Deutsch­land ist kein un­gerechtes Land, sondern ein be­sonders groß­zügiges

Stellen Sie sich vor, Sie treffen sich regelmäßig mit sieben Freunden zum Essen. Einige der Freunde verdienen mehr, andere weniger. Einer verdient als Kurierfahrer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Runde und gilt damit nach der Definition des Paritätischen Gesamtverbandes als „arm.“ Die so gemessene Armutsquote der Tafelrunde liegt bei 14 Prozent.

Eines Tages bringt der Kurierfahrer einen Kollegen mit. Nun sind zwei Arme am Tisch: Die Armutsquote steigt auf unerhörte 25 Prozent.

Was im kleinen Beispiel gilt, gilt erst recht für Deutschland. Der Paritätische Gesamtverband beklagt eine immer größere Armut im Land. Medien, Politiker und Aktivisten greifen die Meldung auf und fordern, „endlich mehr gegen Armut zu tun“, schließlich gäbe es „genügend Reichtum im Land“.

Dabei ist die Situation ähnlich wie im Beispiel der oben beschriebenen Tafelrunde: Wir helfen Millionen Menschen, die vor Krieg und Verfolgung flüchten oder in der Hoffnung auf ein besseres Leben zu uns kommen. Allein seit 2006 sind nach Daten des Statistischen Bundesamts 7,3 Millionen mehr Nichtdeutsche aus dem Ausland zugezogen als abgewandert. Gleichzeitig sind gut 800.000 Deutsche mehr ausgewandert als zugezogen.

Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den Zuwanderern überwiegend um gering Qualifizierte handelt, ist der gemessene Anstieg der Anzahl der Armen von 2,7 Millionen von 2006 bis 2022, den der Paritätische Gesamtverband kürzlich beklagte, in Wahrheit ein großer Erfolg. Denn der größte Teil der Zuwanderer ist demzufolge nicht in der Gruppe der Armen gelandet. Gegenüber 2021 ging die Armutsquote sogar leicht auf 16,8 Prozent zurück.

Menschen mit Migrationshintergrund haben ein deutlich höheres Armutsrisiko

Nicht wenige Zuwanderer, selbst wenn sie von staatlichen Transfers leben, dürften ihre Situation in Deutschland als Verbesserung gegenüber ihren bisherigen Lebensbedingungen werten. Denn die Sozialleistungen hierzulande sind höher als das Pro-Kopf-Einkommen in vielen Herkunftsländern. Hinzu kommen eine gute Gesundheitsversorgung, funktionierende Infrastruktur und Verwaltung sowie Schutz vor Krieg und Verfolgung.

Ohne Zuwanderung hätte es in den vergangenen Jahren keinen Anstieg der Armut in Deutschland gegeben. Der höhere Wert begründet sich allein durch den höheren Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, die ein deutlich höheres Armutsrisiko als jene ohne Migrationshintergrund haben.

Die Bertelsmann Stiftung stellt fest, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Zugewanderte der Mittelschicht angehören, geringer ist, weil Immigranten aus Syrien, dem Irak und Afghanistan länger brauchen, um sich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren.

Zu beobachten ist dieser Effekt auch an der Zahl der Bürgergeldempfänger. Die Zahl der deutschen Empfänger sinkt seit Jahren, während die Anzahl der Empfänger mit Migrationshintergrund steigt.

Pauschaler Vorwurf von sozialer Ungerechtigkeit ist falsch

Diese Analyse trifft auch auf die Kinderarmut zu. Nach Daten der Bundesagentur für Arbeit ist die Zahl der deutschen Bürgergeldempfänger unter 18 Jahren seit 2016 um ein Drittel gesunken, während sich die Anzahl jener mit ausländischem Pass mehr als verdoppelt hat – auf einen Anteil von inzwischen fast 50 Prozent.

Deutschland ist folglich ein großzügiges Land und kein ungerechtes. Ohne Frage gibt es hier und da Verbesserungsbedarf, beispielsweise bei der Unterstützung von Kindern Alleinerziehender. Aber der pauschale Vorwurf von sozialer Ungerechtigkeit ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich.

Wer einer Gesellschaft, die nach Auskunft der Bundesregierung allein im Jahr 2023 in Zusammenhang mit Flucht und Migration 48,2 Milliarden Euro aufgewendet hat, vorwirft, ungerecht zu sein, und zusätzliche Umverteilung fordert, stärkt damit nur die radikalen Kräfte.

Die Antwort muss offensichtlich eine andere sein: deutliche Beschleunigung der Integration der Zuwanderer in den Arbeitsmarkt, Bildungsoffensive, um die 2,5 Millionen Menschen, die über keinen Berufsabschluss verfügen, zu qualifizieren, bessere Kinderbetreuung und spürbarere Anreize zu Erwerbstätigkeit durch Umbau des Sozialsystems. Eine Sisyphos-Arbeit, die der Armut allemal mehr entgegenwirkt als populistische Pauschalierungen.

→ handelsblatt.com: „Deutschland ist kein ungerechtes Land, sondern ein besonders großzügiges“, 07. April 2024