Wir erleben den Margin Call für die Weltwirtschaft
Dieser Beitrag wurde aus aktuellem Anlass aufgenommen und gehört zum HOTSPOT CORONOMICS. Bitte beachten Sie auch STELTERS MAILBOX von heute. Dabei geht es um die Frage, ob man sich heute eine Eigentumswohnung kaufen sollte:
→ STELTERS MAILBOX: Eigentumswohnung kaufen?
Doch nun zum Margin Call:
Spätestens heute ist klar, dass wir kein “V” bekommen und das “U” wackelt! Das liegt – wie auf bto immer wieder erklärt – an dem Zustand der Überschuldung des gesamten Systems! Kommt es zu einem Schock, droht der Margin Call. Da stehen wir heute.
Grund genug, nochmals zu erklären, was passiert:
Im Film „Margin Call“ spielt Kevin Spacey den Banker, der seine Händler antreibt, demnächst wertlose Wertpapiere noch schnell zu verkaufen, bevor es die anderen tun. Die Geschichte, auf die der Film anspielt, ist der Anfang der Finanzkrise im Jahr 2008. Treffend lief der Film in Deutschland auch unter dem Titel „Der große Crash“.
Heute stehen wir wieder vor einer solchen Situation: Corona ist der Anlass, um alle Investoren in Richtung „Exit“ zu bewegen. Wenn alle verkaufen wollen, geraten die Assetpreise unter Druck und die, die noch nicht verkauft haben, müssen entweder Eigenkapital nachschießen („Margin Call“) oder verkaufen. Der Absturz ist brutal.
Auslöser für eine solche Kettenreaktion könnten dieses Mal die versiegenden Geldströme sein. Bislang hielt schier unendliche Liquidität die durch Schulden finanzierte Maschine am Laufen. Sich verändernde Geldströme drohen ihr das Schmiermittel zu entziehen.
Mit „Hebel“ nach oben
Ich habe schon oft vom gigantischen Schuldenberg geschrieben. Zur Erinnerung: Die Welt ächzt unter 200 Billionen US-Dollar Schulden, allein seit 2007 ist der Berg um 50 Billionen gewachsen. Ein Großteil dieser Schulden ist nicht zur Finanzierung von produktiven Investitionen verwendet worden, sondern zum Ankauf weiterer Assets.
Das funktioniert so: Nehmen wir an, Sie könnten sich eine Aktie zu 100 Euro kaufen, die eine sichere Dividende von zehn Euro pro Jahr bezahlt. (Ja, in der heutigen Zeit undenkbar, aber dazu kommen wir gleich!) Setzen Sie für den Kauf nur Eigenkapital ein, erzielen Sie eine Rendite von zehn Prozent. Attraktiver wäre es, sich 100 Euro von der Bank zu leihen und gleich zwei Aktien zu kaufen. Gibt die Bank sich mit fünf Prozent Zinsen zufrieden, gehen fünf Euro an die Bank und 15 Euro bleiben bei Ihnen. Macht 15 Prozent Rendite. In der Praxis dürfte die Bank noch großzügiger sein und sich mit nur 20 Prozent Eigenkapital zufriedengeben. Sie können sich also zu Ihren 100 Euro noch 400 Euro von der Bank leihen und fünf Aktien kaufen. Von den 50 Euro Dividende gingen dann 20 Euro an die Bank (fünf Prozent auf 400) und Ihnen blieben 30 Euro! Eine Rendite von dreißig Prozent auf das eingesetzte Eigenkapital.
Nun merken auch andere, was für ein gutes Geschäft das ist und geben sich mit Renditen unter 30 Prozent zufrieden, zahlen also mehr für die Aktie. Steigt der Kurs auf 140 Euro, haben Sie nicht nur einen schönen Kursgewinn erzielt, sondern wieder erheblich mehr Eigenkapital. Ihre zur Beleihung zur Verfügung stehende „Margin“ erhöht sich dadurch auf 300 Euro (100 plus 200 Kursgewinne). Zwar ist die Dividendenrendite von zehn auf nur noch sieben Prozent gefallen. Doch liegt sie damit weiter über dem Zinssatz der Bank. Sie leihen sich weitere 840 Euro und kaufen dazu. Dann haben Sie elf Aktien im Wert von 1540 Euro und Schulden von 1240 Euro. Die Rendite auf Ihr Eigenkapital von 300 Euro sinkt zwar auf 16 Prozent, der Gesamtüberschuss (Dividende minus Zinsen) wächst allerdings von 30 auf 48 Euro. Es lohnt sich, solange mehr Schulden aufzunehmen, wie die Dividendenrendite über dem Zinssatz der Bank liegt. Man spricht vom Hebeleffekt (Leverage).
