Verschuldung nicht zu hoch oder aber das Besteuerungspotenzial noch nicht ausgeschöpft ist.
Letzteres ist immer auch die Frage einer politisch durchsetzbaren Besteuerung. Sobald die Solvenz nicht mehr gesichert ist, steht die Finanzierung des Staates über allem – vor allem über dem Ziel geringer Inflation. Denn Inflation kann einen Beitrag leisten, die staatliche Solvenz durch Entwertung der Schulden und Mehrung der Steuereinnahmen wiederherzustellen.
Nun gibt es den Franc nicht mehr, was es nicht leichter macht. Formal ist die EZB ausschließlich dem Geldwert verpflichtet, andererseits wissen wir spätestens seit Mario Draghis berühmten Worten „Whatever it takes“, dass die EZB auch den Erhalt der Währungsunion und die Wahrung der Solvenz der Mitgliedstaaten als Ziele verfolgt. Letzteres unterstrichen durch das überproportionale Aufkaufen von Anleihen Italiens, wenngleich dies mit anderer offizieller Begründung erfolgt.
Letztlich stellen hochverschuldete Staaten wie Italien und Frankreich die sparsamen Staaten wie die Niederlande und Deutschland vor eine Wahl, meint der französische Ökonom Guillaume Plantin: Entweder sie akzeptieren eine höhere Inflation oder aber sie stimmen zusätzlichen gemeinsamen Schulden auf EU-Ebene und größeren Finanztransfers zu.
Für deutsche Politiker dürfte die Versuchung groß sein, weiterer EU-Verschuldung und versteckter Hilfe für die hochverschuldeten Staaten zuzustimmen, vor allem dann, wenn es gelingt, über den Umweg Brüssel die eigene Schuldenbremse zu umgehen.
Doch dies kauft nur Zeit für wenige Jahre. Spätestens wenn Renten, Pensionen und Gesundheitskosten der rapide alternden Gesellschaften der EU die laufenden Budgets belasten, dürfte es auch für die EZB nur noch darum gehen, die Solvenz der Staaten zu sichern. Der Euro hat mehr mit der Lira gemein als mit der D-Mark.
→ handelsblatt.com: „Frankreich steckt in der Schuldenfalle“, 28. April 2024