Ist Großbritannien wirklich der Verlierer des Brexit?
Dieser Kommentar erschien im März bei manager magazin online und bto:
Neun Monate nach dem Brexit-Referendum reicht Großbritannien heute die Scheidungspapiere in Brüssel ein. Politiker und Medien überschlagen sich mit negativen Kommentaren und prophezeien den Briten schlechte Zeiten. Gut möglich, dass wir uns in ein paar Jahren wünschten, wir wären ausgetreten.
Selten ist die öffentliche Meinung so einheitlich. Die Briten haben eine große Dummheit begangen und werden den Entscheid zum Brexit jahrzehntelang bedauern. Die EU und die Eurozone hingegen werden vom Brexit nicht sonderlich tangiert und die Politiker in Brüssel stellen sicher, dass andere Länder erkennen, dass es sich nicht lohnt, den gleichen Fehler wie die Briten zu begehen.
Wie immer, wenn alle einer Meinung sind, lohnt es sich hinter die oberflächlichen Fakten zu blicken. Spricht doch einiges dafür, dass die Briten in einigen Jahren relativ zu uns gar nicht so schlecht dastehen.
1. Kein Absturz der Konjunktur
2. Heilsamer Schock zur Modernisierung der Wirtschaft
Richtig ist, dass das Pfund wie vorhergesagt deutlich eingebrochen ist. Dadurch wurden Exporte gefördert und Importe verteuert. Ein höchst willkommener Effekt, war doch das Handelsdefizit von rund fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ohnehin nicht auf Dauer tragbar. Die Briten haben seit Jahren über ihre Verhältnisse gelebt und sich dabei im Ausland immer mehr verschuldet.
3. Positive demografische Entwicklung
Großbritannien wird spätestens 2050 mehr Einwohner haben als Deutschland. Die Bevölkerung ist kontinuierlich gewachsen und es sieht so aus, als würde sich an diesem Trend nichts ändern.
Wir hingegen stehen vor einem dramatischen Rückgang der Bevölkerung von heute rund 82 auf dann 75 Millionen. Daran ändert auch die jüngste Zuwanderung der Migranten aus dem Nahen Osten und Afrikas nichts. Besonders die Erwerbsbevölkerung steht in den nächsten zehn Jahren vor einem dramatischen Einbruch. Da Wirtschaftswachstum im Kern von der Entwicklung der Erwerbsbevölkerung und deren Produktivität abhängt, stehen die Chancen Englands also gar nicht so schlecht.
4. Attraktiv für qualifizierte Zuwanderung
Länder, die sich die Migranten aussuchen können, haben weniger Zuwanderung in Sozialsysteme und deutlich mehr Erfolg bei der Integration. Deshalb sind die Lasten der Umverteilung geringer, was wiederum das Wirtschaftswachstum und die Attraktivität für qualifizierte Zuwanderer erhöht.
5. Führende Stellung in Elitenbildung
Dabei hilft auch die Tatsache, dass die Spitzenbildung in Großbritannien durchaus etwas zu bieten hat. Neben den berühmten Privatschulen sind dies vor allem die Universitäten. Im jüngsten Ranking der 100 besten Universitäten der Welt ist Großbritannien immerhin mit acht Universitäten vertreten. Die EU bringt es (ohne Großbritannien) auf 17, davon vier Deutsche. Bezeichnend ist, dass von den 13 EU-Universitäten außerhalb Deutschlands und Großbritanniens neun in Ländern liegen, in denen es auch mit Blick auf die EU gärt – nämlich in Schweden, Finnland, Dänemark und Holland. In den Krisenländern der EU gibt es übrigens keine Universität in den weltweiten TOP 100.
6. Marktwirtschaftliche Tradition
Höhere Produktivität und geringere Umverteilung zugunsten der schwächeren Länder würden sich entsprechend positiv für Großbritannien auszahlen. Hinzu kommt eine stark marktwirtschaftliche Tradition, die noch mehr als in Deutschland auf die Kraft der Märkte und persönliche Freiheit setzt als auf staatliche Umverteilung. Auch dies dürfte sich entsprechend positiv auf das langfristige Wachstum auswirken.