Das war in den letzten 30 Jahren ein sicheres Geschäft. Die Zinsen sanken von über zehn Prozent auf heute null und die Banken gaben sich mit immer weniger Margin zufrieden. Alle Assetpreise haben davon profitiert: Aktien, Anleihen, Immobilien, Kunst. Die Kreditvergabe der Banken zum Kauf von vorhandenen Assets hat sich in diesem Zeitraum vervielfacht.
Das funktioniert aber nur so lange, wie die Papiere im Wert steigen und der Kreditgeber keinen Nachschuss auf das Eigenkapital („Margin Call“) verlangt. Kann man dann kein Geld nachschießen, muss nämlich verkauft werden. So war die Situation im Film.
Eine solche Situation gab es in den letzten 20 Jahren schon mehrfach. Doch jedes Mal gelang es Notenbanken und Regierungen, einen Kollaps zu verhindern: mit noch tieferen Zinsen, noch geringeren Eigenkapitalanforderungen, mit der Änderung der Rechnungslegung (Banken zeigen keine Verluste mehr) und schließlich dem direkten Aufkauf der Wertpapiere. Spekulanten hatten stets eine Versicherung, weil es immer Käufer gab, die das Rad am Laufen hielten: die Notenbanken der Welt, die nach einer Studie der Deutschen Bank seit Anfang des Jahrtausends 14 Billionen US-Dollar in die Märkte gepumpt haben; die Schwellenländer, die, um die Exporte zu steigern, jahrelang ihre eigene Währung geschwächt und dazu andere Währungen aufgekauft haben und die Öl exportierenden Länder, die ihre Überschüsse verlässlich in die Kapitalmärkte des Westens investierten.
Mit Hebel nach unten
Wir haben heute:
- Unternehmen, die sich hoch verschuldet haben, um so die Gewinne pro Aktie nach oben zu treiben.
- Investoren, die auf der verzweifelten Suche nach Rendite Aktien und Anleihen mit immer mehr Leverage gekauft haben
- Und beide hängen davon ab, dass nichts schief geht.
Und dann “ging es schief”. Wir haben einen massiven externen Schock, der das Kartenhaus der Schulden zum Einsturz bringt. Sehr schnell sind wir an dem Punkt, wo Verkäufe nicht mehr freiwillig, sondern erzwungen erfolgen. Für mich der Hauptgrund für die derzeitigen Turbulenzen.
Natürlich gibt es noch die Notenbanken, die die Welt mit mehr Liquidität versorgen, allen voran die Fed. Im Unterschied zur EZB hat sie noch etwas Munition und vor allem den Handlungsspielraum, mehr zu tun. Helikoptergeld, direkte Käufe von Aktien etc. All dies wird kommen, aber wohl zuerst in den USA, Japan und Großbritannien. Doch so groß deren Aufkaufprogramme auch sind und noch werden, sie dürften nicht reichen, um den Abbau der weltweiten Liquidität zu kompensieren, höchstens, um ihn zu verlangsamen.
Auf dem Weg nach oben wirkt Verschuldung stabilisierend. Dabei haben wir mit immer mehr Krediten die Weltwirtschaft weiter höher gehebelt. Doch obwohl die Zinsen faktisch auf null gefallen sind, liegen die zu erwartenden Erträge von Kapitalanlagen nur noch geringfügig darüber. Kleine Verluste können also die Märkte ins Rutschen bringen. Auf dem Weg nach unten wirken Schulden dann als Brandbeschleuniger. Knallt es irgendwo, haben wir den größten Margin Call der Weltgeschichte. Und genau davor könnten wir stehen.
Selbst wenn Sie als Privatanleger Ihre Investments nie mit Schulden, sondern nur mit Eigenkapital finanziert haben, könnten Sie sich einem breiten Preisverfall aller Assets nicht entziehen. Zeit also, Risiken zu reduzieren. Weniger Schulden und weniger optimistische Annahmen bezüglich der Kapitalrenditen sind angezeigt. Und wenn Kredit für Immobilien, dann sollte die Rate aus dem Mietertrag komfortabel zu bedienen sein und die Kreditsumme auch den konservativst geschätzten Wert des Hauses nicht übersteigen.
Beschrieben habe ich das zum ersten Mal 2015. → wiwo.de: „Margin Call für die Weltwirtschaft”, 10. September 2015