Schon vor zehn Jahren erkenn­bar: Das Desaster des Aka­demi­sierungs­wahns

Am Sonntag (10. September 2023) geht es im bto-Podcast um die Bedeutung des Bildungswesens. Dass dies kein neues Problem ist, unterstreicht dieser Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung aus dem Jahr 2014 – Deutschland im Akademisierungswahn:

  • „Immer mehr Schüler machen Abitur, und das mit immer besseren Noten, wie die Kultusministerkonferenz bei ihrer jährlichen Auswertung herausgefunden hat. Machte vor 40 Jahren noch weniger als ein Zehntel der Schüler die Reifeprüfung, sind es jetzt im Schnitt etwa 40 Prozent. Und es gibt noch einen bundesweiten Trend, den das Land Nordrhein-Westfalen besonders gut widerspiegelt: 2006 gab es dort 421 Mal die Bestnote 1,0. Vier Jahre später waren es 763. 2012 gab es 1200 ‚Einser-Abis‘. Die Zahl der Abiturienten ist um ein Drittel gestiegen, die Durchfallquote sinkt – allerorten.“
  • „‚Natürlich beschwert sich kein Schüler über ein geschenktes Abi‘, sagt Rainer Bölling, Bildungsforscher und Autor einer ‚Kleinen Geschichte des Abiturs‘. Er warnt vor einer Noteninflation. ‚Die Schüler werden nicht schlauer, die Messzahlen ändern sich‘, sagt Bölling.“
  • „Fatal sei auch das Zentralabitur, sagt Hans Peter Klein, Professor für Biologiedidaktik an der Universität Frankfurt. Dabei werden die Prüfungsaufgaben von einer zentralen Behörde vorbereitet. Früher hätten die Lehrer Aufgabenvorschläge an die Schulbehörde geschickt, die dann einen davon auswählte. Aber mit Blick auf Bayern wurde fast überall in Deutschland das Zentralabitur eingeführt: Das sei gerechter und garantiere ein höheres Niveau, hiess es. Aber Standardisierung heisse oft Vereinfachung, meint Klein warnend. Den Beweis hat er in einer 11. Klasse gefunden: Er legte den Schülern Mathe-Aufgaben aus der Analysis vor – eine aus der Zeit vor und eine aus der Zeit nach dem Zentralabitur. Das „Zentralabi“ ‚bestanden‘ alle bis auf 2, im Vergleichstest scheiterten 21 von 22.“
  • „Eine hohe Abiturientenquote verspricht nicht unbedingt eine florierende Volkswirtschaft. Rainer Bölling hat den Zusammenhang zwischen Abitur und Jugendarbeitslosenquote in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Italien untersucht und stellt fest: ‚Je höher die Abiturquote, desto höher die Arbeitslosigkeit. Es ist deprimierend‘, sagt Bölling. ‚Man müsste diesen Akademisierungswahn stoppen.‘ Er fürchtet, dass das Abitur zum neuen Hauptschulabschluss wird – und dass dabei vergessen wird, wie sehr das deutsche duale System in aller Welt bewundert wird. Erst 2013 lobte es der US-Präsident Obama in seiner State-of-the-Union-Rede.“
  • „Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hinken die Mathe-Leistungen bei Studienanfängern oft um ein halbes Schuljahr hinterher, um die Leseleistungen ist es noch schlechter bestellt. Selbst Mathe-Erstsemester besuchen Stützkurse in Mathe, ein Drittel aller Bachelor-Studenten bricht das Studium ab.“

Hoffnung auf Besserung besteht keine. Vielleicht auch egal, zieht es deutsche Studenten ohnehin vor allem in den öffentlichen Dienst. Auch ein Weg in den Sozialismus.

nzz.ch: Deutschland im Akademisierungswahn, 3. November 2014