Wokeismus er­schwert den gesell­schaftlichen Diskurs

Ayaan Hirsi Ali ist 1969 in Somalia geboren und hat an der Universität Leiden Politikwissenschaften studiert. 2006 zog sie in die USA, wo sie eine Stiftung zur Stärkung der Frauenrechte gründete. Klingt nicht nach „altem weißen Mann“. Schauen wir mal, was sie in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) geschrieben hat:

Ihre Kernthese: „In Gender-, Rassismus- und Klimafragen dominieren radikale Aktivisten die Debatten. Sie sind nicht an der Lösung der Probleme interessiert, sondern an der Umsetzung einer verheerenden Utopie.“ – bto: … und bei der Klimapolitik sind die Folgen am schlimmsten, wie wir sehen können in Deutschland.

Und nun zur Argumentation:

  • „Wokeismus ist ein umstrittener und oft missbrauchter Begriff. Trotzdem glaube ich, dass er eine nützliche Kurzform ist, um verschiedene Bewegungen zu beschreiben, die sich in mancher Hinsicht ähnlich sind. Ihre grösste Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie die westliche Zivilisation verachten und durch etwas noch Unbekanntes ersetzen wollen.“ – bto: Und das passiert auf allen Ebenen.
  • „Für Klima-Apokalyptiker, Gender-Fanatiker und Vertreter der Critical Race Theory war und ist der Westen ein unterdrückerisches Gebilde, das die Schwachen ausbeutet und darum zerstört werden muss. Die westliche Zivilisation, so sagen sie, beruhe auf Sklaverei und Herrschaft und sei in ihrem Innersten moralisch verrottet. Alle ihre Ideale und Institutionen seien korrupt, unrettbar verdorben durch die Ursünden des Kapitalismus und des Kolonialismus.“ – bto: Das eben auch, weil sie den „Kapitalismus“ nicht verstehen.
  • „Einflüsse auf die woke Ideologie, wie wir sie kennen, sind bei so unterschiedlichen Denkern wie Hegel, Nietzsche, Marx und den Vertretern der Frankfurter Schule zu finden. Obwohl viele dieser Denker selbst nicht als woke bezeichnet werden können – der Begriff stammt aus dem afroamerikanischen Slang –, lieferten sie einige der gedanklichen Strukturen, auf denen die Ideologie später aufbauen konnte. Für Nietzsche zum Beispiel war der Tod Gottes eine Tatsache, während woke Aktivisten ihn eher als ein Ziel betrachten. Und Hegels Idee der Dialektik wurde von Marx wie in dessen Nachfolge von der Woke-Bewegung zu sehr unterschiedlichen Zwecken eingesetzt. Die unmittelbaren Wurzeln der woken Ideologie finden sich in den Arbeiten der französischen Postmoderne, etwa von Michel Foucault und Jacques Derrida. Für diese Denker waren alle grossen Geschichtserzählungen Lügen, einschliesslich der Ideen der westlichen Zivilisation. Sie dienten dazu, die Unterdrückung vieler Menschen, insbesondere von Minderheiten, zu rechtfertigen.“ – bto: Mit dem Klimathema haben sie etwas gefunden, mit dem sie die Bevölkerung mobilisieren können.
  • „Um ihre Ideen in ein politisches Programm zu verwandeln, entwickelten die Woken eine raffinierte Strategie: Sie setzten sich auf nationaler und lokaler Ebene für eine Politik der Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion ein. Darüber hinaus haben die Aktivisten bei multinationalen Konzernen und grossen Privatunternehmen Standards für soziale und ökologische Verantwortung durchgesetzt. Das war schlau. Wer wollte schon etwas dagegen haben, wenn es darum geht, Unternehmen zu verantwortungsvollem Handeln zu zwingen?“ – bto: Niemand sollte etwas dagegen haben.
  • „Der Wokeismus ist ein sehr diffuses Phänomen. Es gibt viele Zweige an seinem Baum, die alle dieselben Wurzeln und dasselbe Endziel haben: eine antiwestliche Utopie. Die Exponenten der unterschiedlichen Interessensphären unterstützen ihre Mitstreiter in den jeweils anderen Bereichen. Wenn zum Beispiel ein Redner sich für den Schutz von Frauenräumen einsetzt und auf dem Universitätscampus von einem Woke-Mob niedergeschrien wird, sind viele in der Menge wahrscheinlich Klima- oder Rassenaktivisten, die ihre woken Gesinnungsgenossen unterstützen wollen.“ – bto: … um so den sehr kleinen Gruppen eine größere Mobilisierungsfähigkeit zuzuschreiben.
