Vor dem griechischen Selbstmord? ‒ Nein. Die Griechen halten die Trümpfe
Anatole Kaletsky wirft einen Blick auf die veränderte Situation in Griechenland angesichts immer neuer Signale, dass es doch zu einem Grexit kommen könnte. Kernaussage: Die Griechen irren sich. Dank der EZB gibt es keine Ansteckungsgefahr mehr. Dank unbegrenzter Feuerkraft kann die EZB jegliche Risiken ausschalten:
- “Am 22. Januar tat die EZB einen entscheidenden Schritt, um die Eurozone vor einem griechischen Zahlungsausfall zu schützen. Mit der Ankündigung eines massiven Anleihenkaufprogramms – relativ zur Grösse des europäischen Bondmarktes viel umfangreicher als die quantitative Lockerung in den USA, Grossbritannien oder Japan – zog EZB-Präsident Mario Draghi die unüberwindbare Brandmauer hoch, die seit langem nötig war, um die Währungsunion vor einem Finanzkollaps im Stil von Lehman Brothers zu schützen.”
- “Kurzfristig ist die EZB durch ihr Anleihenkaufprogramm von einem passiven Beobachter der Eurokrise, gelähmt durch die Vorgaben des Maastrichter Vertrags, zu einem echten Lender of Last Resort geworden. Mit der Macht, die Staatsschulden zu monetisieren, wie dies das Fed, die japanische und auch die britische Notenbank getan haben, kann die EZB die Eurozone vor finanzieller Ansteckungsgefahr schützen.”
- “Dieser Ausgang ist umso tragischer, als die wirtschaftliche Analyse, auf deren Basis Syriza ein Mildern der Austerität forderte, insgesamt richtig war. Statt jedoch einen Kompromiss zu suchen, um das Troika-Programm aufzuweichen und so das Gesicht zu wahren, vergeudete Tsipras sechs Monate für symbolische Kämpfe, etwa um Arbeitsrecht, Privatisierungen und sogar um die Bezeichnung ‚Troika‘.”
- “Das wahrscheinlichste Ergebnis ist, dass Tsipras alles zurücknehmen und vor Ende Juni die Bedingungen der Troika (der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank EZB und des Internationalen Währungsfonds) akzeptieren wird. Falls nicht, wird die EZB aufhören, das griechische Bankensystem zu stützen; der Regierung wird das Geld ausgehen, um die Auslandschulden zu bedienen und, dramatischer, ihren Bürgern Renten und Löhne zu zahlen. Abgeschnitten von jeder äusseren Finanzierung wird Griechenland ein wirtschaftlicher Paria – das Argentinien Europas –, und vermutlich wird der Druck der Öffentlichkeit Syriza von der Macht verdrängen.”
Was völlig fehlt bei dieser Betrachtung ist allerdings, dass die Kosten eines Grexit für die Gläubiger jeden Tag anwachsen. So gesehen haben die Griechen durchaus Erpressungspotenzial.
Viel besser finde ich da die Interpretation von Wolfgang Münchau in der heutigen FT:
- Die Forderungen der Geldgeber sind so drastisch, dass Griechenland innerhalb von sechs Monaten Einsparungen in Höhe von 1,7 Prozent des BIP vornehmen müsste, mit erheblichen Wirkungen für die Wirtschaft. Wäre da ein Grexit wirklich schlimmer? Münchau denkt nein.
- Nach seinen Berechnungen käme dies kumuliert Einsparungen von über zwölf Prozent über vier Jahre gleich und die Schulden des Staates würden über 200 Prozent vom BIP steigen. Ökonomischer und politischer Selbstmord.
- Die Pleite würde dagegen aus drei Gründen bessere Folgen haben. Zwar müsste auch dann Griechenland noch einen kleinen Primärüberschuss (also vor Zinszahlungen) erzielen, aber der Spardruck wäre viel geringer.
- Dabei sollten die Griechen nur gegenüber den öffentlichen Gläubigern die Zahlungen einstellen, um sich den Kapitalmarktzugang zu erhalten.
- Die Risiken für Geldgeber und Investoren würden sinken. Münchau führt es zwar nicht aus, aber denkt wohl an Rückflüsse von Geld aus dem Ausland. Ich erinnere nochmals an den Beitrag zur Kapitalflucht aus Griechenland (oben verlinkt). Dieses Geld könnte ‒ massiv aufgewertet ‒ wieder in Griechenland wirken. Da setzt allerdings politisches Vertrauen voraus, was angesichts der wirtschaftsfeindlichen Agenda der Regierung nicht sicher ist.
- Als dritten Pluspunkt sieht Münchau steigende Exporte, vor allem im Tourismus.
- Sie Risiken sind dagegen nicht so erheblich. Zwar drohen Chaos und Kapitalverkehrsbeschränkungen, aber diese wären nach einem Jahr überwunden.
- Münchau zitiert dabei Winston Churchill: Besser besoffen als scheußlich. Das Erstere wäre nur temporär ‒ wie die Folgen der Pleite.
- Dabei ist diese nicht mal sicher, selbst wenn Griechenland im Juli und August nicht zahlt. Solange die EZB die Banken stützt, kann Griechenland im Euro bleiben.
- Spätestens dann dürften Merkel und Holland einknicken, um wenigstens einen Teil der 160 Milliarden zu retten, die sie Griechenland gegeben haben. Alleine schon, um nicht als die großen Verlierer dazustehen.
Fazit: Griechenland verliert nichts, wenn die Gespräche diese Woche scheitern. Und der Schaden für die Geldgeber wird jeden Tag größer. Noch viele Gelegenheiten, um in Talkshows das Theater zu diskutieren.
→ FINANZ und WIRTSCHAFT: Vor dem griechischen Selbstmord?, 12. JUNI 2015
→ FT (Anmeldung erforderlich): Greece has nothing to lose by saying no to creditors, 14. JUNI 2015