Wer rechnen kann, investiert nicht
Für Investitionen ist nicht entscheidend, was heute ist, sondern was morgen sein wird. Was heute beschlossen wird, ist in zwei bis drei Jahren realisiert und muss sich über zehn bis 20 Jahre rechnen. Und aus Sicht eines Unternehmens in Deutschland stellt sich die Lage so dar: Das Wachstum wird in Zukunft nicht in Europa stattfinden, sondern in Asien, Amerika und Afrika. Dort wächst die Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten deutlich weiter. In Deutschland droht dagegen ein erheblicher Fachkräftemangel, und der Binnenkonsum wird das tun, was er in schrumpfenden Gesellschaften nun mal tut: zurückgehen. Eine kurze Blüte und optimistische Frühjahrsgutachten können darüber nicht hinwegtäuschen.
Auch ein Blick in andere Länder lässt keine neuen Impulse erkennen. In der gesamten Eurozone liegt die Sparquote bei 22,5 Prozent des Bruttosozialprodukts, die Investitionsquote hingegen auf einem Tief von 19,2 Prozent (IWF, 2014). Der Ersparnisüberschuss wird ins Ausland geschleust und auch dort wird er nicht immer produktiv verwendet. Das macht Investitionen nicht attraktiv.
Die beste Erklärung für diese Situation könnte die von Nikolai Kondratieff in den 20er-Jahren entwickelte Theorie der Langen Wellen der Konjunktur sein. Kondratieff hatte die Konjunkturentwicklung über Jahrhunderte analysiert und festgestellt, dass es neben den kurzfristigen Schwankungen einen längeren, etwa 50 bis 70 Jahre laufenden Zyklus gibt. Diesen unterteilte er in die vier Phasen: erster Aufschwung (Frühling), breiter Aufschwung (Sommer), erste Krise mit abnehmendem Wachstum (Herbst) und schwere Krise mit länger anhaltender Stagnationsphase (Winter) ‒ bevor es wieder zu einem erneuten Frühling kommt.
In der Tat spricht einiges dafür, dass wir uns in einem Kondratieff-Winter befinden. Die alten Industrien leiden unter geringem Wachstum und verwenden den Cashflow für Akquisitionen und Aktienrückkäufe statt für Investitionen. Die Verschuldung in der westlichen Welt ist auf Rekordniveau, die Nachfrage stagniert.
Die Lösung wäre, mit neuen Industrien und Innovationen einen neuen Wirtschaftsboom zu entfachen. Ansätze für diese zukunftsfähigen Branchen gibt es bereits; man denke nur an das erhebliche Potenzial von Biotech, dem “Internet der Dinge” und alternativen Wegen der Energieerzeugung. Naturgemäß tun sich die alten Unternehmen und Branchen schwer mit dem Wandel. Sie haben Angst vor Fehlinvestitionen. Konsequent gedacht, müssten sie ja ihr bestehendes Geschäft und die darin getätigten Investitionen mit aller Kraft selbst angreifen.
Die neuen Industrien werden wieder zu Wachstum und auch zur Bereinigung der Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft führen. Bis sie einen breiten Multiplikatoreffekt auf die Wirtschaft haben, dauert es aber. Nur wenn wir das Alte kaputtgehen lassen, kann das Neue kommen und Nutzen spenden. Zunächst überwiegen jedoch die Faktoren, die das Alte am Leben erhalten: Niedrigste Zinsen und eine unzureichende Regulierung ermöglichen in vielen Branchen immer noch eine hohe Rentabilität. Also ist die Politik gefordert, den Wandel hin zum Neuen zu befördern ‒ mit einer höheren Besteuerung von Aktienrückkäufen, Dividenden und nicht investierten Mitteln, einer niedrigeren Besteuerung von Investitionen. Nur so lässt sich unser Wohlstand erhalten.
→ BÖRSE ONLINE: Wer rechnen kann, investiert nicht, 28. April 2015