  • „Ein anderer wichtiger Grund für den Erfolg des Wokeismus liegt darin, dass er echte Missstände anprangert. Natürlich müssen wir die Klimakatastrophe abwenden. Natürlich sind schwarze Amerikaner immer noch benachteiligt. Natürlich haben Transgender-Menschen die gleiche Würde und die gleichen Rechte wie alle anderen. Natürlich haben die westlichen Gesellschaften viel Unheil über die Welt gebracht. Natürlich kann der Kapitalismus unnötiges Elend verursachen.“ – bto: Ja, das ist so.
  • „Die Woken nehmen sich dieser Missstände auf ihre Weise an und erklären in der Art von Fundamentalisten, dass ihre Lösungsvorschläge den einzig richtigen Weg darstellten. In ihren utopischen Vorstellungen werden die Woken dereinst alle Macht innehaben und die Ressourcen auf der Grundlage ihrer Ideologie zuweisen. Die Woke-Definition von Antirassismus ist die einzig gültige Definition, und ebenso ist es die Woke-Definition von Gleichheit. Es kümmert sie nicht, wenn der Rest von uns denkt, dass ihre Definitionen vielmehr Perversionen dieser Konzepte sind.“ – bto: Das stimmt auch. Das erlebt man auch ständig in den Medien.
  • „Worauf haben es die Woken abgesehen? Auf die Pfeiler der westlichen Gesellschaft, einschliesslich der Religion, der Monogamie, des Nationalstaates, des Kapitalismus und der Kultur. Herkömmliche Religionen sind eine Bedrohung für die neue Religion des Wokeismus. Die monogame, heterosexuelle Ehe stellt eine heteronormative Unterdrückung von Frauen und sexuellen Minderheiten dar. Der moderne Nationalstaat besteht auf der Trennung von Kirche und Staat, während die Woken ihren eigenen Gottesstaat anstreben.“ – bto: Gerne auch als grünen Klimarettungsstaat.
  • „Ausserdem ist der Kapitalismus in ihren Augen ausbeuterisch und rassistisch. Westliche Museen haben Artefakte aus armen Ländern gestohlen. Sie müssen an ihre Herkunftsorte zurückgegeben werden. Sobald alle wichtigen Institutionen der westlichen Zivilisation abgerissen sind, so sagen uns die Woken, könnten wir neu beginnen und eine klimafreundliche, antirassistische, antitransphobische Utopie schaffen, in der alles unwiderruflich gerecht und gut sein wird.“ – bto: Es ist das Gegenteil einer freien Gesellschaft.
  • „Was sich wie eine schöne und erstrebenswerte Utopie anhört, hat in Wahrheit fatale Folgen. In den USA und auch andernorts hat ein extremer Gender-Aktivismus, der auf dem Woke-Prinzip der Auslöschung aller Grenzen basiert, ein Angebot der genderbejahenden Gesundheitsversorgung geschaffen. Das klingt gut, denn wer würde Kindern in Schwierigkeiten nicht helfen wollen? In der Praxis bedeutet es jedoch, dass Minderjährige auf einen Weg der medizinischen Umwandlung gedrängt werden, der sogar Operationen einschliesst, in einigen Fällen ohne das Wissen, geschweige denn die Zustimmung ihrer Eltern.“ – bto: Ich kenne mehrere verzweifelte Eltern, denen dieses Schicksal widerfahren ist.
  • „Gleichzeitig wird erwartet, dass Schutzräume für Frauen, die Generationen von Feministinnen in langen Kämpfen erstritten haben, für biologische Männer geöffnet werden, einschliesslich Sexualstraftätern, die behaupten, sie seien in Wirklichkeit Frauen. Zwei fundamentale Errungenschaften der westlichen Zivilisation – die Rechte von Frauen und Kindern – werden im Namen einer woken Ideologie infrage gestellt.“ – bto: Das sehen wir auch beim Thema Sicherheit im öffentlichen Raum.