7. Unbestrittenes Welt-Finanzzentrum
Mögen Frankfurt und Paris noch so träumen, die City of London bleibt das Weltfinanzzentrum. Die Deutsche Bank scheint dies auch so zu sehen, hat sie sich doch gerade neue Räumlichkeiten in London gesichert. Es ist nicht so einfach, ein Kompetenzzentrum zu verlagern. Zu eng sind die Verbindungen, zu bedeutend das vorhandene Geschäft. Es wird zwar eine Welle von Gründungen von Tochtergesellschaften im Euroraum geben, die Masse der Kompetenz wird bleiben, wo sie ist: in London.
Den Unkenrufen zum Trotz könnte London von der unstrittigen Kompetenz, der eigenen Währung und der Befreiung von Brüsseler Bürokratie sogar profitieren. Erste Stimmen sprechen bereits von einer künftigen Schweiz für die Fluchtgelder aus aller Welt. Gerade aus der Eurozone dürfte die große Flucht noch bevorstehen.
8. Renaissance des Commonwealth
9. Beschleunigter Niedergang der Eurozone
Derweil sieht es für die EU und besonders die Eurozone nicht gerade rosig aus.
Die Eurozone bleibt gefangen in einer Dauerstagnation, bedingt durch zu viele faule Schulden, rückläufige Erwerbsbevölkerung, schwaches Produktivitätswachstum, Reformstau und einer Mentalität, die die Umverteilung von Wohlstand über die Schaffung von Wohlstand stellt.
Die Vorstellungen der Politik, durch eine “sozialere” Gestaltung der EU, den gefühlten Wohlstand und damit die Attraktivität der EU zu erhöhen, wird das Gegenteil bewirken: Es ist die Fortsetzung einer Politik, die Verteilung vor Schaffung von Wohlstand stellt. Gerade für uns Deutsche sind das keine guten Aussichten, weil unsere Handelsüberschüsse fälschlicherweise mit Reichtum gleichgesetzt werden, obwohl alle Studien zeigen, dass in den meisten EU- Ländern das Privatvermögen pro Kopf deutlich über hiesigem Niveau liegt.
In 10 Jahren wünschten wir, wir wären ausgetreten
Großbritannien hat also gute Chancen, in den kommenden Jahrzehnten schneller zu wachsen als die Eurozone und auch Deutschland. Zwar will die EU mit harten Verhandlungen ein Exempel statuieren, doch wäre das für beide Seiten ein Verlust. England ist ein wichtiger Absatzmarkt, den man sicherlich gerade in Deutschland nicht verlieren will. Wie man am Beispiel von Norwegen, Island und der Schweiz sieht, müssen die Exporte von England auch nicht sinken. Diese Länder exportieren so viel in die EU wie EU-Länder, ohne Mitglied zu sein.
Das höhere Wachstum in Großbritannien ist angesichts der aufgezählten Faktoren fast garantiert. Eine wachsende Bevölkerung, gesteuerte Zuwanderung, herausragende Bildungseinrichtungen und das Weltfinanzzentrum sind die Treiber.
Dagegen spricht, dass das Land in den vergangenen Jahrhunderten nur wenige grundlegende Fehler gemacht hat. Es könnte gut sein, dass auch der Brexit keiner ist. Im Gegenteil: Vielleicht wäre das treffendere Bild jenes eines europäischen Kreuzfahrtschiffes, mit kaputter Steuerung und zerstrittenem Führungsteam ohne klaren Kurs, von dem sich ein kleines Boot mit guten Seeleuten absetzt. Wir Deutschen aus dem Maschinenraum der MS “EU” schauen traurig hinterher.
→ manager-magazin.de: “Neun Gründe, jetzt auf Großbritannien zu setzen”, 29. März 2017