Ist Großbritannien wirklich der Verlierer des Brexit?

Dieser Kommentar erschien im März bei manager magazin online und bto:

Neun Monate nach dem Brexit-Referendum reicht Großbritannien heute die Scheidungspapiere in Brüssel ein. Politiker und Medien überschlagen sich mit negativen Kommentaren und prophezeien den Briten schlechte Zeiten. Gut möglich, dass wir uns in ein paar Jahren wünschten, wir wären ausgetreten.

Selten ist die öffentliche Meinung so einheitlich. Die Briten haben eine große Dummheit begangen und werden den Entscheid zum Brexit jahrzehntelang bedauern. Die EU und die Eurozone hingegen werden vom Brexit nicht sonderlich tangiert und die Politiker in Brüssel stellen sicher, dass andere Länder erkennen, dass es sich nicht lohnt, den gleichen Fehler wie die Briten zu begehen.

Wie immer, wenn alle einer Meinung sind, lohnt es sich hinter die oberflächlichen Fakten zu blicken. Spricht doch einiges dafür, dass die Briten in einigen Jahren relativ zu uns gar nicht so schlecht dastehen.

1. Kein Absturz der Konjunktur

Ginge es nach den Experten, müsste sich die britische Wirtschaft heute in einer tiefen Rezession befinden. Alle namhaften Auguren vom IWF bis zur Bank of England haben vor dramatischen Folgen gewarnt, sollten die Befürworter eines Brexit bei der Volksabstimmung Erfolg haben. Der Immobilienmarkt würde kollabieren, der Konsum einbrechen und die Wirtschaft abstürzen. Nichts davon ist geschehen.
Zwar stimmt es, dass sich die Preise für Wohnungen im obersten Preissegment in London um circa zehn Prozent ermäßigt haben. Dies aber von einem sehr hohen Niveau aus. Ohnehin war eine Korrektur der Londoner Immobilienpreise überfällig. Wenn schon die kurzfristigen Vorhersagen der Experten so falsch waren, weshalb sollte dann die Langfristprognose stimmen?

2. Heilsamer Schock zur Modernisierung der Wirtschaft

Richtig ist, dass das Pfund wie vorhergesagt deutlich eingebrochen ist. Dadurch wurden Exporte gefördert und Importe verteuert. Ein höchst willkommener Effekt, war doch das Handelsdefizit von rund fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ohnehin nicht auf Dauer tragbar. Die Briten haben seit Jahren über ihre Verhältnisse gelebt und sich dabei im Ausland immer mehr verschuldet.

Wie wir am Beispiel der heutigen Krisenländer in der Eurozone gut beobachten können, führt dies früher oder später zu einer Krise. Zwar verfügen die Briten über eine eigene Währung und können deshalb auf Schocks besser reagieren, dennoch war eine Anpassung unvermeidlich. Im Zuge des Brexit stellt die Regierung das bisherige Wirtschaftsmodell in Frage und strebt eine Modernisierung und Re-Industrialisierung an. Tiefere Steuern sollen das Land zudem attraktiv für ausländische Investoren machen. Gut möglich also, dass der Brexit-Schock die Grundlage für einen Aufschwung der britischen Wirtschaft legt.

3. Positive demografische Entwicklung

Großbritannien wird spätestens 2050 mehr Einwohner haben als Deutschland. Die Bevölkerung ist kontinuierlich gewachsen und es sieht so aus, als würde sich an diesem Trend nichts ändern.

Wir hingegen stehen vor einem dramatischen Rückgang der Bevölkerung von heute rund 82 auf dann 75 Millionen. Daran ändert auch die jüngste Zuwanderung der Migranten aus dem Nahen Osten und Afrikas nichts. Besonders die Erwerbsbevölkerung steht in den nächsten zehn Jahren vor einem dramatischen Einbruch. Da Wirtschaftswachstum im Kern von der Entwicklung der Erwerbsbevölkerung und deren Produktivität abhängt, stehen die Chancen Englands also gar nicht so schlecht.

4. Attraktiv für qualifizierte Zuwanderung

Die positive Entwicklung der Bevölkerung hat natürlich auch etwas mit der Zuwanderung der letzten Jahre zu tun, die – paradoxerweise – auch mit zu der Brexit-Stimmung beigetragen hat. Man könnte also davon ausgehen, dass die Briten in Zukunft deutlich restriktiver mit der Zuwanderung umgehen und damit das Wachstumspotential beschränken.
Was in der Diskussion allerdings immer wieder übersehen wird, ist, dass die Befürworter des Brexit keineswegs gegen jede Einwanderung sind. Im Gegenteil, es wurde ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild diskutiert. Verbunden mit dem Vorteil der Sprache bliebe das Land damit nicht nur für qualifizierte Zuwanderer attraktiv, es könnte sogar gerade gegenüber der EU noch attraktiver werden.