  • „Amerika hat schon seit langem ein Rassenproblem. Aber auch hier werden die Woke-Aktivisten das Leben ausgerechnet jener Menschen verwüsten, die sie angeblich unterstützen wollen. Anstatt konkrete Ideen in Betracht zu ziehen, die den Schwarzen nützen, bestehen sie darauf, der Polizei Mittel zu entziehen, was mehr Kriminalität und damit mehr schwarzes Leid bedeutet.“ – bto: Es ist eine massive ideologische Verblendung.
  • „Extreme Klimaaktivisten sprechen manchmal so, als ob sie sich eine Rückkehr zur vorindustriellen Welt wünschen würden. Der Kapitalismus mit seinen Übeln hat die Mutter Erde verwüstet, nun soll er zurückgebaut werden. Anstatt an praktischen Lösungen zu arbeiten und über unsere Probleme zu debattieren, wollen woke Klimaaktivisten, dass wir in einer Welt wie bei der Familie Feuerstein leben. Es kümmert sie nicht, wenn alle Errungenschaften des Kapitalismus zur Bekämpfung der Armut für diesen Traum weggeworfen werden. Kein noch so leidenschaftlicher Umweltschützer kann leugnen, dass wir es der wirtschaftlichen Entwicklung auf der Grundlage der Marktkräfte verdanken, dass Hunderte Millionen von Menschen aus grösster Armut in ein menschenwürdigeres Leben geführt wurden. Den Klimawandel zu benutzen, um eine radikale, antikapitalistische Agenda voranzutreiben, ist nicht nur unehrlich, sondern auch rücksichtslos.“ – bto: Und genau das lassen wir in Deutschland immer mehr zu. Die Wohlstandsverluste sind bereits erheblich.
  • „Woke Aktivisten bemächtigen sich der berechtigten Anliegen jener, die sich intensiv mit diesen Themen befassen und auch vertiefte Kenntnisse davon haben. Sie werden zu den Lautesten im Raum, verdrängen besonnene Forscher und Fachleute, die an Lösungen arbeiten, und werden darum von massgeblichen Politikern eher gehört und sogar ernst genommen. Oft erkennen diese nicht, dass die radikale Ideologie des Wokeismus nicht ernsthaft an Reformen interessiert ist.“ – bto: Genau das ist der Fall bei den Diskussionen im Klimathema: wo von Kipppunkten und steigenden Meeresspiegeln gewarnt wird, ohne echte Datenbasis oder ohne den Hinweis, dass es mehrere hundert Jahre dauert, bis der Meeresspiegel wirklich so steigt.
  • „Eine mögliche Abhilfe besteht darin, dass wir unsere Politiker auffordern, vorsichtiger zu sein, auf wen sie hören. Die Woken sind verkappte Revolutionäre, die lediglich vorgeben, reale Probleme lösen zu wollen. Es gibt indessen viele Reformer, die unsere Probleme ernsthaft und vernünftig angehen wollen. Wir müssen zwischen diesen beiden Gruppen unterscheiden. Letztere müssen wir fördern, anstatt die Ersteren gewähren zu lassen.“ – bto: Das untergräbt aber die Wählerbasis für die Grünen, die letztlich die Partei der Woken sind.
  • „Die Woken (…) verstehen es, den öffentlichen Diskurs so effektiv zu dominieren, dass ihr Einfluss in keinem Verhältnis zu der Zahl der Menschen steht, die ihre Ansichten vertreten. In diesem Sinne beruht ihre Macht teilweise auf einer Täuschung – und trotzdem ist sie sehr stark. Dies zu erkennen, ist vielleicht der erste Schritt, um ihnen die Vorherrschaft zu entreissen.“ – bto: Sie sitzen aber in vielen Medien.
  • „Wir müssen auch verstehen, was gegen Wokeismus nicht funktioniert: Appeasement. Woke Fanatiker lassen sich, wie alle Fanatiker, nicht zur Vernunft bringen. Man kann sie nicht beschwichtigen. (…) Schauen Sie nach Skandinavien, wo die Regierungen einige der härtesten Umweltgesetze, die stärksten Wohlfahrtsstaaten und die besten Gesundheitssysteme der Welt geschaffen haben. Man könnte meinen, dass die Woken all dies respektieren und anerkennen würden, aber das tun sie nicht. Nur die utopische Erneuerung wird sie zufriedenstellen, koste es, was es wolle.“ – bto: „Koste es, was es wolle“ passt zu gut zur Wirtschafts- und Energiepolitik in Deutschland.

nzz.ch: „In Amerika greift die Ideologie des Wokeismus um sich. Wir Europäer erhalten eine Anschauung davon, was uns erst noch bevorsteht“, 18. Juli 2023