Indien ist ein Muss für die deutsche Wirtschaft

Es ist ein Ereignis, wenn die größte Demokratie der Welt ein neues Parlament wählt. Allein die für den Wahlprozess erforderliche Zeit von sechs Wochen macht klar, dass Indien in vielerlei Hinsicht ein besonderes Land ist. Präsident Narendra Modi und seine Bharatiya-Janata-Partei dürfen, getragen von wirtschaftlichem Aufschwung und gestützt auf eine stark auf die hinduistische Bevölkerungsmehrheit ausgerichtete Politik, auf einen Wahlerfolg und eine weitere Amtszeit hoffen: Mit ihnen dürfen Indien und die Welt eine Fortsetzung der positiven Entwicklung wie in den letzten Jahren erwarten.

Schon bald wird das Land, dank einer äußerst dynamischen Bevölkerungsentwicklung, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein. Schon seit dem vergangenen Jahr ist Indien das bevölkerungsreichste Land, mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Menschen im erwerbsfähigen Alter.

Hinzu kommt eine Produktivitätsentwicklung, die nach Berechnungen der Investmentbank Macquarie zwischen 2007 und 2022 durchschnittlich 1,3 Prozent betrug und damit weit höher ist als in anderen Schwellen- und Industrieländern. In Deutschland lag der Wert bei 0,5 Prozent.

Kein Wunder, dass Indien – dem es vor einem halben Jahr als erst vierter Nation gelang, erfolgreich eine Mondlandung durchzuführen – darauf hofft, von Bestrebungen vieler Länder zu profitieren, sich von China unabhängiger zu machen, und endlich auch in der Industrie mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Erste Erfolge, wie die Ansiedlung von Produzenten für Apple-Produkte, gibt es bereits.

Geht es nach der Börse, ist das Urteil bereits gesprochen. In den letzten fünf Jahren hat sich der indische Aktienindex Sensex genauso gut oder sogar besser entwickelt als der amerikanische S&P 500 und damit alle anderen Börsen weit hinter sich gelassen. Dasselbe gilt für die letzten 30, 20 und zehn Jahre.

Dennoch ist es keineswegs sicher, dass Indien den Aufstieg an die Weltspitze tatsächlich schafft. Schon in der Vergangenheit wurden große Erwartungen letztlich enttäuscht. Noch immer sind rund 800 Millionen Inder auf eine staatliche Nahrungsmittelversorgung angewiesen, obwohl Indien sehr erfolgreich die landwirtschaftliche Produktion gesteigert hat und mittlerweile Nahrungsmittel, vor allem Reis, exportiert.

Noch immer ist das Bildungssystem für die breite Masse der Schüler unzureichend. Im Jahr 2009, als Indien zum letzten Mal an der Pisa-Studie teilnahm, belegte es den vorletzten Platz, während gleichzeitig die Spitzenbildung nicht nur eine Mondlandung ermöglicht, sondern auch viele der Start-ups im Silicon Valley mit hellen Köpfen versorgt.

Zwar haben heute mehr als 70 Prozent der Inder Zugang zu einer Toilette, verglichen mit nur 35 Prozent 2011, aber noch immer ist die Umwelt- und Luftverschmutzung ein massives Problem. Obwohl mittlerweile 90 Prozent der Haushalte im Schnitt 20 Stunden am Tag Strom erhalten, ist der Energiemangel noch nicht bewältigt. Die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung lässt selbst Länder wie die USA und China als soziale Paradiese erscheinen.

Reist man durch Indien sieht man die Fortschritte eindrücklich, zugleich erkennt man auch die Größe der Herausforderung, ein Land dieser Dimension zu entwickeln.

Unter geopolitischen Gesichtspunkten ist es für Deutschland und die EU entscheidend, dass Indien die Entwicklung gelingt und dies in Kooperation mit dem Westen geschieht. Aus Sicht hiesiger Unternehmen ist Indien eine große Chance: als Produktionsstandort, als Absatzmarkt und als Quelle qualifizierter Arbeitnehmer. Wer auch in Zukunft erfolgreich sein will, für den gibt es keine Alternative dazu, in Indien aktiv zu werden.

→ handelsblatt.com: „Indien ist ein Muss für die deutsche Wirtschaft“, 21. April 2024