Die Finanzmärkte sind im ironis­tischen Zeit­alter ange­kommen

Morgen (30. Mai 2021) ist Rahim Taghizadegan der Gründer der privaten Hochschule Scholarium in Wien und Präsident der Free Private Cities Foundation in Zürich zu Gast in meinem Podcast. Er ist der letzte Wiener Vertreter der Wiener Schule der Ökonomik in direkter Tradition und unterrichtete an Universitäten in Österreich, Liechtenstein, Schweiz und Deutschland. Er hat mehr als ein Dutzend Bücher geschrieben, darunter einige Bestseller, zuletzt “Europa auf der Intensivstation” und “Die Nullzinsfalle”.

Zur Einstimmung ein Kommentar von ihm, erschienen in der FINANZ und WIRTSCHAFT:

  • “Nach gewohnten Bewertungsmassstäben scheinen sich US-Aktien, ganz unabhängig von der aktuellen Episode, in einer Blase zu befinden. Doch es wäre ein schwerer Anlegerfehler, die Märkte vorschnell für irrational zu erklären. Wirklich «verrückt» im Sinne einer Ausnahmesituation ist die grenzenlose Ausweitung der Basisgeldmenge. Die damit betriebene Stützung von Anleihen mit realem ­Negativzins führt die klassische Einschätzung ad absurdum, in Staats­anleihen einen konservativen Massstab für die Anlage zu sehen.” – bto: Die Politik hat alle Maßstäbe verschoben, um nicht zu sagen “zerstört”.
  • “Betrachten wir die in Europa beliebteste und verständlichste Anlage als Vergleich: Es ist rational, wenn Investoren in Immobilien diese nicht panisch abstossen, obwohl mittelfristig die Nachfrage aus Gründen der Demografie, des Auflassens von Büros und Läden sowie wegen Solvenzproblemen wohl sinken und das Risiko steuerlicher Belastung steigen wird. Jedes Angebot von Immobilien ist eine Nachfrage nach Bankguthaben, und um die wird es nicht besser bestellt sein. Warum sollte man dann Aktien bei steigendem Kurs-Gewinn-Verhältnis gegen Dollar abstossen? Die magere Entwicklung europäischer Aktien im Vergleich zu amerikanischen ist gewiss kein Hinweis auf mehr Rationalität, sondern wohl eingepreiste Zukunftssorge und Standortzweifel.” – bto: Das stimmt. Wer will schon gerne Geld halten im heutigen Umfeld?
  • “Die europäischen Vorbehalte gegenüber Aktienanlagen und der vermeintliche Anlegerschutz beschleunigen bei expansiver Geldpolitik nur die Ausdünnung mittelständischer Ersparnisse. Die in den Vereinigten Staaten weitere Verbreitung von Fintechs zur Aktienanlage mit gebührenfreien Modellen hat einer wachsenden Schicht von Kleinanlegern eine Alternative zum geldpolitisch obsolet gemachten Sparen im Sparschwein, auf dem Konto oder in Staatsanleihen ermöglicht. Immer mehr Amerikaner schieben ihre Dollarstimuli sofort in Aktienwerte, um der Zentralbank nicht mehr einen Schritt hinterher, sondern voraus zu sein.” – bto: klarer Fall von Vertrauensverlust in Geld. Normalerweise würde ich das als Vorläufer einer offenen Inflation sehen.
  • “Völlig falsch ist, dass die Politik diese Kleinanleger vor ihren eigenen Fehlern schützen müsste. Das Geschäftsmodell von Robinhood u. a. ermuntert zum Trading, das zwar für die meisten ungünstiger als das Halten von Indexfonds, aber dank Geldpolitik wohl nicht ungünstiger als das Halten von Dollarbeträgen ist. Immerhin führt es zu einem aktiven Interesse an Finanzmärkten. Es ist völlig absurd, anzunehmen, dass ein durchschnittlicher Politiker mehr Ahnung oder Gespür für Märkte, mehr ‘Rationalität’ als ein durchschnittlicher Klein-Trader hätte und Letzteren daher schützen müsste oder könnte.” – bto: Es ist sehr unwahrscheinlich! Gerade angesichts unserer Auswahlverfahren für Politiker.
  • “(Die) Motive (der Anleger) sind in Foren dokumentiert. Keine Spur von Täuschung über das Unternehmen, kein Unwissen über Volatilität oder Finanzinstrumente, keine Betrugsabsichten sind erkennbar. Sogar der reichste Mensch der Welt spielte kurz mit bei einem Spiel auf freiwilliger Basis, moralisch sauberer als jede Lotterie, denn der Erwartungswert war eben nicht gewiss negativ. Der Kurseinbruch war (…) Folge des Anlegerschutzes. In diesem Fall waren es die rigiden Vorgaben für Pfändernachschuss bei steigender Volatilität bei verzögertem Clearing.” – bto: Auch das ist gut zu wissen. Dennoch kann man es als ein Symbol dafür nehmen, wie sehr die Märkte aus dem Ruder gelaufen sind.
  • “Schnell verbreiteten sich Verschwörungstheorien: Janet Yellen hatte von Citadel für zwei Vorträge 810 000 $ erhalten. Verschwörungstheorien drücken berechtigtes Misstrauen aus, auch wenn sie letztlich eine fiktive Rationalisierung plausibler Muster sind. Yellens selbstverständliches Abkassieren ist ein Symptom für die ungeheure Schieflage des Finanzsystems, in der Ökonomik als Cantillon-Effekt bekannt.” – bto: In der Tat muss man die Frage aufwerfen, ob derartige Honorare nicht einer Bestechung gleichkommen.
  • “Die Dominanz von Derivaten, Leerverkäufen und kreditgehebeltem Optionshandel ist ein Symptom der geldpolitischen Blähungen, nicht die Ursache. Viele Kleinanleger werden ihren Einsatz in dieser Pokerrunde verlieren. Anstelle von Fundamentalanalyse haben sie gekauft, was andere kauften. Das für ‘irrational’ und ‘ahnungslos’ zu halten, wäre ein Hinweis auf erstaunliche Ahnungslosigkeit über die Natur verzerrter Finanzmärkte.” – bto: weil wir alle in die Spekulation getrieben werden. Es ist die Rationalität der Spekulation. “Die Finanzmärkte sind im ironistischen Zeitalter” angekommen, wie es der Philosoph Hermann Schmitz nannte.

