Langfristanleger gewinnen – das weiß doch jeder Depp

Anlässlich meiner Sommerpause bei der WirtschaftsWoche bringe ich an dieser Stelle jeden Montagnachmittag einen der wie ich finde guten Beiträge aus dem ersten Halbjahr 2016. Dieser Beitrag erschien zum ersten Mal am 25. Januar 2016 bei bto:

“Kaufen und liegen lassen” gilt als bewährte Anlagestrategie. Zurecht?

Auf meiner Webpage wie auch bei WiWo.de freue ich mich über jeden Leserkommentar, egal ob er schmeichelt oder kritisiert, so wie von diesem Leser in der vergangenen Woche: „Für mich ist Herr Stelter ein ewiger Pessimist. Jeder seiner Artikel hat einen Hauch von Weltuntergang und Sprüchen wie ‚Wir sind jetzt auf dem Berg‘! Blabla. Die Tatsache, dass die Märkte volatil bleiben werden und der Langfristanleger immer im Vorteil ist, weiß doch mittlerweile auch schon jeder Depp.”

Ein guter Beitrag zur Diskussion, aus dem ich die zwei wichtigsten Stichworte herausgreife, um sie noch einmal zu vertiefen: Volatilität und Langfristigkeit. Weiß wirklich jeder Anleger, dass es auf die lange Sicht ankommt? Und: Wie lange ist lange? Zunächst reine Statistik: Wenn sich dieses Wissen wirklich schon bis zum – ich erlaube mir, den Leser zu zitieren – „letzten Deppen“ herumgesprochen haben sollte, dann würden Anleger im Schnitt doch vor Kosten eine Performance erreichen wie der Aktienmarkt. Dem ist aber erwiesenermaßen nicht so. Im vergeblichen Versuch den Markt „zu schlagen“, erreichen die Investoren das genaue Gegenteil. Sie verkaufen zu spät, wenn der Markt schon korrigiert hat, und sie kaufen zu spät, wenn die Hausse schon einige Monate auf dem Buckel hat. In der Folge verpassen sie die besten Tage an der Börse, die meistens um Trendwenden herum passieren, und sind bei den wirklich schlechten noch dabei. Es sind diese wenigen Tage, die über Erfolg und Niederlage entscheiden. Dies gilt übrigens auch für Investoren, die in den Index investieren. Auch diese erreichen im Schnitt eine schlechtere Performance als der Index, weil sie zu viel handeln. Insofern als erstes Zwischenfazit: Nein, nicht jeder Depp weiß es, denn wenn alle es wüssten, würden nicht alle es anders probieren.

Dass Langfristanleger „immer im Vorteil“ sind, stimmt sicherlich – wenn man richtig langfristig denkt. Bei den meisten Investoren ist es jedoch so, dass sie einen beschränkten Zeithorizont haben – müssen! Noch leben wir nicht ewig. Ich weiß nicht, wie alt der Kommentator ist. Nehmen wir an: Anfang 30. Dann beträgt sein Anlagehorizont rund 35 Jahre, und in der Tat ist die Wahrscheinlichkeit hoch, über diesen Zeitraum im Plus zu liegen – zumindest vor Kosten. Investoren, die vor dem Börsenkrach 1929 gekauft haben, mussten „nur“ rund 25 Jahre warten, bis sie kaufkraftbereinigt ihren Einsatz wieder heraushatten. Aber: Nur die wenigsten werden das durchgehalten haben.

Anlegern, die im Jahr 2000 in den DAX eingestiegen sind, erging es nicht viel besser. Zwar hat der DAX letztes Jahr neue Höchststände erreicht. Doch dazu muss man wissen, dass der DAX, auf den wir üblicherweise schauen, ein sogenannter Performance-Index ist, also eine Reinvestition der Dividenden annimmt. Damit ist dies eine Performance, die ein Privatanleger nicht erreichen kann, alleine schon wegen der Besteuerung der Dividenden. Der DAX-Kursindex hingegen liegt nach Inflation immer noch deutlich unter dem Stand von 2000. Das sind nun immerhin schon sechzehn Jahre.