Länder, die sich die Migranten aussuchen können, haben weniger Zuwanderung in Sozialsysteme und deutlich mehr Erfolg bei der Integration. Deshalb sind die Lasten der Umverteilung geringer, was wiederum das Wirtschaftswachstum und die Attraktivität für qualifizierte Zuwanderer erhöht.

5. Führende Stellung in Elitenbildung

Dabei hilft auch die Tatsache, dass die Spitzenbildung in Großbritannien durchaus etwas zu bieten hat. Neben den berühmten Privatschulen sind dies vor allem die Universitäten. Im jüngsten Ranking der 100 besten Universitäten der Welt ist Großbritannien immerhin mit acht Universitäten vertreten. Die EU bringt es (ohne Großbritannien) auf 17, davon vier Deutsche. Bezeichnend ist, dass von den 13 EU-Universitäten außerhalb Deutschlands und Großbritanniens neun in Ländern liegen, in denen es auch mit Blick auf die EU gärt – nämlich in Schweden, Finnland, Dänemark und Holland. In den Krisenländern der EU gibt es übrigens keine Universität in den weltweiten TOP 100.

Eine gesteuerte Einwanderung, ein herausragendes Bildungssystem und die geringe Sprachbarriere dürften für Großbritannien in den kommenden Jahren außerhalb der EU zu einem deutlichen Wettbewerbsvorteil werden.

6. Marktwirtschaftliche Tradition

Schon vor dem Votum hat JP Morgan aufgezeigt, dass die EU Großbritannien an Länder bindet, die nicht das gleiche Wirtschaftsprofil und eine unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit haben. Deutschland, Holland, Schweden und Irland fallen in dieselbe Kategorie wie England – Frankreich, Italien, Spanien und Portugal eindeutig nicht. Deshalb sei es für England gut, nicht mehr in diesem Klub dabei zu sein.

Höhere Produktivität und geringere Umverteilung zugunsten der schwächeren Länder würden sich entsprechend positiv für Großbritannien auszahlen. Hinzu kommt eine stark marktwirtschaftliche Tradition, die noch mehr als in Deutschland auf die Kraft der Märkte und persönliche Freiheit setzt als auf staatliche Umverteilung. Auch dies dürfte sich entsprechend positiv auf das langfristige Wachstum auswirken.

7. Unbestrittenes Welt-Finanzzentrum

Mögen Frankfurt und Paris noch so träumen, die City of London bleibt das Weltfinanzzentrum. Die Deutsche Bank scheint dies auch so zu sehen, hat sie sich doch gerade neue Räumlichkeiten in London gesichert. Es ist nicht so einfach, ein Kompetenzzentrum zu verlagern. Zu eng sind die Verbindungen, zu bedeutend das vorhandene Geschäft. Es wird zwar eine Welle von Gründungen von Tochtergesellschaften im Euroraum geben, die Masse der Kompetenz wird bleiben, wo sie ist: in London.

Den Unkenrufen zum Trotz könnte London von der unstrittigen Kompetenz, der eigenen Währung und der Befreiung von Brüsseler Bürokratie sogar profitieren. Erste Stimmen sprechen bereits von einer künftigen Schweiz für die Fluchtgelder aus aller Welt. Gerade aus der Eurozone dürfte die große Flucht noch bevorstehen.

8. Renaissance des Commonwealth

Kritiker der britischen Entscheidung machen sich gerne über jene Brexit-Befürworter lustig, die eine Rückkehr zu den guten alten Zeiten des Commonwealth beschwören. Natürlich wird es nicht dazu kommen. Allerdings ist auch mit Blick auf die Haltung der neuen US-Regierung das Szenario eines großen angelsächsischen Handelsraums nicht so abwegig, mit den USA, Großbritannien, Australien und Neuseeland als Kern. Kanada dürfte sich dem nicht entziehen können. Zugleich dürfte aus Sicht der skandinavischen Staaten ein solcher Bund, der mehr auf marktwirtschaftliche Freiheit setzt, über Zeit eine deutliche Sogwirkung entfalten. Es könnte ein attraktiver Gegenentwurf zu einer EU werden, die auf immer mehr Bürokratie und Umverteilung setzt.

