Höhere Sozialausgaben garantieren nicht die Demokratie
In dieser Woche beginnen die Wahlen zum Europäischen Parlament. In vielen Staaten dürften radikale rechte, linke oder populistische Parteien zahlreiche Stimmen der Bürgerinnen und Bürger bekommen, darauf deuten aktuelle Umfragen hin. In Deutschland wird es interessant sein, wie die AfD und das neu geformte Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) abschneiden.
Unabhängig vom Wahlergebnis können wir davon ausgehen, dass es eine intensive Diskussion zu den politischen Reaktionen darauf geben wird. Erneut dürfte wohl die Forderung aufkommen, die Staatsausgaben nicht zu kürzen, weil jede Form der Sparpolitik nur den Extremen nütze. Das Dezernat Zukunft rechnet, basierend auf empirischen Studien, vor, dass eine Kürzung des Bundeshaushalts um 19 Milliarden Euro AfD und BSW einen Zuwachs um drei Prozentpunkte bei einer Bundestagswahl bescheren würde.
Es gibt vielfältige weitere Studien, die einen Zusammenhang zwischen staatlicher Sparpolitik und dem Zuwachs an Stimmen für radikale Parteien herstellen. Sei es in der Weimarer Republik, bei der Abstimmung über den Brexit oder nach der Euro-Krise. In Regionen, in denen aufgrund der Einsparungen die Wirtschaft besonders gelitten hat oder die Kürzungen bei den Transfers besonders groß waren, gab es die größten Gewinne für Extremisten.
Europawahl 2024: Wichtige Lehren aus dem Brexit
Ist die Lösung also ganz einfach: Staatsausgaben ausweiten und den Sozialstaat ausbauen, schon ist die Zustimmung zu den Parteien der Mitte gesichert? Zweifel sind angebracht. So zeigt die Studie zum Brexit sehr eindeutig, dass die Kürzung der Sozialleistungen durch die damalige Regierung den Anteil der Pro-Brexit-Stimmen signifikant und entscheidend erhöht hat.
Die Studie verweist aber auch auf das zugrunde liegende Problem einer regional schlechten wirtschaftlichen Entwicklung mit entsprechend negativen Folgen für Einkommen und Beschäftigung. Staatliche Transfers mögen dies bis zur Kürzung kompensiert haben, aber das grundlegende Problem war die schlechte wirtschaftliche Entwicklung.
Hinzu kommt, dass beispielsweise die Anhänger der AfD einer Ausweitung der Sozialtransfers besonders kritisch gegenüberstehen. Gemäß einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) sind die AfD-Anhänger keineswegs die sozial Abgehängten, sondern eher jene, die einen Abstieg fürchten.
Soziale Transfers wie das Bürgergeld unterstützen aus Sicht der AfD-Anhänger die Falschen, eine Ausweitung der Leistungen wäre im Hinblick auf die Verminderung der Stimmen für die AfD so gesehen sogar kontraproduktiv. Andere Themen, vor allem die Migrationspolitik, sind für die Anhänger der Partei ohnehin wichtiger.
Im Kern ist eine in anderen Studien getroffene Feststellung relevant: Zwar führt zunehmender Wohlstand nicht zwangsläufig zu größerer Zufriedenheit – es gibt aber kein Beispiel in der Welt, in dem sinkender Wohlstand zu mehr Zufriedenheit geführt hat. Abnehmende Zufriedenheit schlägt sich in entsprechendem Wahlverhalten nieder.
Folglich muss, wer sich um die Zukunft der Demokratie sorgt, alles daransetzen, den Wohlstand im Land zu erhalten. Gezielte Staatsausgaben in Infrastruktur und Bildung können hier einen Beitrag leisten.
Mindestens ebenso wichtig ist aber eine generelle Verbesserung der Rahmenbedingungen und eine aktive Politik zur Verhinderung einer Deindustrialisierung. Setzt sich Letztere fort, könnten auch höhere Staatsausgaben die Polarisierung und Radikalisierung der Politik nicht aufhalten.
→ handelsblatt.com: „Höhere Sozialausgaben garantieren nicht die Demokratie“, 2. Juni 2024