Um wirklich die Früchte langfristigen Denkens zu ernten, muss nach den bisherigen Verläufen der Anlagehorizont schon sehr, sehr lange sein. Hier lohnt es, sich selbstkritisch zu hinterfragen, wie weit der eigene Blick reichen kann.
Hinzu kommt, dass Analysten und Marketingabteilungen unter „langfristig“ meistens zehn Jahre verstehen, am liebsten aber ab Anfang der 1980er-Jahre beginnen. Verständlicherweise, denn damals setzte der US-Markt nach einem realen Verlust von 62 Prozent seit Mitte der 1960er-Jahre zum größten Bullenmarkt der Geschichte an, und US-Staatsanleihen warfen 15 Prozent Rendite ab. Seither sind die Zinsen aber auf null gesunken und die Bewertungen deutlich gestiegen. Real liegen die Märkte zwar unter den Rekordständen des Jahres 2000, die Bewertungen sind jedoch immer noch weit überdurchschnittlich, was mich zu dem angesprochenen Bild vom Berg führt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir von diesem Niveau ausgehend große Zuwächse erzielen, ist nun mal gering, Verluste weit wahrscheinlicher. Für alle, die nicht einen sehr langen Zeithorizont annehmen (können), bedeutet dies bestenfalls maue Renditen und schlimmsten Falls deutliche Verluste. Vor allem für jene, die für ihr Alter vorsorgen wollen und müssen, ist dies höchst relevant. Denn zu wenig Vorsorge heute kann man in späteren Jahren unmöglich wieder korrigieren. Wer das schreibt, ist kein Pessimist, sondern ein Realist.

Was zur Volatilität führt. Natürlich sind Kapitalmärkte volatil, sogar deutlich volatiler, als es in den letzten Jahren der Fall war. Die massiven Interventionen der Notenbanken haben die Finanzmärkte betäubt und in eine Richtung getrieben. Dabei vergessen wir gerne, dass die Finanzmärkte nicht die eigentliche Zielgruppe für die Notenbanken sind, sondern die Belebung der Realwirtschaft und die Überwindung der Überschuldungs- und der Eurokrise. Beides gelingt den Notenbanken jedoch nicht. Je mehr dies deutlich wird – und die vergangenen Wochen deuten diesen Erkenntnisprozess an – desto größer die Wahrscheinlichkeit von starken Einbrüchen. Weil man viele kleine Brände gelöscht hat, droht nun ein ganz großer. Auch dieser ist nicht nur Risiko, sondern auch Chance, gar keine Frage. Nur muss man sie auch noch nutzen können, indem man über entsprechende Liquidität verfügt. Wer bei einem Großbrand an den Kapitalmärkten ungerührt dabei bleibt, wird auf lange Sicht ebenfalls sein Vermögen erhalten. Läuft aber Gefahr, dass diese lange Sicht die eigene Lebenserwartung deutlich übersteigt.

Dieses Dilemma können wir nur auflösen durch eine selbstkritische Analyse unseres eigenen Anlagehorizonts. Wirkliche Langfristanleger lesen keine Börsenmeldungen und schon gar keine Kolumnen wie diese. Sie kümmern sich nicht um Tipps, sondern befolgen eine wirklich langfristige, konsequente Strategie, die auf einfachen Regeln basiert: je 25 Prozent Immobilien, Aktien, Gold und Liquidität, jeweils einmal jährlich balanciert. Dies zu schreiben, ist langweilig und stellt auch den Kolumnisten vor eine schwere Aufgabe: die aktuellen Entwicklungen zu kommentieren, ohne in operative Hektik zu verfallen und den Märkten hinterher zu laufen.

Natürlich könnte ich hier Tipps geben und den Eindruck erwecken, besser als andere zu wissen, was an den Börsen passiert. Dabei könnte ich sogar darauf verweisen, dass jene, die – basierend auf meiner Einschätzung, dass die Fed die Baisse eingeläutet hat – am 17. Dezember alles verkauft haben, heute bestens dastehen. Doch auch hier war das Timing Glück. Denn Märkte können länger falsch liegen, als man Geld hat, gegen sie zu wetten.

Womit wir bei der aktuellen Lage wären: schlechtester Start in ein neues Jahr seit Menschengedenken, alarmierende „Verkauft alles“-Empfehlungen von Banken und um sich greifende Unsicherheit. So skeptisch ich mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Bewertung an den Kapitalmärkten auch bin, so wage ich dennoch folgende optimistischen Prognosen:

  • Wir stehen vor einer deutlichen Erholung an den Märkten, egal was dafür als Auslöser herhalten muss.
  • Öl dürfte sich einige Zeit im Preis steigern.
  • Der Euro dürfte sich besser halten, als gedacht.
  • Gold und Goldminen könnten vor einem guten Jahr stehen.

Beeinflusst das meine Anlagestrategie? Ja, aber nur ein bisschen. Im Kern bleibe ich bei meiner Grundallokation. Das hier dient der taktischen Abrundung.

→ WiWo.de: „Langfristanleger gewinnen – das weiß doch jeder Depp“, 21. Januar 2016