Zeit für eine Renaissance der Kartellwächter
„Amazon ist ein Monopolist, der seine Macht nutzt, um die Preise zu erhöhen und von Hunderttausenden Onlineverkäufern horrende Gebühren zu verlangen“, schrieb die US-Kartellbehörde Federal Trade Commission (FTC) zur Begründung ihrer Klage gegen den größten Onlinehändler der Welt. Lina Khan, die von US-Präsident Joe Biden berufene FTC-Vorsitzende, hatte bereits während ihres Studiums an der Yale Law School einen aufsehenerregenden Artikel mit dem Titel „Amazon’s Antitrust Paradox“ veröffentlicht.
Ihre Kritik ist ernst zu nehmen. Khan stellt die These auf, dass die Investoren Netzwerkunternehmen wie Amazon und Uber jahrelang trotz geringer Margen oder gar Verlusten hoch bewerten, weil sie davon ausgehen, dass die künftige Monopolstellung entsprechende Überrenditen ermöglicht.
Die FTC sieht im Falle Amazons Verhaltensweisen, die Khans Thesen entsprechen. So behauptet sie, dass Amazon im Laufe der Zeit seine Dienste verschlechtert habe, von Drittanbietern hohe Gebühren verlange und diesen zugleich verbiete, an anderer Stelle günstiger anzubieten. Das schränke den Wettbewerb erheblich ein und benachteilige kleinere Wettbewerber.
Nicht nur Amazon beschränkt auf solche Weise den Wettbewerb. Gleiches kann man auch gegen andere führende Technologiefirmen anführen. Man denke an den Kauf von WhatsApp und Instagram durch Facebook. Eine Transaktion, die die FTC am liebsten rückabwickeln würde – mit einiger Berechtigung.
US-Tech-Konzerne sparen in zehn Jahren mindestens 100 Milliarden Dollar Steuern
Durch ihre zwar legalen, aber dennoch problematischen Steuerstrategien sollen allein die digitalen „Big Five“ und Netflix nach Berechnungen der „Tax Fair Foundation“ in zehn Jahren mindestens 100 Milliarden Dollar Steuern gespart haben – ein Wettbewerbsvorteil gegenüber kleineren Unternehmen.
Gegner eines härteren Auftretens der Wettbewerbsbehörden verweisen auf den größeren Kundennutzen und die hohen Forschungs- und Entwicklungsausgaben dieser Unternehmen. Doch blickt man auf die Geschichte, so stellt man fest, dass harte Auflagen von Wettbewerbsbehörden bis hin zur Zerschlagung von übermäßig mächtigen Unternehmen regelmäßig der Allgemeinheit nützten.
So belegt eine neue Studie der Columbia-Universität, dass nach erfolgreicher Durchsetzung des Kartellrechts die Preise für die Verbraucher sinken, die Beschäftigung, die Qualität der Arbeitsplätze und die Umsätze steigen, während die Margen der Unternehmen nachgeben.
Wettbewerb nutzt auch Kapitalisten
Kapitalisten sind keine Freunde der freien Marktwirtschaft, sondern sie versuchen mit allen Mitteln, Wettbewerb zu beschränken, oder, wie es der Internetmilliardär Peter Thiel sagt: „Wettbewerb ist für Verlierer.“ Das stimmt nur zeitweise.
Dies beweist die erste größere Zerschlagung in der Geschichte der USA: Das Rockefeller-Imperium Standard Oil hatte einen Marktanteil von 90 Prozent und wurde in 34 einzelne Unternehmen aufgeteilt. Nach einem kurzzeitigen Einbruch der Aktien stiegen diese bald so deutlich an, dass ihr kombinierter Kurswert höher war als der von Standard Oil vorher. Rockefeller, der Aktien hinzukaufte, verdiente allein mit dieser Spekulation 200 Millionen Dollar, was heute rund sechs Milliarden entspricht.
Wettbewerb nutzt allen. Er muss wieder konsequent durchgesetzt werden.
→ handelsblatt.com: „Zeit für eine Renaissance der Kartellwächter“, 19. November 2023