9. Beschleunigter Niedergang der Eurozone

Derweil sieht es für die EU und besonders die Eurozone nicht gerade rosig aus.

Die Eurozone bleibt gefangen in einer Dauerstagnation, bedingt durch zu viele faule Schulden, rückläufige Erwerbsbevölkerung, schwaches Produktivitätswachstum, Reformstau und einer Mentalität, die die Umverteilung von Wohlstand über die Schaffung von Wohlstand stellt.

Kommt es zu einer erneuten Rezession in der Eurozone, ist der politische Zusammenhalt mehr als fraglich. Das Wohlstandsversprechen, welches die EU gegeben hat, wird spätestens seit 2008 nicht mehr erfüllt. Davor hat der Binnenmarkt – und vor allem der vom Euro ausgelöste Verschuldungsboom – zu einer Wohlstandsillusion beigetragen. Sinkender Wohlstand, Unfähigkeit der Regierungen die Grundursachen zu bekämpfen und die als “Flüchtlingskrise” unzureichend beschriebene Migrationskrise machen das Haus EU mit dem Euro darin, immer unwohnlicher.

Die Vorstellungen der Politik, durch eine “sozialere” Gestaltung der EU, den gefühlten Wohlstand und damit die Attraktivität der EU zu erhöhen, wird das Gegenteil bewirken: Es ist die Fortsetzung einer Politik, die Verteilung vor Schaffung von Wohlstand stellt. Gerade für uns Deutsche sind das keine guten Aussichten, weil unsere Handelsüberschüsse fälschlicherweise mit Reichtum gleichgesetzt werden, obwohl alle Studien zeigen, dass in den meisten EU- Ländern das Privatvermögen pro Kopf deutlich über hiesigem Niveau liegt.

In 10 Jahren wünschten wir, wir wären ausgetreten

Großbritannien hat also gute Chancen, in den kommenden Jahrzehnten schneller zu wachsen als die Eurozone und auch Deutschland. Zwar will die EU mit harten Verhandlungen ein Exempel statuieren, doch wäre das für beide Seiten ein Verlust. England ist ein wichtiger Absatzmarkt, den man sicherlich gerade in Deutschland nicht verlieren will. Wie man am Beispiel von Norwegen, Island und der Schweiz sieht, müssen die Exporte von England auch nicht sinken. Diese Länder exportieren so viel in die EU wie EU-Länder, ohne Mitglied zu sein.

Das höhere Wachstum in Großbritannien ist angesichts der aufgezählten Faktoren fast garantiert. Eine wachsende Bevölkerung, gesteuerte Zuwanderung, herausragende Bildungseinrichtungen und das Weltfinanzzentrum sind die Treiber.

Natürlich lassen sich auch mit Blick auf Großbritannien etliche wirtschaftliche Probleme feststellen: einseitige Abhängigkeit vom Finanzsektor, riesiges Handelsdefizit, schlechte Bildung der breiten Schichten ohne Zugang zu den herausragenden Privatschulen und eine Infrastruktur, die erheblichen Nachholbedarf hat.
Im “Brexit-War-Room” des Verhandlungsteams des Europäischen Rates hängt ein Poster. Darauf ist der belgische Comic-Held Titin zu sehen, wie er mit einem Ruderboot im stürmischen Meer treibt, während der Kapitän ein riesiges Feuer entfacht. Titel: “Tintin und der Brexit-Plan.” Die Nachricht ist klar: Die Briten versenken gerade ihr eigenes Schiff.

Dagegen spricht, dass das Land in den vergangenen Jahrhunderten nur wenige grundlegende Fehler gemacht hat. Es könnte gut sein, dass auch der Brexit keiner ist. Im Gegenteil: Vielleicht wäre das treffendere Bild jenes eines europäischen Kreuzfahrtschiffes, mit kaputter Steuerung und zerstrittenem Führungsteam ohne klaren Kurs, von dem sich ein kleines Boot mit guten Seeleuten absetzt. Wir Deutschen aus dem Maschinenraum der MS “EU” schauen traurig hinterher.

Das Brexit-Desaster für die Briten ist nicht so ausgemacht, wie es gerne dargestellt wird. Vor die Wahl gestellt, auf die Problemlösungsfähigkeit der EU oder die Anpassungsfähigkeit der Briten zu setzen, wäre meine Wahl klar.

manager-magazin.de: “Neun Gründe, jetzt auf Großbritannien zu setzen”, 29. März 2017