Die EU muss sich gesund­schrumpfen

Europa, vertreten durch die EU, ist der Nabel der Welt, die zentrale Macht auf der Weltbühne: Diesen Eindruck vermittelte das offizielle Foto der EU-Kommission vom G20-Gipfel vorletzte Woche, welches unter anderem auch im Handelsblatt zu sehen war. Es zeigt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zwischen US-Präsident Joe Biden und Indiens Premierminister Narendra Modi als Vertreter der aufstrebenden Nationen.

Diese unterschwellige Botschaft steht eklatant im Widerspruch zur Realität. Nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine gerät Europa immer mehr ins Hintertreffen. Lag die Wirtschaftsleistung der EU im Jahr 2008 noch vor jener der USA, so ist die amerikanische Wirtschaft heute 50 Prozent größer, rechnet man die aus der EU ausgetretenen Briten hinzu, liegt der Unterschied immer noch bei einem Drittel.

Von den führenden 100 Technologiefirmen der Welt sitzen nur zehn in der EU, 13 in Taiwan und immerhin 44 in den USA. Dies dürfte auch damit zu tun haben, dass die EU nur eine Universität unter den Top 30 hat, ist doch die Fähigkeit, Talente aus aller Welt anzulocken, eine wesentliche Voraussetzung im Wettkampf um die Technologieführerschaft.

Es ist nicht verwunderlich, dass viel Hoffnung darauf lag, der EU mit dem sogenannten Wiederaufbaufonds neuen Schwung zu verleihen. Hunderte Milliarden an Transfers – vor allem aus Deutschland – in Verbindung mit weiteren Hunderten Milliarden an gemeinsamen Schulden sind nach Aussagen von der Leyens das größte Konjunkturpaket in Europa seit dem amerikanischen Marshallplan.

Dieses Geld werde Europa „besser aufstellen“. Die Realität sieht leider anders aus. Italien, das Land, welches am meisten Mittel aus diesem Fonds erhält, tut sich schwer, die Mittel sinnvoll zu verwenden und noch schwerer, die eigentlich versprochenen und überfälligen Strukturreformen durchzuführen.

So mag die Sanierung von Bergdörfern stellenweise den Tourismus beleben. Die grundlegende italienische Wachstumsschwäche wird so aber nicht angegangen und somit auch nicht das Problem der ausufernden Staatsverschuldung. Infolgedessen ist es nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Euro-Krise ins Haus steht.

EU fehlt eine klare Zukunftsstrategie

In den vergangenen 15 Jahren waren es weniger „kluge“ politische Handlungen als vielmehr die inflationäre Politik der Europäischen Zentralbank, die das „Schiff Europa“ über Wasser gehalten haben, wie das Centrum für Europäische Politik in einer Studie feststellt. Es ist schwer vorstellbar, dass dies weitere 15 Jahre gelingt. Als zentrale Herausforderungen identifizieren die Autoren der Studie die veränderte geopolitische Lage mit zunehmendem Protektionismus und Konkurrenz um Rohstoffe, die Energiewende, eine übermäßige Bürokratie, langwierige Entscheidungsprozesse und die Erosion „des Grundkonsenses“ der Mitgliedstaaten.

Konsequenterweise fordern die Autoren von der EU klare Zukunftsstrategien, die eine „planvolle und rationale Bewältigung“ der anstehenden Probleme in Aussicht stellen. Schuldig bleiben sie allerdings die Antwort auf die Frage, wie eine solche Reform realisiert werden könnte. Mit Blick auf die Umfragewerte EU-kritischer Parteien ist zu befürchten, dass jeder Reformversuch an der zunehmenden Polarisierung im Europaparlament und zwischen den Mitgliedstaaten scheitern wird.

Ein möglicher Ansatz wäre, dass die EU sich selbst zurücknimmt. Sich auf wesentliche Themen konzentriert und auf den altbewährten Grundsatz der Subsidiarität besinnt. Nicht alles muss aus Brüssel vorgegeben werden. Also: Weniger EU, aber dafür eine bessere. Es wird höchste Zeit, dass sich die EU der Aufgabe stellt, die derzeitige Struktur und die politischen Prioritäten auf den Prüfstand zu stellen.

→ handelsblatt.com: „Die EU muss sich gesundschrumpfen“, 17. September 2023