Das Pro­blem ist er­kannt, aber noch lange nicht ge­bannt

Bei der Vorstellung seiner „Industriestrategie“ hat Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die Lage der deutschen Wirtschaft durchaus treffend zusammengefasst: drohende Deindustrialisierung, unzureichende Leistungsfähigkeit des Bildungssystems, verfallene Infrastruktur, überbordende Bürokratie. Ähnlich deutlich äußerte sich Sahra Wagenknecht bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Vereins BSW (Bündnis Sahra Wagenknecht) zur Gründung einer neuen Partei.

Es dürfte sich kaum ein führender Politiker finden, der sich nicht so oder ähnlich äußert. Was zu der Frage führt, warum es uns trotzdem nicht gelingt, die Probleme entschlossen anzugehen. Warum raufen sich die Parteien nicht zusammen, um in einer konzertierten Aktion die Voraussetzungen zu schaffen, damit wir auch künftig noch ein wohlhabendes Land sind?
Um ein Erkenntnisproblem scheint es sich vordergründig nicht zu handeln. Allerdings reicht die Erkenntnis der einzelnen Politiker unterschiedlich weit. Je nach politischer Präferenz werden die verschiedenen Aspekte der Problematik unterschiedlich gewichtet und ernst genommen. In der Folge fällt es schwer, sich auf Prioritäten zu einigen, und es passiert viel zu wenig.

Zusätzlich erschwert wird die Situation dadurch, dass zu einer vollständigen Problemanalyse gehört, eigene Fehler in der Vergangenheit einzuräumen. Zu nennen sind Fehlentscheidungen wie das Timing von Atom- und Kohleausstieg und politische Versprechen, die sich als haltlos erwiesen wie „Wir schaffen das!“. Es ist die Krux unserer heutigen Lage, dass es weder hilft, gegenseitige Schuldzuweisungen zu machen noch frühere Fehler abzustreiten.

Sobald die Politik ins Handeln kommt, steht sie vor einem weiteren Problem. Die Aufgaben sind so komplex, dass sie sich nicht auf die übliche, von der Politik präferierte Weise lösen lassen. Komplexe Systeme lassen sich nicht von oben herab steuern. Man kann versuchen, durch Rahmensetzung eine Entwicklung anzustoßen, muss aber daran scheitern, eine Transformation bis ins kleinste Detail zu regeln.

Doch gerade der Anspruch, alles im Detail zu regeln, scheint für viele deutsche Politiker Lebenszweck zu sein. Können sie nicht handeln und eingreifen, sehen sie den eigenen Existenzanspruch gefährdet. Das muss zwangsläufig zu Überforderung führen.

Deutsche Politik will nicht von anderen lernen

Die deutsche Bürokratie ist dabei keineswegs hilfreich. Wie der britische Historiker Cyril Northcote Parkinson vor fast 70 Jahren in einem seiner „Gesetze“ postulierte, sorgt die Bürokratie aus Eigeninteresse für ein überproportionales Wachstum der Bürokratie. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir dringend brauchen, und für die Politik selbst beim besten Willen wohl ein unlösbares Problem.

Was mich zur letzten Vermutung meiner unvollständigen Liste an Ursachen für die Umsetzungsprobleme in unserem Land führt: die Weigerung, von anderen zu lernen. Die einzelnen Bundesländer digitalisieren vor sich hin, ohne systematisch die besten Lösungen der anderen zu übernehmen.

Die Bundesministerien entwickeln Lösungen von Grund auf neu, die es im Ausland teilweise schon seit Jahrzehnten gibt und die man einkaufen könnte, Beispiel digitale Patientenakte. Das alles nach dem Motto: Deutschland ist anders, wir brauchen unsere eigene Lösung. Die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Lösung aus dem Ausland funktional ausreichend, womöglich sogar höherwertiger und geeigneter sein könnte, kommt offenbar nicht infrage. Dabei würden wir doppelt davon profitieren, diese zu übernehmen: Wir kämen schneller voran und hätten den größeren Nutzen.

Verschiedentlich gezogene Vergleiche mit der Lage vor 20 Jahren, die zur Agenda 2010 führten, unterschätzen die Größe der Herausforderung. Stand damals die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und ein Zurückdrehen des Sozialstaats im Fokus, geht es diesmal um alle Politikfelder gleichzeitig. Eine Agenda 2030 wäre das wohl umfassendste Sanierungsprogramm für Deutschland seit den preußischen Reformen vor 200 Jahren. Diese folgten damals dem Zusammenbruch Preußens 1806/1807 nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt. Hoffen wir, dass es heute nicht ähnlich dramatischer Ereignisse – wie dem Verlust wichtiger Schlüsselindustrien – bedarf, damit die Politik handelt.

→ handelsblatt.com: „Das Problem ist erkannt, aber noch lange nicht gebannt, 29. Oktober 2023