Deutschland ist ein morsches Boot

Bundeskanzler Olaf Scholz gibt sich unbeirrt optimistisch. Im Interview mit der „Welt am Sonntag“ bemühte er dafür kürzlich ein Bild: „Deutschland ist kein lädiertes Land. Deutschland ist ein stolzes Segelschiff und für alle Stürme gerüstet.“

Danach wiederholte er seine Hoffnung auf einen Wirtschaftsaufschwung durch Umbau der Wirtschaft in Richtung der Klimaneutralität und erinnerte daran, dass es die enge Verbindung zwischen staatlichem Handeln und privatwirtschaftlichem Engagement gewesen sei, die Deutschland seinen ganz großen industriellen Aufschwung Ende des 19. Jahrhunderts beschert habe.

Hatte die Ausrufung des „nächsten Wirtschaftswunders“ durch den Bundeskanzler bei Ökonomen schon Kopfschütteln ausgelöst, muss man nun konstatieren, dass Olaf Scholz sich hartnäckig weigert, die Realität anzuerkennen und noch dazu ein falsches Bild der Wirtschaftsgeschichte pflegt.

Der Aufschwung Deutschlands im 19. Jahrhundert basierte auf mehreren Faktoren: einer dynamisch wachsenden Bevölkerung, die in der Breite hervorragend ausgebildet wurde, dem Zugang zum günstigen Energieträger Kohle und einem Staat, der Bürgern und Unternehmen große Teile der Einkommen ließ und sich auf Infrastruktur, Bildung und innere und äußere Sicherheit konzentrierte.

Kontrastieren wir das mit der heutigen Lage: Die Erwerbsbevölkerung dürfte bald schrumpfen, das Bildungssystem ist weit davon entfernt, im internationalen Vergleich mitzuhalten. Der Zugang zu günstiger Energie ist schon lange Geschichte und die Hoffnungen auf eine künftig wettbewerbsfähige Energieversorgung – Stichwort „Wasserstoffwirtschaft“ – sind unrealistisch, wie das Fraunhofer-Institut dieser Tage vorgerechnet hat.

Die Abgabenlast ist im internationalen Vergleich hoch und die Gegenleistung des Staates bei Bildung, Digitalisierung und Infrastruktur lässt sich höflich mit unzureichend beschreiben. Galt das Beamtentum vor dem Ersten Weltkrieg als einer der Gründe für den Erfolg Deutschlands, sind der heutige Zustand der öffentlichen Verwaltung und die um sich greifende Bürokratisierung ein eindeutiges Hemmnis.

Alles andere als sturmfest

Das „stolze Segelschiff“ Deutschland ist für Stürme bei Weitem nicht so gerüstet, wie Olaf Scholz glaubt. Um im Bild zu bleiben: Die Takelage ist brüchig, die jungen Crewmitglieder haben nicht gelernt, wie man segelt und der Kapitän will von Problemen nichts hören. Zugleich hat man das Boot überladen: Immer mehr frühere Crewmitglieder genießen ihren wohlverdienten Ruhestand vom Sonnendeck aus. Zu viele Zuwanderer tun sich schwer, das Segeln zu lernen oder gesellen sich gleich zu jenen, die nur mitsegeln. Mit dem Ziel, Vorbild für die Welt zu sein, hatten schon frühere Kapitäne auf Hilfsmotoren verzichtet und Steine geladen, um zu beweisen, dass es mit Wind und Sonne allein geht.

Dieses Segelschiff kreuzt nun in stürmischen Gewässern. Am Horizont sind bereits heftige Unwetter zu sehen: Deglobalisierung, Entkoppelung von China, Protektionismus. Doch statt zu versuchen, diesen Unwettern zu entgehen, hält die Brücke unbeirrt an ihrem Kurs fest. Im unerschütterlichen Vertrauen auf die Unsinkbarkeit ihres Schiffes kritisiert sie moralisierend die politische Führung anderer Länder, unbekümmert davon, dass diese einfach davonsegeln. 

Noch können wir den Schiffbruch verhindern. Voraussetzung ist allerdings, dass die Schiffsführung den Ernst der Lage erkennt.

→ handelsblatt.com: „Deutschland ist ein morsches Boot“, 24. September 2023