Einschub, weil ich auch nachsehen musste: “Friedrich Schlegel [bestimmte] die romantische Ironie als das Vermögen, sich von jedem Standpunkt zurückzuziehen und deshalb auch jeden einnehmen zu können. Damit eröffnete er das ironistische Zeitalter, das bis heute anhält. Kehrseite der Ironie ist die Angst als Höhenschwindel des Schwebens über den eigenen Möglichkeiten.” (S. 26/27) “Der Mensch des ironistischen Zeitalters [steht] inzwischen ohne vorgezeichnete Bahn vor dem Angebot unzähliger technischer Möglichkeiten, die ihn vereinnahmen, wenn er sich auf sie einlässt. Sie sind untereinander konstellationistisch vernetzt,  für sein Belieben aber isoliert und ausgestreut. Er bringt zur Steuerung durch das ausgestreute Angebot kein Rückgrat, keine Linie mit, da er ironistisch darauf eingestellt ist, sich von allem abwenden und allem zuwenden zu können. Sein Ironismus ist erschlafft zur Passivität der Selbstverstrickung in die Führung durch vernetzte Angebote mit Scheinsouveränität beliebigen Wählens aus ihnen.” (S. 27) → PPL: „Lese-Tipp: Das Phänomen im ironistischen Zeitalter“, 29. Oktober 2013

  • “Wenn der SPDR S&P Retail ETF alternativlos Game­Stop kaufen ‘muss’, weil alle sie kaufen, ist das Ausdruck der höchstmöglichen Finanzrationalität. Wenn junge Menschen in einer Zeit rationalistischer Lustfeindlichkeit, in vollem Bewusstsein der Ironie, grenzenlos geschöpfte Dollar tauschen gegen digitale Sammlerstücke, soll das ‘irrational’ sein? In diesem Fall sind es Erinnerungsmarken an eine Zeit, als Videospielläden und Kinos Freude bereitet haben, und an eine Episode, in der man gemeinsam die ‘Empty Suits’ ärgern konnte, die profitierenden Blender der Finanzmärkte.” – bto: Es ist logisch und zugleich verstörend.

Fazit: Ein spannendes Gespräch erwartet uns morgen!

fuw.ch: „Memes statt Value“, 11. Februar 2021